Читать книгу: «Literarische Dimensionen der Menschenwürde», страница 16

Шрифт:

V.2.2. Das naturalistische Postulat der WillensunfreiheitWille, freier Wille und seine Problematisierung in Gerhart HauptmannsHauptmann, Gerhart Vor Sonnenaufgang (1889)

Gerhart HauptmannsHauptmann, Gerhart „soziales Drama“ Vor Sonnenaufgang war 1889 der erste große Erfolg der naturalistischen Strömung auf der Bühne. Mit den Texten von HolzHolz, Arno und SchlafSchlaf, Johannes teilt Hauptmanns Drama einige Grundannahmen über den Menschen, es verzichtet jedoch nicht auf eigene Akzente. Auch Hauptmann schildert die äußerliche Würde als eine gesellschaftlich konstruierte und thematisiert die entwürdigendeEntwürdigung Macht des Milieus, die sich in WillensunfreiheitWille, freier Wille und Autonomieverlust äußert. Die Figur Loth vertritt ein deterministisches Weltbild und problematisiert zugleich die allzu konsequente Auslegung ebendieses naturalistischen Postulats, indem sie die DeterminationDetermination überwindet. Aus der außerfiktionalen Perspektive jedoch dient die Figur der Irritation: Durch ihr eigentlich konsequentes Handeln richtet sie erheblichen menschlichen Schaden an, kann also nicht zur Identifikationsfigur oder gar zum HeldenHeld werden.

V.2.2.1. Würde als soziales Konstrukt

Vor Sonnenaufgang stellt weniger die Proletarisierung einer Familie als vielmehr die Folgen plötzlichen Reichtums in den Fokus. Entsprechend versuchen die Figuren nicht, zwanghaft an kontingenten Formen der Würde festzuhalten, sondern stellen – mit bisweilen satirischem Effekt – protzend ihre wirtschaftliche Prosperität zur Schau. So ist es überaus komisch, wenn der rücksichtslose Kapitalist Hoffmann klagt, dass „ein Mann in meiner Stellung auf Schritt und Tritt beobachtet wird“ (CA 1, 21), und gleichzeitig das Abendessen mit dem eben eingetroffenen Gast und Freund Loth zu einem feudalen Empfang macht. Der Tisch ist „mit Delikatessen überladen[]“, es wird edler Champagner serviert (CA 1, 28). Während Loth die Trinkgewohnheiten seiner Gastgeber mit Sarkasmus kommentiert, dient Frau Krause gerade der Konsum von Alkohol, auch von teuren Lebensmitteln, der eigenen sozialen Aufwertung: „Bei a Adlijen wird doch auch aso viel getrunk’n“ (CA 1, 33). Grotesk wird diese forcierte Manifestation sozialer Würde nicht nur durch das exzessive, offensichtlich krankhafte Ausmaß des Konsums, sondern auch durch die Ridikulisierung der Figuren in den Personenbeschreibungen der Regieanweisungen. So wird Kahl als „dumm-pfiffig[er]“, „plumper Bauernbursch“ bezeichnet, „dem man es ansieht, daß er soweit möglich gern den feinen, noch mehr aber den reichen Mann herausstecken möchte“ (CA 1, 29); Frau Krause, die „furchtbar aufgedonnert“ und teuer gekleidet erscheint, strahlt „Hoffart, Dummstolz, unsinnige Eitelkeit“ aus und macht schließlich einen „undefinierbaren Knicks“ (CA 1, 29). Ihr Bemühen, sich vom „Battelvulke“ (CA 1, 30) abzusetzen, wird so als hohle Pose entlarvt. Der lächerlich wirkende Versuch, den eigenen sozialen Status über Äußerlichkeiten zu inszenieren – ein Motiv, das auch in anderen Dramen HauptmannsHauptmann, Gerhart begegnet –, enthüllt jene Würde, die sich durch genau diese Kontingenzen definiert, als soziales, äußerliches Konstrukt. Dies lenkt den Blick umso stärker zum einen auf die Menschen an sich, zum anderen auf die sozialen Prozesse, die die Lebensverhältnisse schnell und bedrohlich radikal verändern, und betont gleichzeitig den Einfluss solcher sozial konstruierter Rollen.

V.2.2.2. Alkoholismus, Degeneration und WürdelosigkeitWürdelosigkeit

„Der Alkohol degenerirt nicht nur die Nachkommen, er verwandelt den Menschen in eine viehische Kreatur, voll Trägheit und brutaler Gesinnung“ – so eine zeitgenössische Einlassung zur Alkoholfrage.1 Übermäßiger Alkoholkonsum gilt als vererbbar, den Menschen erniedrigend, seine Willenskraft lähmend und als Motor von GewaltGewalt – Motive, auf die auch HauptmannsHauptmann, Gerhart Drama rekurriert.

Das Motiv des zum TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung degradierten Menschen ist im Text auf vielsagende Weise ambivalent. Zunächst greift es Loth auf. Als beim Abendessen über die Jagd gesprochen wird, die Loth als „Unfug“ ablehnt (CA 1, 31), behauptet er: „Muhammedaner oder Christ, Bestie bleibt Bestie“ (CA 1, 32). Der Mensch ist eine „Bestie“, ein gefährliches Tier, nicht nur in einem neutral-wissenschaftlichen Sinn als vorläufiger Endpunkt einer Evolution, sondern mit einer eindeutig abwertenden Konnotation. Das Jagen dient Loth als Beleg für die rohe, tierische Natur des Menschen. Implizit ist dies eine moralische Verurteilung; der Mensch wird zum Unmenschen. Bezeichnenderweise ist der Alkoholgenuss das nächste Gesprächsthema.

Der Vergleich mit dem TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung dient auch dem Kreis der Familie Krause, der selbst ein massives Alkoholproblem hat, als Möglichkeit der (moralischen) Abgrenzung gegen die sozial und ökonomisch benachteiligten Bergleute. Frau Krause kommentiert Loths Vortrag über die Gefahren des Alkohols mit den Worten: „[…] inse Bargleute saufen woahrhaftig zu viel“, und Kahl ergänzt: „Die saufen wie d’ Schweine“ (CA 1, 35). Dass Kahl – Helenes Verlobter, Liebhaber Frau Krauses und als höchst depravierte Figur gezeichnet – gegenüber Tieren eine besonders abscheuliche Grausamkeit zeigt – er tötet alles, wie Helene bemerkt, „Zahmes und Wildes“ (CA 1, 31; vgl. 44–45) – ist vor diesem Hintergrund sinnfällig: Die neureiche Familie definiert und legitimiert sich in Abgrenzung zu den vermeintlich würdelosenWürdelosigkeit Arbeitern und zum Tier. Diese offensichtliche Ironie wird durch die kurze Erzählung Loths gesteigert: Ohne zu wissen, dass es sich um den alten Krause handelt, berichtet er von einem „steinreiche[n] Bauer[n]“, den er im Wirtshaus beim Trinken beobachtete: „Das reine Tier ist er natürlich. Diese furchtbar öden, versoffenen Augen, mit denen er mich anstierte“ (CA 1, 37). Wieder macht Loth nicht bloß eine nüchterne Feststellung. Die Degradierung zum Tier, die nicht nur Folge des Alkoholismus ist, sondern auch durch den Sprechakt geschieht, ist als moralische Kritik intendiert.

Zu Beginn des zweiten Akts wird die Animalisierung mit dem Auftritt des betrunkenen Bauern Krause auch auf genuin dramatische Weise inszeniert. Die Szene, die durch ausladende, präzise Regieanweisungen Aussehen, Spiel und Gestik der Figur vorschreibt, zeigt einen Mann, der aufgrund exzessiven Alkoholkonsums offenbar auf eine vormenschliche Entwicklungsstufe zurückgefallen ist. Krauses Artikulationsfähigkeit ist stark eingeschränkt; betrunken grölt er nur schwer verständliche Satzfetzen, daneben „[]murmelt und []murrt“ er „einiges Unverständliche“ (CA 1, 39). Wie ein primatenähnliches Wesen, das den aufrechten Gang noch nicht recht gewohnt ist, richtet er sich auf, „versucht gerade zu gehen“ (CA 1, 39), greift seinen Geldbeutel „mit einiger Mühe und unter Zuhilfenahme beider Hände“ (CA 1, 39–40). Sein Äußeres mutet wild an, sein Haar ist „ungekämmt und struppig“, seine Kleidung „schmutzig“; wie ein neugieriges TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung spielt er mit dem Geldbeutel. Als er sich an Helene vergehen will, fällt der Schlüsselbegriff: „[M]it der Plumpheit eines Gorillas“ fasst er sie an. Helene ist entsetzt und schreit: „Tier, Schwein!“ (CA 1, 40).2

Die Gleichsetzung des Menschen mit dem TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung hat demnach verschiedene Facetten: Zum einen ist sie die Basis des naturalistischen Menschenbildes, das Loth geradezu programmatisch vertritt. Wie in Papa Hamlet erscheint WürdelosigkeitWürdelosigkeit als Folge von DeterminationDetermination durch soziale Faktoren, in diesem Falle durch den Alkoholismus der neureichen Familie und der verarmten Bergleute. Auf einer zweiten Ebene zielt der Mensch-Tier-Diskurs auf moralische Selbstbestätigung (Familie Krause, durchaus ironisch!) bzw. moralische Kritik (Loth). Loths moralisches Urteil beruht dabei auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen; er vertritt gleichsam eine naturalistisch fundierte Ethik. Diese Kritik ist nicht nur als innerfiktionale Figurenrede, sondern auch als Autorposition zu bewerten.3 Der Alkoholismus fördert nicht nur die ohnehin wissenschaftlich belegte tierische Natur des Menschen zu Tage, sondern wirft den Menschen auf der evolutionären Leiter zurück. Aus dieser Einsicht heraus vertritt Loth ein normatives Verhaltensideal, den rigorosen Antialkoholismus, den er der durch Alkohol drohenden EntwürdigungEntwürdigung entgegensetzt. Er weist im Dialog nicht nur durch statistisches Material die determinierende Macht des Alkohols nach, sondern postuliert auch dessen Vererbbarkeit: „Die Wirkung des Alkohols, das ist das Schlimmste, äußert sich sozusagen bis ins dritte und vierte Glied“ (CA 1, 35). Loths Menschenbild ist zwar wissenschaftlich fundiert, geht aber darüber hinaus, indem es eine Vision enthält, die dem Programm des Naturalismus vollkommen entspricht: Er will ‚den Menschen gesund machen‘.4 Vor diesem Horizont ist sein späteres Verhalten zu bewerten.

V.2.2.3. Helenes SuizidSuizid: kein autonomerAutonomie Akt der Würde

Dass sich Helene am Ende des Dramas ausgerechnet mit einem „Hirschfänger“ (CA 1, 97) das Leben nimmt, ihr Tod also mit dem semantischen Feld ‚TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung‘ assoziiert wird, indiziert, dass ihr SuizidSuizid als Folge einer DeterminationDetermination durch das Milieu zu deuten ist und nicht etwa als autonomerAutonomie Akt der FreiheitFreiheit. Werner Bellmann hat überzeugend dargelegt, dass Helenes Selbstmord mit der naturalistischen Determinationslehre übereinstimmt. Geprägt durch die „außerfamiliäre Erziehung“, die ihr zwar erlaubt, die eigene Situation zu reflektieren und korrekt zu beurteilen, aber auch bewirkt, dass sie konservativ-bürgerliche soziale und Geschlechterrollen internalisiert hat, und durch das familiäre Milieu, in dem sie mit grassierendem Alkoholismus und dessen Folgen konfrontiert ist, sieht sie in Loth ihre einzige Hoffnung auf Rettung. Als sie realisiert, dass Loth sie zurückgelassen hat, „flieht sie in den Tod, um den Zustand der EntwürdigungEntwürdigung zu beenden und der Macht des Milieus zu entrinnen“.1 Dass Bellmann die Vokabel „Entwürdigung“ wählt, ist naheliegend: Tatsächlich zeichnet HauptmannHauptmann, Gerhart die Folgen des Alkoholismus für die gesamte Familie – nicht nur die rein biologischen, sondern auch die zwischenmenschlichen – als Entmenschung. Helene selbst registriert dies im Gespräch mit Loth: „Es ist ganz entsetzlich, wie es hier zugeht; ein Leben wie – das … wie das liebe Vieh – ich wäre darin umgekommen ohne dich – mich schaudert’s!“ (CA 1, 78). Doch selbstständig gelingt es Helene nicht, ihre Situation zu ändern; deswegen stilisiert sie Loth zu ihrem Retter. Hier offenbart sich das Problematische an dieser Figur: Zwar ist sie durchaus der Reflexion fähig, besitzt auch ein intuitives Verständnis für die Differenz von Gut und Böse sowie eine humane Geisteshaltung, aber sie ist unfähig, auf dieser Grundlage einen eigenständigen Willen zu bilden, der zu einer autonomen Handlung werden könnte. Als Frau besitzt sie keine eigene Würde; lediglich in Verbindung mit einem männlichen Retter entwickelt sie ein Gefühl des eigenen Werts, nur an der Hand des Mannes kann sie handeln.2 Genau deswegen ist Helenes Suizid auch nicht als Akt der Würde, als reflektierter, selbstständiger Entschluss zum Freitod nach dem Vorbild von GottschedsGottsched, Johann Christoph Cato inszeniert. Da Helene einer autonomen Entscheidung nicht fähig ist, entfällt der klassische Entscheidungsmonolog.3 Helenes Suizid geschieht fast sprachlos; es geht ihm ein gestisches Spiel voraus, das ihre Verzweiflung, ihren Kontrollverlust verrät. Nach der Lektüre des Abschiedsbriefs Loths irrt sie wie eine „halb Irrsinnige“ umher, hat „Mühe, aufrechtzustehen“, und handelt mit „verzweifelte[r] Energie“ (CA 1, 97). Ihre gestammelten letzten Worte beziehen sich auf Loth; ihre Tat ist kein autonomer Akt, sondern eine Verzweiflungstat, weniger eine Flucht als eine reflexartige Handlung.4

Eines verbindet Helene aber doch mit GottschedsGottsched, Johann Christoph Cato: Auch Helene tötet sich nicht auf, sondern hinter der Bühne. Auf den ersten Blick ist das inkonsequent; immerhin propagiert der Naturalismus den genauen, nichts verhüllenden Blick und das Überwinden künstlerischerKunst, Künstler Tabus. Zudem hat das Stück das Motiv des ‚vertierten‘ Menschen, zu dem sich Helene durch einen grausigen SuizidSuizid auf der Bühne womöglich machen würde, breit entfaltet und augenfällig vorgeführt (Krause). Erklären lässt sich dieser Sachverhalt durch HauptmannsHauptmann, Gerhart spezifischen Umgang mit dem Begriff der Menschenwürde: Im Einklang mit der naturalistischen Programmatik schildert er eindrücklich die Bedrohung der Menschenwürde durch soziale Faktoren; die vollständige Demontage der Idee unterbleibt aber – denn die Möglichkeit der Überwindung der WürdelosigkeitWürdelosigkeit ist im Stück mitangelegt.5 Deutlich wird dies bei einem genaueren Blick auf die Figur des Loth.

V.2.2.4. Loth als Überwinder der DeterminationDetermination

Auch auf Loth scheint zunächst das DeterminismusparadigmaDeterminismus zuzutreffen. Seinen „Kampf um das Glück aller“ will er sich nicht als Verdienst anrechnen lassen, schließlich sei er „so veranlagt“. Doch er schränkt sogleich ein: Nicht durch Geburt oder Vererbung ist er zu dieser Veranlagung gekommen, sondern durch „die Verkehrtheit unserer Verhältnisse“, für die man nur einen „Sinn“ haben müsse; „dann wird man mit Notwendigkeit zu dem“, was er jetzt ist (CA 1, 47). Loth stellt sich als positiv DeterminiertenDetermination dar: Aufgrund bestimmter Faktoren – Lektüre, Unrechtsbewusstsein, Fortschrittsglaube, nicht zuletzt Bildung – ist es ihm möglich und ein Bedürfnis, Missstände zu erkennen und sie zu bekämpfen. Dass Loth aber gerade in seinem nächsten Umfeld, im Umgang mit der Familie Krause, blind und begriffsstutzig wirkt – und so das tragische Ende Helenes erst ermöglicht –, verhindert eine positive Einschätzung dieser Figur.1 Denn Loth vermag zwar, unter Berücksichtigung seines Wissens um die determinierende Kraft äußerer Faktoren reflektiert zu handeln, doch mangelt es ihm vollkommen am Blick für die praktischen Konsequenzen seiner Handlungen.2

Gegen Ende des Stücks greift der Dialog zwischen Loth und Dr. Schimmelpfennig das Thema DeterminationDetermination auf. Loth bemüht sich, seinen Willen, Helene zu heiraten, „nüchtern“ und „objektiv“ zu begründen (CA 1, 91). Nicht ohne Ironie diagnostiziert der Arzt bei Loth eine „unglückliche[] Ehemanie“, das zwanghafte Festhalten an einer Vorstellung, die er eigentlich „theoretisch längst verworfen“ habe (CA 1, 92) – also einen Mangel an Konsequenz in seiner streng wissenschaftlichen, fortschrittsgläubigen Denkweise. Der weitere Verlauf der Unterhaltung ist entscheidend:

LOTH. Es ist Trieb bei mir, geradezu Trieb. Weiß Gott! mag ich mich wenden, wie ich will.

DR. SCHIMMELPFENNIG. Man kann schließlich auch einen Trieb niederkämpfen.

LOTH. Ja, wenn’s ’n Zweck hat, warum nicht?

DR. SCHIMMELPFENNIG. Hat’s Heiraten etwa Zweck?

LOTH. Das will ich meinen. Das hat Zweck! […] Ich hab’s auch vielleicht nicht so gefühlt, […] daß ich in meinem Streben etwas entsetzlich Ödes, gleichsam Maschinenmäßiges angenommen hatte. […] (CA 1, 92)

Wie Loth für Helene, verkörpert auch Helene für Loth die Hoffnung auf ein besseres Dasein. Vor allem die hier artikulierten Handlungskonzepte sind interessant: Loth sieht seine sich entwickelnden Gefühle für Helene durch seinen ‚Ehetrieb‘ determiniertDetermination; einen eigenen Entscheidungsspielraum sieht er zunächst nicht. Dass dann gerade der Mediziner mit Rekurs auf traditionelle Menschenwürdevorstellungen behauptet, dass der Mensch sich über einen Trieb hinwegsetzen könne, überrascht; immerhin zeigt er sich sonst durchaus auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit. Loth geht darauf nicht ein. Vielmehr betont er die Zweckmäßigkeit einer Ehe mit Helene, die ihm sein ödes, maschinenartigesMaschine Dasein humaner machen würde. Sein Idealbild des menschlichen Zusammenlebens umfasst demnach sowohl das Bewusstsein für die wissenschaftlich beschreibbaren Gesetze, die das Leben bestimmen, als auch einen Raum für menschliches Miteinander. Indem er die Frau zum „Paradigma des Humanen“ erklärt, spielt Loth auf einen bestimmenden Topos des 18. und des 19. Jahrhunderts an.3 Implizit liefert er so aber auch eine Definition dessen, was Menschenwürde im Zeitalter der wissenschaftlichen Entmystifizierung des Menschen bedeuten kann: die jegliche Determination und theoretische Reflexion transzendierende, gelebte Menschlichkeit.

Dass das gemeinsame Glück am Ende dann doch unmöglich ist, akzentuiert auf äußerst ambivalente Weise sowohl die sozialkritische Dimension des Dramas als auch die Relativierung des strengen DeterminismusDeterminismus – sowie das Problematische an der Figur Loth. Nachdem ihn Schimmelpfennig über den in der Familie Krause verbreiteten Alkoholismus aufgeklärt hat, wird für Loth schnell klar, dass er Helene, offenbar ohne großes Bedauern, verlassen wird. Im Endeffekt kämpft Loth also seinen „Trieb“ nieder! Zwar könnte man einwenden, dass dieses Verhalten auch nur Folge der oben beschriebenen DeterminationDetermination durch den verwissenschaftlichen Blick ist; doch HauptmannHauptmann, Gerhart macht in einem kurzen Entscheidungsmonolog klar, dass Loth sehr wohl in der Lage ist, die Situation zu reflektieren, abzuwägen und eigenständig eine freie Entscheidung zu treffen:

LOTH. […] es gibt drei Möglichkeiten! Entweder ich heirate sie, und dann … nein, dieser Ausweg existiert überhaupt nicht. Oder – die bewußte Kugel. Na ja, dann hätte man wenigstens Ruhe. Aber nein! so weit sind wir noch nicht, so was kann man sich einstweilen noch nicht leisten – also: leben! kämpfen! – Weiter, immer weiter. […] (CA 1, 94–95)

Bewusst entscheidet sich Loth gegen die Heirat und gegen den SuizidSuizid – in deutlichem Kontrast zu dem als notwendige Folge sozialer DeterminationDetermination gezeichneten Selbstmord Helenes. Bereits zuvor hatte Loth im Gespräch mit Helene den Suizid als bewusste und wohlüberlegte Entscheidung ins Spiel gebracht: Den Gedanken, „es in der Hand zu haben“, und die Option, sich so „über alles mögliche hinweg[zu]heben, Vergangenes – und Zukünftiges…“, findet er berauschend (CA 1, 76). Diese „stolze[] Versicherung menschlicher Handlungsautonomie“, die „den Gedanken radikaler SelbstbestimmungSelbstbestimmung“ behauptet,4 widerspricht eklatant dem Glauben an einen strengen DeterminismusDeterminismus, wie ihn Loth eigentlich vertritt. Gleichzeitig wird dieser Gedanke aber gerade durch Helenes Selbstmord wieder relativiert, der, wie beschrieben, keinesfalls Resultat einer besonnenen, vernünftigenVernunft Entscheidung ist. Dass sowohl Determination als auch AutonomieAutonomie als problematisch und ambivalent geschildert werden, lenkt den Blick schließlich auf jene Faktoren, die beides entweder ermöglichen oder beeinträchtigen.5

Nachdem sich also Loth zum Aufbruch entschieden hat, zaudert er: „Oder am Ende …?“ (CA 1, 95); auch bevor er das Haus verlässt, bleibt er stehen und blickt zurück.6 Schließlich bestätigt er seine Entscheidung: „Ja, ja! – nur eben … ich kann nicht anders“ (CA 1, 95).7 Gerade weil dieser Entscheidung ein Reflexionsprozess vorausgegangen ist, handelt es sich nicht um eine zwangsläufige – und genau das unterscheidet Loth von Helene. Als sich ihre Hoffnungen zerschlagen, flieht sie reflexartig, ohne Bewusstsein für ihren eigenen Wert und quasi sprachlos in den Tod. Als sich Loths Hoffnungen zerschlagen, entscheidet er sich rationalRationalität und bewusst (und durch artikulierte Reflexion!), „weiterzukämpfen“. Helene ist nicht fähig, die DeterminationDetermination durch familiäre und soziale Faktoren zu überwinden. Loth, gebildet und mit einem geschulten Blick für Missstände, ist in der Lage, letztlich doch zu einer freien Willensentscheidung zu gelangen. Jenen Missständen und gesellschaftlichen Faktoren, die die Existenz des Menschen zu einer unüberwindbar determinierten machen, gilt also Loths Kampf.8 Diesen Kampf versteht er als Kampf für die Allgemeinheit, wie der Gebrauch des Pronomens „man“ (statt „ich“) in seinem Entscheidungsmonolog verrät.

Neben dem negativen DeterminismusparadigmaDeterminismus gibt es für HauptmannHauptmann, Gerhart demnach Möglichkeiten, die DeterminationDetermination zu überwinden9 oder zumindest positiv zu gestalten – und genau das ist der Grund für das Festhalten an der Idee der Menschenwürde. Doch gerade dadurch, dass Loth die Determination überwindet und gewissermaßen den Glauben an die Menschenwürde rettet,10 stürzt er Helene ins Unglück. Er trägt an ihrem Tod eine „moralische[] VerantwortungVerantwortung“,11 da er unfähig ist, in diesem Moment seine Prinzipien zu verletzen, im Hinblick auf die praktischen Konsequenzen seines Verhaltens menschlich zu handeln und dem gemeinsamen Glück mit Helene eine Chance einzuräumen. Dies macht ihn zu einer zutiefst ambivalenten Figur, ja zu einer „tragischen Gestalt“.12 Zwar sieht sich Loth in seinem sozialen Engagement dem theoretischen Ideal der Menschlichkeit verpflichtet, doch im zwischenmenschlichen Handeln gelingt es ihm nicht, einen Blick für die praktischen – und tragischen – Folgen seiner Entscheidungen zu entwickeln.13

Ein naturalistisches Programm der Menschenwürde scheint in HauptmannsHauptmann, Gerhart Drama somit ex negativo auf. Helene und Loth sind als komplementäre Figuren angelegt. Während Helene zwar menschlich, aber handlungsunfähig ist, ist Loth durchaus autonomiefähig, aber inhuman; seiner naturalistisch begründeten Ethik fehlt die gelebte HumanitätHumanität. Menschenwürde bedeutet demnach nicht so sehr die freie Willensentscheidung, die in eine autonomeAutonomie Handlung mündet und die DeterminationDetermination überwinden kann, sondern die Fähigkeit zu EmpathieEmpathie und Mitgefühl sowie die Bereitschaft zu menschlichem Handeln im Bewusstsein um die Macht determinierender Faktoren.

In diesem Kontext sind auch Loths Kommentare über Literatur zu sehen.14 Zwar stellt HauptmannHauptmann, Gerhart klar, dass Loths Kunstansichten nicht seine eigenen sind;15 doch ebendiese Ansichten tragen jenen idealistischen Zug, der die programmatischen Äußerungen der Naturalisten prägt. Auch hier zeigt sich, dass die DeterminationDetermination doch überwindbar ist. Das Buch, das Loth Helene empfiehlt, hat einen „vernünftigenVernunft Zweck“, da es „die Menschen nicht [malt], wie sie sind, sondern wie sie einmal werden sollen. Es wirkt vorbildlich“ (CA 1, 46). Literatur kann demnach den Menschen positiv beeinflussen, ihn positiv determinieren. Die Texte Zolas und Ibsens hingegen seien keine Literatur; ihnen fehle der „klare[], erfrischende[] Trunk“, das positive Gegenbild zur bloßen Schilderung von Elend und Missständen. Zola und Ibsen böten lediglich „Medizin“ (CA 1, 46). Diese Metapher ist als Vorwurf intendiert, obwohl sie eigentlich zum Bild des Menschen, den es gesund zu machen gilt, passt. Loth fordert hingegen die Aufgabe der Fokussierung auf das Negativ-Pathologische zugunsten des Aufzeigens von Verbesserungs- und Überwindungsmöglichkeiten. Außerfiktional betrachtet, verkörpert die Figur Loth diese Position. Als Kämpfer für das allgemeine Glück strebt er die Behebung von den Menschen determinierenden Missständen an, gleichzeitig relativiert er den strengen DeterminismusDeterminismus, indem er als Beispiel für die Möglichkeit freier Entscheidungsgewalt, determinierenden Faktoren zum Trotze, fungiert.

HauptmannHauptmann, Gerhart modifiziert somit das naturalistische Menschenbild, wie es bei HolzHolz, Arno16 theoretisch formuliert und in Papa Hamlet literarisch verarbeitet wird, auf signifikante Weise. Zwar spielt das naturalistische Dogma der DeterminationDetermination des Menschen und der gesetzmäßigen Erklärbarkeit seines Verhaltens eine entscheidende Rolle; der Glaube an die Möglichkeit autonomenAutonomie Handelns wird jedoch nicht vollständig aufgegeben, sondern in den Dienst der Forderung nach Menschlichkeit gestellt.

Vor Sonnenaufgang schildert die Menschenwürde als bedroht: durch soziale Veränderungen, durch zeittypische Erscheinungen, durch familiäre Missstände. Das Drama schärft das Bewusstsein für die determinierende, entwürdigendeEntwürdigung Macht dieser Faktoren; der Blick fällt auf die Bedingungen autonomenAutonomie, verantwortungsvollenVerantwortung Handelns. Helenes SuizidSuizid erscheint dabei nicht als Möglichkeit der Überwindung von DeterminationDetermination, sondern gerade als deren unabwendbare Folge. Er ist kein autonomer Akt, mit dem das IndividuumIndividuum seine FreiheitFreiheit rettet und seine Würde beweist. Vielmehr verweist auch der Selbstmord auf die kritische Frage nach den ihn determinierenden Faktoren.17

7 547,07 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
1090 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783772000546
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают