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V.1.2. Exkurs: Menschenwürde und MitleidMitleid in der Philosophie Arthur SchopenhauersSchopenhauer, Arthur

Ende des 19. Jahrhunderts gilt der Mensch als ein von verschiedenen, wissenschaftlich beschreibbaren Faktoren determiniertesDetermination Wesen. Dass der Mensch nur bedingt frei und autonomAutonomie handlungsfähig ist, hatte bereits einige Jahrzehnte zuvor Arthur SchopenhauerSchopenhauer, Arthur gelehrt.1 Schopenhauer formuliert zudem scharfe Kritik am Begriff der Menschenwürde – und stellt der Menschenwürde das MitleidMitleid als Grundlage seiner Ethik entgegen.2

SchopenhauerSchopenhauer, Arthur stört sich zum einen an der Formulierung „Würde des Menschen“, die aufgrund ihrer strahlenden Aura die inhaltliche Schärfe und die theoretisch-systematische Verwendbarkeit zu verlieren und inhaltsleer zu werden droht:

Allein dieser Ausdruck ‚Würde des Menschen‘, einmal von KantKant, Immanuel ausgesprochen, wurde nachher das Schibboleth aller rat- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen oder wenigstens doch irgend etwas sagenden Grundlage der MoralMoral, Moralität hinter jenen imponierenden Ausdruck ‚Würde des Menschen‘ versteckten, klug darauf rechnend, daß auch ihr Leser sich gern mit einer solchen Würde angethan sehn und demnach damit zufrieden gestellt seyn würde.3 (Herv. i.O.)

Zum anderen lehnt SchopenhauerSchopenhauer, Arthur KantsKant, Immanuel Bestimmungen der Menschenwürde als absoluter Wert, der dem Menschen eignet, und als moralische FreiheitFreiheit des Menschen ab.4 Schopenhauers Welt- und Menschenbild ist streng deterministisch. Grundprinzip der Welt und allen Lebens, auch des menschlichen, ist der ‚WilleWille, freier Wille‘; den Äußerungen des Willens, etwa Trieben, Affekten, Entwicklungsgesetzen oder Instinkten, ist der Mensch ausgeliefert. Somit kann er auch nicht vollkommen frei und autonomAutonomie handeln; zwar ist er im Stande, dank seiner VernunftfähigkeitVernunft, die ihn nach wie vor vor dem TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung auszeichnet,5 die Motive seiner Handlungen zu reflektieren, doch die Motive selbst bleiben durch den Willen determiniertDetermination.6

SchopenhauersSchopenhauer, Arthur Sicht auf den Menschen ist zutiefst pessimistisch. Das menschliche Leben ist beherrscht durch allgegenwärtiges, sinnloses Leid, Unglück, Egoismus und Boshaftigkeit. Der Mensch ist eine fast schon erbärmliche Kreatur – was die Vorstellung einer besonderen Menschenwürde als absurd entlarvt: „[Mir scheint] der Begriff der Würde auf ein am Willen so sündliches, am Geiste so beschränktes, am KörperKörper so verletzbares und hinfälliges Wesen, wie der Mensch ist, nur ironisch anwendbar zu sein“.7 Der Mensch darf deshalb nicht an einem normativen Menschenwürdebegriff gemessen und aufgrund moralischer oder intellektueller Defizite verurteilt werden. Vielmehr fordert Schopenhauer die Besinnung auf das, was allen Menschen gemein ist – das Leiden:

[M]an fasse allein seine [i.e. des Menschen; MG] Leiden, seine Not, seine Angst, seine Schmerzen ins Auge – da wird man sich stets mit ihm verwandt fühlen, mit ihm sympathisieren und statt Haß oder Verachtung jenes MitleidMitleid mit ihm empfinden, welches allein die ἀγάπη [Liebe] ist, zu der das Evangelium aufruft. Um keinen Haß, keine Verachtung gegen ihn aufkommen zu lassen, ist wahrlich nicht die Aufsuchung seiner angeblichen ‚Würde‘, sondern umgekehrt der Standpunkt des Mitleids der allein geeignete.8

Im Leiden sind alle Menschen gleich, nicht aufgrund ihrer vermeintlichen Würde; umgekehrt bedeutet dies, dass allein Mitleidfähigkeit und Menschlichkeit, d.h. die Disposition, die Mitmenschen zu lieben und ihnen zu helfen, Gründe moralischen Handelns sein können. Als schwer fass- und erklärbare Lebenseinstellung des Einzelnen figuriert das MitleidMitleid als utopisches Moment des Menschlichen.9

Sowohl die in den naturalistischen Programmen formulierte Einsicht in die DeterminationDetermination des Menschen als auch die keinesfalls als Widerspruch dazu verstandene Forderung nach Menschlichkeit, nach HumanitätHumanität sind somit in SchopenhauersSchopenhauer, Arthur Philosophie vorgeprägt.

V.1.3. Arno HolzHolz, Arno’ kunsttheoretische Schriften

Die poetologischen Ausführungen Arno HolzHolz, Arno’ bestätigen die bisherigen Befunde. Die Einsicht in die „durchgängige Gesetzmäßigkeit alles Geschehens“, also auch in die DeterminiertheitDetermination des Menschen, stellt für ihn die wichtigste Errungenschaft der Menschheit dar.1 Diese Erkenntnis erlaubt es den Wissenschaften und der Literatur, die Welt, allen voran den Menschen und sein Verhalten, nach den Gesetzen der Empirie zu untersuchen. Nur so kann jenen Faktoren, die die Würde des Menschen bedrohen, entgegengewirkt, ja ein Aufschwung zu wahrer Würde vorbereitet werden:

Erst durch sie [i.e. durch die Erkenntnis der allgemeinen Gesetzmäßigkeit; MG] haben wir jetzt endlich gegründete Hoffnung, durch Arbeit und Selbstzucht, vertrauend auf nichts anderes mehr, als nur noch auf die eigene Kraft, die es immer wieder und wieder zu stählen gilt, dermaleinst das zu werden, was zu sein wir uns vorderhand wohl noch nicht recht einreden dürfen, nämlich: „Menschen!“2

Die Ergebnisse der Soziologie machen Verhalten, Wesen und Entwicklung des Menschen und der menschlichen GesellschaftGesellschaft nachvollziehbar und ergründbar:

[E]s ist ihr Wollen [i.e. der Soziologie; MG], die Menschheit, durch die Erforschung der Gesetzmäßigkeit der sie bildenden Elemente genau in dem selben Maße, in dem diese ihr gelingt, aus einer Sklavin ihrer selbst, zu einer Herrscherin ihrer selbst zu machen.3

Die naturalistische Literatur legitimiert sich, indem sie sich den von der Wissenschaft aufgestellten Gesetzen verpflichtet. Insofern sie ‚Fälle‘ zeigt, die diese Gesetze illustrieren, trägt sie zur Entwicklung des Menschen bei. SchillersSchiller, Friedrich Postulat, dass der KünstlerKunst, Künstler „[d]er Menschheit Würde“ durch die Kunst „heben“ solle,4 wird auf zeittypische Weise neu interpretiert: In der und durch die Literatur soll der Rezipient die Gesetzmäßigkeit der Welt erkennen und begreifen. So erhält der literarische Diskurs – neben dem (natur)wissenschaftlichen – seine Berechtigung.

In der literarischen Praxis resultiert hieraus eine Fokussierung auf den Menschen: „[D]en ganzen Menschen von neuem geben“ – so lautet der Auftrag der Literatur.5 Im Drama steht, in auffälliger Modifizierung des Tragödienbegriffs des Aristoteles, die genaue Darstellung von Figuren – und nicht die Handlung – im Vordergrund:6 „[D]er Mensch selbst und seine möglichst intensive Wiedergabe [ist] das Kerngesetz des Dramas“.7 Die Grundstruktur des Dramas bildet somit nicht mehr primär das Aufeinanderprallen von Spiel und Gegenspiel bzw. von zwei (zumindest subjektiv) gleichwertigen Weltsichten, sondern die Wiedergabe des im Einklang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen gezeichneten Menschen und seine Einbettung in die ihn umgebende, determinierende Umwelt. Nur wenn eine Kunstfigur den Lehren der Soziologie entsprechend in ihrem Milieu gezeigt wird und nicht „konstruiert[], abstrakt[]“ wirkt, kann sie zum Anschauungs- und Untersuchungsobjekt werden.8 Die programmatische Zurückstellung der Handlung ist dabei durchaus zu hinterfragen, kann sich eine Dramenfigur doch nur in ihr und durch sie profilieren. Andererseits fordert HolzʼHolz, Arno Bestimmung des Dramas die Integration epischer, rein deskriptiver Elemente geradezu heraus und verweist auf die Frage nach der dem naturalistischen Kunstideal angemessensten literarischen Gattung.

Der Mensch jedenfalls besitzt nach HolzHolz, Arno einen besonderen Wert als primäres Untersuchungsobjekt der naturalistischen Literatur; gleichzeitig ist er das Ziel des von den Dichtern zu befördernden intellektuellen und sozialen Fortschritts.

V.1.4. Die Menschenwürde in poetologischen Aussagen Gerhart HauptmannsHauptmann, Gerhart

Gerhart HauptmannHauptmann, Gerhart hat keine systematisch formulierte Poetik hinterlassen, sich jedoch in zahlreichen Reden, kurzen Prosatexten und Tagebucheintragungen zu KunstKunst, Künstler und Literatur geäußert.1 Viele dieser Äußerungen stammen aus den Jahren nach 1910, als Hauptmann endgültig zu einer der bedeutendsten kulturellen Figuren des Deutschen Reichs geworden war. Ihre unkritische Anwendung auf die frühen Dramen ist somit problematisch; gleichwohl sind seine grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit dem Wesen und der Funktion der Kunst aufschlussreich. Wichtiger noch wiegt die Tatsache, dass sich Hauptmann in theoretischen Überlegungen an markanten Stellen auf den Begriff der Würde bezieht.

In den aphoristischen Aufzeichnungen Einsichten und Ausblicke (1942) finden sich im Abschnitt „Leben und Menschheit“ zwei instruktive Sätze. Der erste lautet: „Ich habe niemals eine andere Würde bekleidet als die mir innewohnende“ (CA 6, 989).2 Durch die Wahl zweier gegensätzlicher Verben („bekleiden“, „innewohnen“) unterscheidet HauptmannHauptmann, Gerhart zwischen zwei Würdebegriffen: Würde als etwas Äußeres, Kontingentes und Würde als eine inhärente Qualität, die ihm als Mensch eigen ist. Dass die dem Menschen „innewohnende“ Würde als die wahre, fundamentale angesehen wird, steht außer Frage. Dass sie ein Charakteristikum eines jeden Menschen ist, suggeriert der zweite Satz: „Jeder Mensch, richtig erkannt, ist ein bedeutender Mensch“ (CA 6, 997). Bei genauerem Hinsehen wird die augenscheinliche Absolutheit dieser Aussage brüchig: Offenbar wird nicht jeder Mensch richtig erkannt, die Bedeutung, die dem Einzelnen zukommen müsste, nicht respektiert. Die Würde des Einzelnen ist demnach eher eine Utopie, für die gekämpft werden muss, denn (soziale) Realität. Die KunstKunst, Künstler, so darf man mutmaßen, ist dem ‚richtigen Erkennen‘ des Menschen verpflichtet.

Die Bedeutung, die der Menschenwürde im konkreten Kontext der KunstKunst, Künstler, der Literatur und des Theaters zukommt, beschreibt HauptmannHauptmann, Gerhart an zwei Stellen. Zum einen betont er in einer 1931 vor Theaterschaffenden gehaltenen Rede mit einem eher produktions- und darstellungsästhetischen Akzent die Aufgabe des Theaters. Die „Verwandtschaft zwischen Kunst und Religion“ erlege dem Theater „hohe Pflichten“ auf. In Bezug auf Deutschland zieht er eine historische Entwicklungslinie über „LessingLessing, Gotthold Ephraim, GoetheGoethe, Johann Wolfgang, SchillerSchiller, Friedrich, Wagner und NietzscheNietzsche, Friedrich“ und formuliert als Anspruch an das Theater: „Ist dem Theater nichts Menschliches fremd, so hat es doch auch die Würde der Menschheit zu wahren, was manchmal schwer zu vereinen ist“ (CA 6, 829). Mit dieser scheinbar lapidaren Aussage weist Hauptmann auf eine entscheidende Entwicklung in der Geschichte des deutschen Dramas hin, indem er ein dramenpoetisches Problem formuliert, das spätestens seit BüchnersBüchner, Georg Woyzeck besteht. Büchner inszeniert schonungslos die EntwürdigungEntwürdigung und die vermeintliche WürdelosigkeitWürdelosigkeit des Menschen. Aus ästhetisch-poetologischer Perspektive stellt sich zum einen die Frage nach der Legitimität einer solchen Radikalität, zum anderen jene, ob die verletzte Würde des Menschen, wie es bei Büchner geschieht, literarisch wiederhergestellt werden muss. Hauptmann ist sich des Problems einer Dichtung, die sich auf die dokumentarische Abbildung von Wirklichkeit verpflichtet, sich dabei aber auch – im Hinblick auf Funktion und Status der Kunst – der idealistischen Tradition verbunden sieht, bewusst. Der relativierende Nebensatz („was manchmal schwer zu vereinen ist“) scheint auch auf die eigenen naturalistischen Stücke zu verweisen, in denen die Problematisierung des Menschenwürdebegriffs ja gerade zum programmatischen Ansatz gehört. Auch rückblickend sieht sich Hauptmann trotzdem an das Postulat der Wahrung der Menschenwürde gebunden.3

In einer Rede mit dem programmatischen Titel Der Weg zur HumanitätHumanität (1922) entwirft der Dichter zum anderen ein teleologisches Bild sowohl der allgemeinen als auch der Literatur- und Kulturgeschichte. Die Zukunft Deutschlands verknüpft HauptmannHauptmann, Gerhart mit der Zukunft der deutschen Literatur. Als wichtigste Frage der Gegenwart betrachtet er, wohl auch unter dem Eindruck der Gräuel des Ersten Weltkrieges, jene nach der geistigen Ausrichtung des Volkes. Der KunstKunst, Künstler kommt dabei eine entscheidende Rolle zu:

Das höchste Ziel winkt jedenfalls auf dem Wege der HumanitätHumanität, und auf diesem sind ganz allein die Künste des Friedens Wegbahner. Wesentlich friedlich sind die Künste, die Wissenschaften, die Religion, und hier ist es, nämlich auf dem Wege der Humanität, wo das deutsche Schrifttum Gott sei Dank immer zu finden war und zu finden ist und zu finden sein wird in der Zukunft. (CA 6, 767)

Der „übermenschliche[n] Begnadung des Menschengeschlechts“ müsse man sich jedoch erst noch „würdig“ erweisen (CA 6, 768); dies zu befördern sei die Aufgabe der Literatur. Mit Pathos formuliert: Die Literatur ebnet den Weg zur HumanitätHumanität. Dieses pauschale Urteil, das die Literaturgeschichte wenig differenziert als quasi notwendige, auf das Ziel der Humanität hin ausgerichtete Entwicklung beschreibt, impliziert aber auch, dass HauptmannHauptmann, Gerhart sein eigenes naturalistisches Frühwerk demselben Ziel verpflichtet sieht wie etwa die klassische oder romantische Literatur. Jede Literatur, besonders jedes Drama, zielt in Hauptmanns Augen primär auf die kontinuierliche Weiter- und Höherentwicklung des Menschen. Insofern ist das tatsächliche Erreichen von Menschenwürde und Menschlichkeit die Utopie, die die Literatur trägt.4

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Von den in Bezug auf den Status des Menschen durchaus hoffnungsvollen und zukunftsgerichteten Visionen der kunsttheoretischen und poetologischen Beiträge ist in den literarischen Erzeugnissen des frühen Naturalismus auf den ersten Blick wenig zu sehen. Hier begegnen vielmehr das bedrückende Elend des modernen Großstadtlebens und die katastrophalen Folgen sozialer Veränderungsprozesse für das IndividuumIndividuum und die GesellschaftGesellschaft. Vor diesem Hintergrund wird die Frage nach dem genuin ästhetischen Umgang der Naturalisten mit dem programmatisch so bedeutsamen Begriff der Menschenwürde virulent, die Frage, wie – wenn überhaupt – in der naturalistischen Literatur die theoretisch relativierte Idee der Menschenwürde ‚gerettet‘ oder neu formuliert wird. Um Figuren ausgiebig aus der Innensicht als menschlich empfindende Wesen darzustellen, die Menschenwürde also auf diese Weise außerfiktional zu (re)konstituieren, fehlen dem Naturalismus mit seiner programmatischen Verpflichtung zum nüchternen Beobachterblick die darstellerischen Mittel. Die folgenden Analysen eruieren daher, wie die Spannung zwischen der Problematisierung des Menschenwürdebegriffs, dem Wissen um seine Bedrohung durch die soziale Realität und dem utopischen Entwurf einer allen DeterminismusDeterminismus überwindenden HumanitätHumanität literarisch inszeniert und gegebenenfalls gelöst wird.

V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus
V.2.1. „So’n Hundeleben!“ – Arno HolzHolz, Arno / Johannes SchlafSchlaf, Johannes: Papa Hamlet (1889)
V.2.1.1. Proletarisierung und Menschenwürde

Papa Hamlet schildert die Folgen eines Proletarisierungsprozesses:1 Verarmt und verelendet haust der arbeitslose Schauspieler Niels Thienwiebel mit seiner kranken Frau und seinem neugeborenen Sohn in einer Dachwohnung. Thienwiebels Lebensumstände und sein Selbstanspruch klaffen weit auseinander: Die gelegentliche Arbeit als Aktmodell hält er für eine „EntwürdigungEntwürdigung“ (PH 28),2 eine Anstellung bei einer Wandertruppe lehnt er aus Angst, „sich zu degradieren“, ab (PH 43). Würde ist hier zunächst kontingent und bezieht sich auf den sozialen Status; Thienwiebel hält stur und verzweifelt an seinem Selbstbild als genialer KünstlerKunst, Künstler, als „große[r], unübertroffene[r] Hamlet aus Trondhjem“ (PH 19), aber auch als selbstbewusster Kleinbürger fest.3 Mit seiner Frau die jämmerlichen, aber realen Lebensbedingungen zu besprechen, hält er für „unter seiner Würde“ (PH 29). Thienwiebels mit Pathos (und bisweilen eindeutig komischem Effekt) vorgetragenen Hamlet-Zitate sind nicht nur der seltsam anmutende Versuch eines Schauspielers, Worte für das ihn umgebende Elend zu finden; sie verraten auch das lächerliche Bemühen, an einem in Realität bereits überholten Selbstbild festzuhalten und durch die hochpoetische Sprache eine äußerliche Form der Würde zu bewahren. Seine Fixierung auf die Sprache ShakespearesShakespeare, William ist grotesk, ist diese doch vollkommen unangemessen, die Verhältnisse in der fiktionalen (und auch der realen!) Welt zu versprachlichen. Außerfiktional betrachtet, dient die Sprache des elisabethanischen Theaters als Hinweis darauf, dass der Text als kritische Auseinandersetzung mit einer inadäquaten Theater- und Literatursprache zu lesen ist – und mit einem als überkommen betrachteten Menschenbild. Das humanistische Menschenbild der Renaissance, auf dem die idealistische Tradition gründet, prallt auf jenes, das der naturalistischen Ästhetik zugrunde liegt. Besonders ein Hamlet-Zitat verdeutlicht, dass Papa Hamlet gerade auch als Beitrag zum Menschenwürdediskurs zu lesen ist. Ironischerweise entspricht die Figur, der das Zitat in den Mund gelegt wird, dem humanistischen Ideal überhaupt nicht mehr:

Welch ein Meisterwerk war der Mensch! Wie edel durch VernunftVernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig im Handeln, wie ähnlich einem Engel; im Begreifen, wie ähnlich einem Gotte; die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch: was war ihm diese Quintessenz vom Staube? (PH 28)4

Der euphorischen Feier des vernünftigenVernunft, autonomenAutonomie Menschen, dem als EbenbildGottebenbildlichkeit Gottes und als ‚Krone der SchöpfungKrone (der Schöpfung)‘ die FreiheitFreiheit der Gestaltung der ihm untergebenen Welt eignet, steht in dieser Passage die christliche Einsicht in die Nichtigkeit des Daseins gegenüber: Der Mensch vereinigt in sich Elend und Größe – eine für das 16. und das 17. Jahrhundert charakteristische Position.5 Durch die Transposition des Zitats in erlebte Rede erscheint das Verbum im Präteritum („war“) – gleichzeitig eine Absage an das nicht mehr zeitgemäße Menschenbild. Papa Hamlet relativiert die Vorstellung von der herausragenden Qualität des Menschen und seiner damit verbundenen Würde auf zeittypische Weise: durch das Wissen um seine biologische und soziale DeterminationDetermination.

V.2.1.2. Die Relativierung der Menschenwürde

In einem versöhnlichen Moment artikuliert Thienwiebel selbst das im Text entwickelte Menschenbild: „Ich kann ja auch nicht dafür! … Ich bin ja gar nicht so! Is auch wahr! Man wird ganz zum Vieh bei solchem Leben!“ (PH 60). Nur wenig später tötet er, wie zum Beweis, in einem Wutanfall seinen Sohn. Der Bezug zu BüchnersBüchner, Georg Woyzeck geht über die simple Anspielung („Vieh“ – „viehdummes IndividuumIndividuum“) hinaus; ist es bei Büchner perverserweise gerade der Mord an Marie, durch den Woyzeck seine Würde zu behaupten trachtet und somit beweist, dass er eben kein Vieh ist, so wird Thienwiebels Tat zum ultimativem Beleg für seine WürdelosigkeitWürdelosigkeit.1

Die fiktionale Welt in Papa Hamlet ist tatsächlich von Tieren bevölkert; das suggerieren zumindest Namen, Metaphern und Apostrophen, die auf die verschiedenen Figuren verweisen und die auf rhetorischer Ebene deren Menschenwürde in Frage stellen.2 Innerfiktional fungieren diese Bezeichnungen bisweilen als Kosenamen, die zudem auf problematische zwischenmenschliche Beziehungen hindeuten (z.B. zwischen Vater und Kind). Außerfiktional betrachtet, deuten sie das dem Text zugrundeliegende Menschenbild an. Dass vor allem der kleine Fortinbras fast ausschließlich mit Tiernamen belegt wird, illustriert auf bedrückende Weise die naturalistische Lehre von Vererbung und Degeneration. Das Kind ist von Geburt an nicht nur durch seine eigene biologische Disposition, sondern vor allem durch die ihm von seinen Eltern und deren Umgebung vererbten Anlagen determiniertDetermination.

Die Figuren leben in ihrer Selbstwahrnehmung ein „Hundeleben“ (PH 59). Die außerfiktional als menschenunwürdig gekennzeichneten Lebensbedingungen lassen sie zu tierähnlichen Wesen verkommen, die nicht mehr imstande sind, einen autonomenAutonomie, auf selbstständiger Reflexion und dem Abwägen ethischer Gesichtspunkte beruhenden Willen zu bilden.3 Im Text greifbares Symptom der im Hintergrund ablaufenden sozialen Prozesse, die das Leben des Einzelnen dramatisch verändern, ist das anhand aussagekräftiger, metonymischer Details beschriebene Milieu, das die WürdelosigkeitWürdelosigkeit der Figuren erzeugt. Die Einrichtung etwa ist heruntergekommen (ein „Milchtopf[] ohne Henkel“, ein „alte[s], berußte[s] Handtuch[]“; PH 21). Die Erbärmlichkeit ihrer Behausung färbt ganz offensichtlich auf Niels und Amalie ab: Er trägt „ausgetretene[] Pantoffeln“, ihre Haare sind „dünn[]“, ihre Nachtjacke ist „schmutzig“, ihr Kind säugt sie „nachlässig“ (PH 21). Diese indexikalischen Zeichen verweisen auf die Armut, die den Figuren zu schaffen macht: Ole muss sich zeitweise von „aufgeweichten Brotkrusten“ ernähren (PH 35), den Thienwiebels fehlt das Holz zum Heizen (PH 48), Amalie zittert vor Kälte (PH 55, 56). Mit der Vermieterin Frau Wachtel wird jedoch eine Figur eingeführt, die ein vernichtendes, auf das Ehepaar selbst als Verursacher seiner Misere abzielendes Urteil fällt:

Der alte, alberne Kerl flözte sich den ganzen Tag auf dem Sofa rum und trieb Faxen, das faule, schwindsüchtige Frauenzimmer hatte nicht einmal Zeit, seinem Schreisack das bißchen blaue Milch zu geben, zu fressen hatten sie ja alle drei nichts, und die Miete – ach du lieber Gott! (PH 35–36)

Frau Wachtels Sicht ist gewissermaßen eine ästhetische Norm, die Figur dient als ästhetisches Mittel, um die Theorie der DeterminationDetermination innerfiktional zu problematisieren. Der Mangel an sinnvoller Beschäftigung, ob selbstverschuldet oder nicht, ist demnach die Ursache des erbärmlichen Zustands; dieser wirkt sich wiederum auf die Psyche der Betroffenen aus. Amalie versinkt in Gleichgültigkeit und Stumpfheit (vgl. PH 36 und 56); Niels kokettiert wie Hamlet mit dem Wahnsinn (vgl. PH 36–38). Ob man nun die Armut als Folge von Persönlichkeitsstruktur und Umständen oder diese als Folge der Armut begreift, ändert nichts daran, dass die Figuren in ihrem Milieu, das sowohl ihre realen Lebensverhältnisse als auch ihre überholten Ideale beinhaltet, gefangen erscheinen. Zu Handlungen, die auf reflektierten Willensäußerungen beruhen, sind diese ‚vertierten‘ Menschen in diesen unwürdigen Bedingungen nicht mehr fähig. „Was macht man nu bloß? Man kann sich doch nicht das Leben nehmen?!“, klagt Thienwiebel (PH 60). Zwar sind ihm einzelne, kurze Momente der Selbstreflexion nicht abzusprechen; aber selbst der Freitod als freie Willensentscheidung gegen ein elendiges, würdelosesWürdelosigkeit Leben kommt nicht ernsthaft in Betracht. Entsprechend ironisch klingen Niels’ Erziehungsratschläge an Amalie, und zwar nicht nur, weil er damit die Misshandlung seines Sohnes rechtfertigt: „Ein Kind darf nicht eigenwillig sein! Ein Kind bedarf der Erziehung, Amalie!“ (PH 41). Der Text zeigt auf beklemmende Weise, dass die Entwicklung eines ‚eigenen WillensWille, freier Wille‘ nicht nur durch die Erziehung, sondern vor allem durch die als für die zeitgenössische Großstadtgesellschaft typisch erscheinenden ärmlichen Lebensumstände gehemmt wird.4

Unter diesen Voraussetzungen besitzt der Mensch an sich, der infolge der DeterminationDetermination durch Milieu, Vererbung und Zeitumstände seine AutonomieAutonomie, seine WillensfreiheitWille, freier Wille und seine moralische Vorbildlichkeit einbüßt, offenbar keinen besonderen Wert mehr. Das Ende des Textes beschreibt den vollkommen würdelosenWürdelosigkeit Tod des Niels Thienwiebel („Erfroren durch Suff!“; PH 63): „Und seine Seele? Seine Seele, die ein unsterblich Ding war? Lirum, Larum! Das Leben ist brutal, Amalie! Verlaß dich drauf! Aber – es war ja alles egal! So oder so!“ (PH 63). Die Erzählinstanz lässt keinerlei EmpathieEmpathie, keinerlei Bedauern erkennen. Weder inner- noch außerfiktional wird die Würde der Figuren durch literarische Mittel wiederhergestellt. Es bleibt vielmehr ein Eindruck entschiedener Negativität zurück.5

Unter Rückgriff auf die naturalistische Programmatik lässt sich dieser Eindruck jedoch zumindest teilweise relativieren. Einen besonderen Wert besitzt der Mensch schon als explizit bevorzugtes ObjektObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit des dichterischen Beobachterblicks. Außerdem leugnen die naturalistischen Programmatiker keineswegs die Würde des Menschen, lediglich ihre religiöse oder metaphysische Begründung wird abgelehnt. Begreift man die literarische Schilderung der menschenunwürdigen Lebensbedingungen als Aufdeckung von MenschenwürdeverletzungenMenschenwürdeverletzung, rückt der sozialkritische Impetus des Textes in den Fokus. Der schonungslose Blick auf das würdeloseWürdelosigkeit Resultat der DeterminationDetermination leugnet nicht die Menschenwürde an sich, sondern schärft den Blick für ihre Bedrohung und die Bedingungen ihrer Wahrung. Einen expliziten oder impliziten Hinweis darauf, was genau Menschenwürde dabei bedeutet, bleibt Papa Hamlet allerdings schuldig.

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