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Die Familie als potenzielles Schlachtfeld

»Ich möchte Ihnen unsere Geschichte schonungslos offen erzählen«, betont Brigitte. »Und danach sage ich Ihnen, was ich von Ihnen in Bezug auf meinen Sohn möchte.«

Ich habe es für heute endgültig aufgegeben, in dieser Begegnung mit Markus und seiner Mutter noch die Spielregeln einer Therapiesitzung realisieren zu wollen. Ich muss mir sogar meine Aufregung eingestehen, vielleicht anhand der Geschichte, wie sich Markus und seine Familie im Strom ihrer Biographie durch diese Gesellschaft bewegt haben, Einblicke in jenes verschraubte Übergangsfeld zu bekommen, in dem Gesellschaft und Individuum miteinander im Ringen liegen. Also lehne ich mich jetzt einfach zurück und folge dieser Einladung, ihren inneren Seziersaal zu betreten, um der anatomischen Freilegung der Misere beizuwohnen. Möge kommen, was da wolle. Wir haben noch knapp eine halbe Stunde Zeit.

Georg, der als Soziologe nicht wirklich adäquat Fuß fassen konnte, ist über die Rolle des Familienerhalters im Familienleben zunehmend in den Hintergrund getreten. Nicht ganz unfreiwillig, denn irgendwie gelingt es ihm nicht, sich auf das neue Kind so unbeschwert einzulassen wie auf das erste. Eine feine Bruchlinie zeichnet sich in der Beziehung zwischen Georg und Brigitte ab. Als Georg für sieben Monate auf einem Kreuzfahrtschiff anheuert, sieht Brigitte in erster Linie den positiven wirtschaftlichen Aspekt dieses Engagements. Nach Georgs Rückkehr ist aus der Bruchlinie in der Beziehung ein solider Graben geworden. Markus ist inzwischen dreieinhalb Jahre alt, ein aufgewecktes Kleinkind, gewohnt, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und verwöhnt zu werden. Der Kindergartenbesuch steht vor der Tür. Die Eingewöhnung gestaltet sich als äußerst schwierig, weil Markus stark an seiner Mama hängt, der Kindergarten anderseits auf ein rasches Verabschiedungsritual drängt. Gott sei Dank bietet Graz diverse pädagogische Alternativen und nach zwei weiteren Versuchen findet sich nach einem turbulenten Jahr endlich eine feine, wenngleich teure, private Kindergarteninitiative. Markus steht einfach gern im Zentrum der Aufmerksamkeit, kann kaum zurückstehen und ist leicht gekränkt, wenn andere nicht so wollen wie er. Dann fällt es ihm schwer seine Enttäuschung zu kontrollieren. Er spuckt und beißt, was zwar nicht mehr seinem Lebensalter entspricht, aber ganz genau dazu passt, dass es ihm auch an jeglicher Ausdauer für Spiele fehlt; von den Anforderungen, die ein Puzzle an ihn stellt, ganz zu schweigen. Brigitte ist heilfroh und Georg bezahlt es zähneknirschend, dass in der endlich gefundenen Einrichtung alles »spielerisch« und vom Kind selbst reguliert abläuft.

»In Wirklichkeit war das eine Art Disneyland-Diktatur, die dort gelebt wurde. Die Pädagoginnen waren eher Ringrichterinnen, die in erster Linie darauf geachtet haben, dass nichts passiert und sonst einfach nur ›Angebote gesetzt haben‹, wie das so wunderschön geheißen hat. Die Kinder sollten alles frei wählen. Gemeinschaft, sich anpassen, das war ganz und gar kein Thema. Es ging nur um Kreativität und Selbstentwicklung«, zieht sie mit recht bitterem Ton das Resümee. »Das sind doch auch sehr gut klingende Worthülsen. Finden Sie nicht? Und ich bin da voll dahintergestanden. Das war für mich wirklich die ideale Umgebung für Markus. Im Vorschuljahr hat er dann seine Position gefestigt und ist auch wirklich gern dorthin gegangen.« Die Entspannung an der pädagogischen Front wird im familiären Feld allerdings von einer gegenteiligen Entwicklung konterkariert. Georg und Brigitte weichen einander schon seit geraumer Zeit immer mehr aus. Brigitte hat einen schlecht bezahlten Zwanzig-Stunden-Job als Schreibkraft bei einem Anwalt und versorgt den Haushalt. Georg arbeitet, um den Finanzbedarf der Familie decken zu können, mit steigenden Überstunden im Gastgewerbe. Ihr gemeinsamer Berührungspunkt ist Markus, den sie beide als emotionales Zentrum sehen. Doch die Wochenenden verbringt Brigitte zunehmend mit Markus bei ihren Eltern irgendwo zwischen der Pack und Wolfsberg. Georg besucht dann häufig seine Eltern in Oberösterreich. Wenn er Markus mitnehmen will, gibt es zumeist Streit. Die Trennung wird schließlich unabwendbar. Doch statt die gewünschte Entspannung herbeizuführen, verschärft sich die Situation dramatisch. Brigitte ist der Ansicht, dass ihr Sohn zuallererst zu ihr gehört, was ihr zu diesem Zeitpunkt auch niemand außer Georg ernsthaft streitig machen will. Wenn ihm sein Bekennen zum Sohn wirklich ernst ist, soll Georg doch die Familie wie bisher großzügig und nicht nur gesetzeskonform finanzieren. Hierin vertritt Georg eine eindeutig gegenläufige Meinung. Er will, wenn er den Sohn nicht ausreichend betreuen darf, nicht mehr als vom Pflegschaftsgericht festgelegt berappen, was ihm zu diesem Zeitpunkt wiederum niemand außer Brigitte ernsthaft streitig macht. Beide finden ausgezeichnete Sekundanten in Gestalt kampfbereiter juristischer Beistände und Markus mutiert unversehens vom bestgeförderten zum übelst umstrittenen Kind. Brigitte nutzt ihre Macht als beschneidender Zensor in Georgs Zugang zum Sohn. Georg wiederum dreht virtuos an der Stellschraube Geld. Dieses wird vor allem auch deswegen knapp, weil die vielen Anträge, Verhandlungstage, Vor- und Nachbesprechungen, die Telefonate mit den Rechtsanwälten, die zu erstellenden Gutachten und deren Erörterungen und all die anderen Rechtsmittel und Kosten von Nebenverfahren Unsummen verschlingen. Georgs Eltern, die in Brigitte ein purpurrotes Tuch sehen, unterstützen den Kampf ihres Sohnes gegen die entfremdende, böse Mutter, die sich um ihren ersten Enkel wohl nicht ausreichend gekümmert hat. Und auch Brigittes Familie verkauft schließlich, was an Wald und Wiese vorhanden ist, um ihrer Tochter und den Enkel vor dem Zugriff des feindlichen Vaters zu schützen. Brigitte arbeitet jetzt Vollzeit und immer noch schlecht bezahlt, was das Alltagsleben, mit allen als Alleinerzieherin auch allein zu bewältigenden Anforderungen, nicht erleichtert, sondern für gefühlten Dauerstress und Zeitdruck sorgt. »Es war wie ein jahrelanges Leben in einem schwarzen Tunnel«, beschreibt sie es. »Bei jedem Gang zum Postkasten diese Verkrampfung, ob wieder ein neues Anwalts- und Gerichtsschreiben gekommen ist. Bei jeder Kindesübergabe die innerliche Spannung, ob es wieder zu einer Feindseligkeit kommt. Es war einfach verrückt. Wirklich verrückt!« Und in all dem Wahnsinn war Markus genau dazwischen, eingeklemmt, wie zwischen zwei Mühlsteinen, die sich gegengleich bewegen. Niemand hat dem Einhalt geboten. Es ging immer ums Rechthaben, auch wenn sich das Verfahren über Jahre zog und von den realen Sachverhalten längst überholt wurde. »Und dieses viel zitierte Kindeswohl, das können Sie mir glauben, ist dabei vollkommen unter den Tisch gefallen. Dafür Abhilfe zu schaffen, was dieser ganze Wahnsinn für Markus und sein alltägliches Kinderleben bedeutete, hat sich kein Mittel gefunden.« Brigittes Bitterkeit ist auch heute, da Markus selber schon erwachsen ist, noch deutlich zu spüren.

Dass das Kindeswohl hier irgendwie gröblich, und zwar in grundsätzlicher, weit über die Trennung der Eltern hinausreichender Form beeinträchtigt sein muss, ist auch Markus’ Klassenlehrerin klar. Markus fehlt es an Konzentration und Aufmerksamkeit. Noch in der zweiten Klasse gelingt es ihm nicht, den Drang, auf die Toilette zu gehen, über die Dauer einer Schulstunde hinweg sicher zu regulieren. Selbstbeherrschung ist überhaupt keine an ihm hervorstechende Eigenschaft. Wenn er etwas mitzuteilen hat, tut er es ungefragt und reagiert auf jede Begrenzung beleidigt oder wütend. Auch fehlt es ihm an der notwendigen Ausdauer, um ein Arbeitsblatt wirklich zu Ende zu bringen, was sich nicht mit dem reklamierten erhöhten Bewegungsdrang erklären lässt. Auch die ihm erteilte Erlaubnis, in der Klasse herumzugehen, bewirkt keine Veränderung zum Positiven. Es sieht so aus, als könne er die ganzen in ihm aufkeimenden Bedürfnisse und Impulse selber nicht wirklich unter Kontrolle halten. Mit viel Nachsicht und pädagogischer Bemühung kommt Markus dank seiner augenscheinlich hohen intellektuellen Kapazität noch erfolgreich durch die Volksschule.

Eine neue Chance und Aussicht auf eine völlig veränderte Lebenssituation ergibt sich, als Brigitte das Haus ihrer Großmutter in ihrem Heimatort erbt und ihr eine ehemalige Schulfreundin beim Maturatreffen eine Vertrauensposition anbietet: im Speditionsbetrieb, den sie gerade gemeinsam mit ihrem Bruder vom Vater übernommen hat. Brigitte ist in Aufbruchsstimmung. Das neue Szenario verlangt zwar großen zukünftigen Einsatz, verspricht jedoch gleichzeitig, viele Probleme zu lösen. Der neue Wohnort rückt sie und Markus gute weitere achtzig Kilometer aus dem Umkreis von Georg weg. Zwar bedeutet der Arbeitsplatzwechsel an den Klagenfurt vorgelagerten Unternehmensstandort fast sechzig Kilometer täglicher Fahrtstrecke in eine Richtung. Doch erscheint das Leben im eigenen Haus und in unmittelbarer Nähe zu ihren sie unterstützenden Eltern im Vergleich zur Enge der Grazer Wohnung paradiesisch. Und Markus würde in das fünfzehn Kilometer entfernt liegende Gymnasium gehen können, in dem ein Cousin von Brigitte gerade einen Posten als Lateinlehrer übernommen hat. Das Leben würde mit diesem Schritt sicher besser werden und Markus könnte durch die Naturnähe des Wohnorts vielleicht von selbst zu mehr Sportlichkeit finden und abnehmen. Denn Gewicht beginnt hier an der Schwelle zur Pubertät bereits ein am Horizont aufleuchtendes Thema zu werden. Markus hat entdeckt, dass Essen beruhigt, und zwar wirklich zuverlässig, wenn man nur genug und möglichst kontinuierlich isst. Stress hat er im Umfeld des Elternstreits und der mannigfachen Schulanforderungen von Einfügung, Leistungserbringung und ungewohnter Selbstbeschränkung genug. An Süßes oder vollmundige Snacks durchgehend heranzukommen, ist für ihn kein wirkliches Problem.

Georg schäumt. Wie nicht anders zu erwarten, fasst er die Verlegung des Lebensmittelpunkts von Brigitte und Markus als gezielten Schlag gegen ihn und seine Bemühungen auf, seine Vaterschaft zu leben. Von den Gerichten ist er als Vater ebenfalls schwer enttäuscht, fühlt sich benachteiligt und unter ungerechtfertigtem Beweiszwang, während Brigitte Mutterbonus kassiert. Gerade jetzt erscheint es ihm wichtig, für den heranwachsenden Buben als Vater ausreichend in Erscheinung treten zu können. Die beiden Wochenenden, die ihm zugestanden sind, vergehen jedes Mal rasend schnell. In der Verzweiflung des ungerechtfertigt Weggesperrten spielt er die männlich kameradschaftliche Allianzkarte etwas zu laut, indem er Markus darin bestärkt, bereits selbständig zu sein, und seinen Wünschen großzügig nachkommt. Beim Vater ist High Life vom Feinsten angesagt: Kino oder Erlebnisparks, aufbleiben, so lange es Spaß macht und gemeinsames Videospielen bis die Fingergelenke krachen. Essen darf Markus beim Vater natürlich auch, was er will. Wenn so wenig Zeit zur Verfügung steht, muss einfach alles hineingepackt werden, was Spaß macht. Das ist eigentlich auch verständlich. Genauso, dass die kostbaren Wochenenden durch Schularbeitsvorbereitungen oder Referatsrecherchen nicht beeinträchtigt werden dürfen. Dieser Teil bleibt Brigitte. Ebenso die vielen vergeblichen Versuche auf Markus einzuwirken, endlich mehr Sorgfalt auf seine Selbstorganisation aufzuwenden. Er ist zwar nach Meinung seiner Lehrer ein kognitiv durchwegs sehr begabtes Kind. Doch seine Mängel in den Bereichen Selbstmanagement, Aufgabenorganisation, Ausdauer, Aufmerksamkeit und Konzentration sind echte Dämpfer und nicht dazu angetan, ihn im Lehrkörper Beliebtheitsmedaillen gewinnen zu lassen. In der Klassengemeinschaft gilt er als Kasperl und Riesenbaby, wird in der Unterstufe geduldet und ist zu einem sozialen Kleeblatt mit zwei anderen Jungs verbunden. Als beide Burschen in der Oberstufe in weiterführende technische Schulen wechseln, findet sich Markus in der fünften Klasse unversehens in einer Außenseiterposition wieder. Sein Herumhampeln kommt unter den Gleichaltrigen nicht mehr an. Die weiteren zehn Kilogramm, die er während der Sommerferien zugelegt hat, zementieren ihn in der Klassenchronik endgültig als »Fettsack«. Wer will schon dauernd »Fettsack« genannt werden, noch dazu in allen Kanälen der Social Networks, die das Schulleben so bietet. Und wer will in einer Zeit, in der das andere Geschlecht zum ersten Mal interessant wird, sich mit einem »Fettsack« sehen lassen. Der Ton in der Peergroup ist äußerst rau, die Umgangsregeln nicht unbedingt dem Humanismus abgeschaut. Während der nächsten Jahre wird jeder Wachstumsschub, der Markus schließlich Ende der siebenten Klasse bereits seinen Vater einholen lässt, von einem mindestens gleichwertigen Breitenwachstum ausgeglichen. Die Ernährungspyramide kennt er nicht nur aus dem Biologieunterricht auswendig. Dennoch vergeht keine Pause, in der er sich nicht aus dem Süßigkeiten- oder Getränkeautomaten bedienen würde. In den höheren Klassen holt Markus, wenn die Wartezeit auf den ersten Frustdöner nach der Schule zu lange erscheint, in den umliegenden Bäckereien nach, was er morgens im Vorbeigehen vergessen hat. Schrittweise gibt Markus auf. Er beginnt, sich zurückzuziehen. Längst hat er sich auf kluge Absenzen-Planung verlegt, um die soziale Ächtung erträglich zu halten. Das Thema Gesundheit steht jetzt bereits mit Leuchtschrift als Warnsignal an der Wand. Häufige offizielle Untersuchungstermine, Brigitte, die ihm die Stange hält, und ihr Cousin, der im Lehrkörper um Verständnis für die Situation von Markus wirbt, erzeugen eine Balance, die es Markus ermöglicht, in allen Fächern den Abschluss zu schaffen. Mehr will er zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr, eher weniger, am besten in Ruhe gelassen werden. Am wohlsten fühlt er sich in seinem Zimmer an seinem PC. Da kann er in Spielewelten abtauchen und sich mit anderen vernetzen. Da sieht ihn keiner und jeder respektiert ihn, denn er hat Meisterschaft in all den virtuellen Welten erlangt. Auf den verschiedenen Levels versteht er es, sich leichtfüßig zu bewegen. Brigitte ihrerseits hat lange Arbeitstage, verdient jetzt aber um vieles besser, ja hat sogar Karriere gemacht, was natürlich »All In«, also keine extra Überstundenabgeltung bedeutet, doch zumindest vieles ermöglicht. Wie den letztendlich unergiebigen Gitarre-Unterricht, das nachfolgende Schlagzeug und auch ein glänzendes Saxophon. Allesamt Versuche aus einem vagen Interesse ein Talent heranzuziehen. Aber Üben war noch nie Markus’ starke Seite. Das aufkeimende Gefühl von Anstrengung gemischt mit Langeweile hat schließlich allen Versuchen, musisches Talent in solide Instrumentenbeherrschung zu transformieren, das Genick gebrochen. Einfach zu wenig Reiz! Da ist eben das Spielen am PC, der Spielkonsole, dem Handy oder wo auch immer ganz anders geschnitzt. Selbstversorgung ist für Markus kein Problem, solange nur genügend Tiefkühlpizza, Lasagne oder andere Mikrowellenfertiggerichte zu Hause gebunkert sind. Im schlimmsten Fall lässt er sich etwas liefern. Eigentlich ist ihm sogar lieber, wenn Brigitte spät heimkommt. Und seinen Vater, der ihm nun auch immer wieder ins Gewissen zu reden versucht, meidet er inzwischen auch ziemlich konsequent. Das früher so harmonische und geeinte Gefüge zwischen Mutter und Sohn kommt zunehmend unter Druck. Brigitte versucht, Markus’ Internetsucht zu begrenzen und erleidet in dieser Konfrontation eine Niederlage. Markus ist bereit, in diesem Fall zum Äußersten zu gehen. Im heftigen Streit kommt es sogar zu einem körperlichen Übergriff. Beide sind erschüttert, aber ratlos. Brigitte zieht es vor wegzusehen. Der unausgesprochene Deal bleibt, dass Markus seine Spielsucht so weit kontrolliert, dass er ausreichend für die Matura lernt. Diese schafft er mit Mühe, was die Gesamtsituation jedoch keineswegs bessert. Markus verweigert jegliche eigenständige Lebens- und Zukunftsplanung. Er fühlt sich bereits angekommen. Für alles Weitere fehlen ihm Antrieb und Vision. Er bleibt einfach zu Hause. Weder für einen weiteren Bildungsgang noch für die Aufnahme irgendeiner Tätigkeit ist er zu begeistern. Meistens spielt er die ganze Nacht, geht gegen fünf oder sechs Uhr morgens, knapp bevor seine Mutter aufsteht, zu Bett und beginnt am mittleren Nachmittag wieder zu spielen. Brigitte ist verzweifelt. Georg, zu dem sie nun zum ersten Mal wieder außergerichtlichen Kontakt aufgenommen hat, ebenso. Jetzt, nach Jahren und unter dem Druck der Bedrohlichkeit der Situation für ihr Kind, beginnen Georg und Brigitte eine gemeinsame Familientherapie. Damit gelingt es ihnen, zumindest als Eltern geeint aufzutreten. Markus kommt geringfügig in Bewegung und aus seinem Bau heraus. Er stimmt der Magenbandoperation zu. »Er würde schon gerne ein anderes Leben haben, nur wisse er nicht wie«, fasst Brigitte die Ergebnisse der vorbereitenden Gespräche mit dem Chirurgen zusammen. Der hat sie darauf hingewiesen, dass Markus seinen Beitrag leisten müsse, um aus dieser Chance eine dauerhafte positive Lebensveränderung zu machen.

Während der letzten Worte seiner Mutter löst Markus seinen Blick endlich vom Teppichmuster, das sich nun wohl schon in sein Gehirn eingebrannt hat, und schaut mich fragend an.

Ich spüre einen soliden Kloß im Magen.

Die spürbare Verunsicherung

Trotz aller zu bescheinigender Großartigkeit des Erreichten beschleichen viele Menschen zunehmend kummervolle Nachdenklichkeit und ernsthafte Bedenken bezüglich der Zukunft. Wie gemunkelt wird, lauert die nächste Weltwirtschaftskrise bereits hinter der nächsten Ecke. Daraus resultiert ein seltsamer Anachronismus. Wir befinden uns gleichsam in einer beständig um sich selber kreisenden und sich selbst bespiegelnden, feiernden Salongesellschaft, die ihre Schöngeistigkeit wie ihren üppigen Lebensstil hinter gut verschlossenen Türen und abgehoben vom Rest der Welt zelebriert, während draußen die Pferde der apokalyptischen Reiter immer lauter und nervöser mit ihren Hufen scharren. Wenn murmelnde Besorgnis die Feststimmung zu trüben droht, findet sich immer wieder jemand, der den Musikern Geld zusteckt, damit sie lauter spielen. Auf gefälligen Nebenschauplätzen lassen sich dann zur Ablenkung heftige Diskussionen führen, erregte Stellungnahmen verfassen und Kommissionen einberufen, die dann wiederum allgemeine Befragungen des Volkes oder zumindest die von Anrainern als demokratische Referenz empfehlen, zu so wesentlichen Themen wie der Ausweitung von Fußgängerzonen. Und wer dann noch das Bedürfnis hat, sich an wesentlichen Inhalten der Gesellschaftsentwicklung zu beteiligen, kann als Meinungsbildner in gesamtnationalen, über angeblich politische Medienformate geleitete Diskussionen und Abstimmungen versuchen, zur Lösung von so wesentlichen Fragestellungen beizutragen, wie jener, ob ein veganes Hochzeitsbuffet der Feier zuträglich sei oder ob man einem in flagranti erwischten Partner noch eine Chance geben solle. So sind dann alle mit sich selber beschäftigt: Jene, die drinnen im Salon der postmodernen Technologiegesellschaft sitzen, mit der Hochdrehung ihrer Selbstoptimierung. Und jene, die draußen die zunehmende Verwüstung des Globus durch Naturkatastrophen, Verpestung von Wasser und Luft und soziale Ungleichheit erleben, immer mehr mit blankem Überleben.

Der Spielplan der reichen Technologiegesellschaften führt zu einer immer schärferen Polarisation der Welt, die noch dazu über das Internet live in jede noch so entlegene Jurte, windschiefe Plattenbausiedlung oder mondänes Chalet übertragen wird. Die Musik im Festsaal lauter zu drehen, kann nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass sich immer mehr schrille Untertöne und Missklänge beimischen. Die Tänzer wirken zunehmend bemüht und eckig, längst haben die Pirouetten, mit denen sie die Zuschauer beeindrucken wollen, ihre Eleganz verloren, sind zu lächerlichen Gesten einer morbiden Grundstimmung geworden. Angst vor der Zukunft, die mit lauter, poltriger Festtagstimmung in Schach gehalten werden soll, ja das blanke Entsetzen dessen, der keine Alternative kennt, als am weiteren Untergang mitzubauen, ist in den überschminkten Augen zu lesen. Die Weltwirtschaftskrise als einmaligen bedauerlichen Fauxpas der globalen Finanzmärkte zu deuten, gelingt nicht einmal dem chronisch Naiven. Und die Behauptung, dass es Lehman Schwestern besser gemacht hätten als Lehman Brothers, steht auf dünnen Beinen. Zu sehr stehen die beiden Geschlechter bei aller sonstigen Ungleichheit im engen Schulterschluss ihrer psychischen Struktur, wenn es um Gier und Macht geht. Es wird gemurmelt, dass es der jetzt bereits im jungen Erwachsenenalter angekommenen, nächsten Generation als erster seit dem Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich schlechter gehen wird als ihrer Elterngeneration. Angesichts der Mietkosten für Wohnraum und sonstiger Grundkosten in Relation zu Einstiegsgehältern wird klar, dass es zum seltenen Luxus geworden ist, ein wirtschaftlich selbständiges Leben mit der früher üblichen Aufstiegsperspektive zu führen. Glücklich kann sich schätzen, wer seinen Standard zu halten vermag. Der verdeckte Abstieg eines Mittelstandes, der die Anreizperspektive verloren hat, scheint gerade stattzufinden, wie hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wird. Junge Akademiker, natürlich mit Auslandssemester und einer Palette von Zusatzqualifikationen, bleiben am besten gleich in ihrem Wohngemeinschaftszimmer und stellen sich auf Praktikantenstatus bis zumindest Anfang dreißig ein. Irgendwie scheinen viel zu viele Menschen für viel zu viele falsche oder bereits überholte Berufsbilder ausgebildet zu werden und müssen diese Passungsdifferenz mit eigenem Lebensleistungsverlust und mühseliger Nachschulung bezahlen. Als neuer Selbständiger kann man ganz in der Manie des amerikanischen Traums sein Glück versuchen, sollte dabei allerdings mitbedenken, dass man im Gegensatz zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten unter europäischen Verhältnissen ein üppiges, beschränkendes Regelwerk im Tornister mitschleppt. Auf einem immer weiter schrumpfenden Markt mit vormals sicheren Jobs wird heute sogar dort mit der Etikette »sei Dein eigener Unternehmer« geworben, wo früher gesunde Identifikation mit dem Arbeitsplatz als Angestellter gereicht hat. Dass die ganzen Vorteile des »freien Unternehmertums« auch gehörig lahmende Pferdefüße gerade für jene bereithalten, die nicht unbedingt als schillernde, risikobereite Entrepreneur-Persönlichkeit geboren wurden, erleben dann viele auf ihrem steinigen Weg. Tatsächliche existentielle Sorgen muss man sich um einen nicht unbedeutenden Teil der gerade heranwachsenden Kinder machen, die als verhaltensoriginell oder auch emotional variabel, lange hochgehalten und als eventuell verkappte Genies der Zukunft uminterpretiert werden; wenn man hochrechnet und ihre Defizite im Bereich von Grundkompetenzen schonungslos anspricht, sogar ernsthafte Sorgen, und zwar durchgehend, nicht nur in rasch weggedrängten Stunden tiefer Erschöpfung. Das alles schafft Frustration, bei zunehmend vielen Menschen sogar zunehmend tiefe. Also haben wir zur Ablenkung diese Spaßgesellschaft erfunden. Die hat für jeden etwas bereit, womit sich Begehrlichkeiten erzeugen und Unterhaltung erzielen lassen. Und ganz nebenbei hat sich unter diesem Titel eine Drift in Richtung »leichter Leben« ergeben. Denn seit es um Spaß geht, wirkt der auf Hingabe, Verfeinerung und ausdauernde Beschäftigung gründende und sich nur auf diese Weise einstellende Genuss wie eine altmodische, mühevolle Verwandte, die den Anschluss an die neue Zeit verpasst hat. Und weil es sich auf diesem Vereinfachungsfahrwasser, auch wenn es flach ist, so fein segeln lässt, geht es heute auch nicht mehr um Leistung in dieser Steigerungsgesellschaft, die »immer höher, immer größer und immer mehr« als allein selig machende Zielsetzung suggeriert, sondern stattdessen um Erfolg. Das scheint zugegebenermaßen ein feiner, fast haarspaltender Unterschied zu sein, ist jedoch genauso fundamental, wie ein zarter Riss in einem Raumanzug. Denn wenn alleine der Erfolg gesehen wird, und nicht mehr auf welche Weise er erzielt wird, öffnet dies der dunklen Seite hemmungsloser Konkurrenz und bösartigem Aus-dem-Feld-Schlagen jede Tür. »Schau, dass du immer vorne bist und gesehen wirst«, sagen wir schon unseren Vorschulkindern, um sie richtig in die Wertekultur der Erwachsenen einzuführen. Und statt uns mit dem sperrigen und mühevollen Erwerb von Wissen zu belasten, setzen wir auf Infotainment, Aufbereitung von Themen in kleinen, gefälligen Informationsbruchstücken in aufregender und unterhaltsamer Verpackung, möglichst linear in der Darstellung. Nur bitte nichts Komplexes, denn das könnte mühevoll und damit sogar fad werden und unsere immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspannen überfordern, wenn da nicht am besten alle paar Sekunden ein Knaller, der uns einen Kick vermittelt, mitverpackt ist. Dass wir uns damit nur mehr sehr oberflächlich mit den uns umgebenden Dingen, auch jenen, die unser Leben bestimmen, auseinandersetzen, tut nichts zur Sache und ist vielleicht auch nicht ganz unerwünscht. Wer will schon Tiefe? Und wer will denn dafür noch Zeit aufwenden? Den mündigen Bürger verankern wir lieber per Werbespot im gesellschaftlichen Bewusstsein, auch wenn er nur eine Pappfigur ist.

Nur den Kindern, die noch ganz frisch auf dieser Welt sind und ihre Spielregeln verstehen wollen, fällt das ganze widersprüchliche Treiben auf. Gerade die sensiblen und stark spürenden, jene, die zukünftig zu den Besten zählen könnten, werden unruhig und schließlich laut. Denn sie fühlen sich nicht aufgehoben, sondern im Stich gelassen. Sie merken, dass sie der ganze Gesellschaftsbetrug dann, wenn sie einmal ihre Kinderstuben verlassen haben werden, mit voller Härte treffen wird. Man muss augenscheinlich ein Kind sein, um zu spüren, dass hier etwas bereits gefährlich grob aus der Balance gerutscht sein muss, wenn die reichsten zweiundsechzig Personen auf diesem Erdball heute zusammen bereits über mehr Ressourcen verfügen, als dreieinhalb Milliarden Menschen gemeinsam besitzen.

Bei meinen Vorträgen landauf und landab habe ich reiche Erfahrung damit gemacht, was es bedeutet, einerseits davon zu sprechen, dass dies angeblich die beste aller Welten sein soll, und anderseits die Misere unserer Kinder als Krise unserer Gesellschaft aufzuzeigen, durchwegs belegbar mit Zahlen, aber noch viel wichtiger mit realen Referenzerfahrungen jedes Einzelnen im Saal. Der erste Punkt führt für sich genommen zu Widerspruch bei vielen, die dann nur stirnrunzelnd auf das Nord-Süd-Gefälle unserer Welt und seine Sprengkraft verweisen, der zweite Punkt hingegen zeitigt konsensuelle Betroffenheit und Empörung.

Auf Ersterem beharre ich trotzdem, denn es sind eindeutig wesentlich schlimmere Alternativen vorstellbar. Und gerade der Common Sense des offiziell angestrebten Wertekanons unserer Gesellschaft weist ja als Entwicklungsweg, wie bereits beschrieben, in die richtige Richtung. Beim Zweiten teile und unterstütze ich die Empörung, verbitte mir jedoch jegliche Form von Defätismus mit Rückzug in die Schrebergartenidylle samt neuem Heimwerkerprojekt als beschäftigender Ablenkung. Hier möchte ich Tatkraft sehen und Handlung erleben!

Wir alle sind aufgerufen, unseren Wertekanon auch wirklich zu leben und an unsere Kinder weiterzuvermitteln. Dies gilt insbesondere für den Wert der Freiheit, der, wie mir scheint, im Verhältnis zwischen Eltern, Pädagogen und Kindern oft missverstanden wird.

Im Fall der Freiheit handelt es sich für unsere postmoderne westliche Technologiegesellschaft um einen unhinterfragbaren Grundwert, der in allen Menschen- und Kinderrechtskonventionen eine Basisforderung ist. Als freier Westen haben wir nach dem Fall der autokratischen Regime im Osten eine enorme historische Stärkung unseres kollektiven Selbstbewusstseins bezüglich des Werts der Freiheit erleben dürfen. Wir haben es immer gewusst, haben die Rohrstaberl-Mentalität und die lange Zeit nur leise hinterfragte g’sunde Watschen aus unserem Gesellschaftsleben verbannt und unsere Hoffnung in das Konzept des erhobenen Hauptes des freien Menschen gesetzt. Mit Recht, wie wir gesehen haben, als endlich die autoritären Schreckensregime hinter dem Eisernen Vorhang zerbröselten und wie Sandburgen im Gezeitenwechsel verschwanden. Und der ehemalige Osten hat ohne Atempause begonnen, sich unsere Seinsweise und Wertewelt als neues Kleid begierig überzustreifen. Gibt es eine größere Bestätigung als jene, wenn andere einem nacheifern und einen sogar imitieren wollen?

Auch in Sachen Selbstverwirklichung kann uns keiner nachsagen, dass wir dieses Thema nicht mit Nachdruck realisieren würden. Vielleicht geht sogar unsere Veranlagung zum Homo ludens mit vielen von uns durch, wenn wir meinen, wirklich alles unbedingt ausprobieren zu müssen, und wenn so mancher sich zur eigenen schillernden Selbstinstallation aufschwingt. Das dürfte einer Begriffskonfusion zwischen Ego und Selbst geschuldet sein. Doch sollten wir hierbei nicht allzu streng sein, denn als Spezies befinden wir uns ja auf einer ständigen Entwicklungs- und Anpassungsreise in unserer spezifischen Umwelt. Verirren und Verlaufen gehören eben auch dazu, selbst wenn die bedauerlichen Exemplare mit egomanem Selbstentwurf, der sie von tiefer Beziehungsfindung mit anderen Menschen ausschließt, nur Belustigung und Abschreckung produzieren. Man riecht ihnen eben bereits hundert Meter gegen den Wind an, dass es sich hierbei mehr um eine Sackgasse mit Ablaufdatum im persönlichen Ableben handelt, als um eine taugliche Variante mit erfolgversprechender Breitenwirkung für unsere Spezies. Dennoch sind Respekt und Achtung vor der eigenen Wahl auch für diese Form der freien Selbstverwirklichung aufzubringen, zumindest solange sie anderen nicht schadet.

Fassen wir es beherzt und klar zusammen: Es steht alles zum Besten! Das Projekt Menschheit lässt sich mit Blick auf das Datenblatt des Erreichten und vor der Blaupause der Pyramide unserer Grundbedürfnisse doch wohl als voller Erfolg verkaufen und ein etwaiger Erbauer des Weltenalls kann sich beruhigt in seinem Polstersessel zurücklehnen. Zucker und Fett sind erstmals gefährlicher als Schießpulver. Im Verhältnis zu Vorgenerationen mit ihrer Fähigkeit zu eruptiver kollektiver Heftigkeit bis hin zu Hexenjagd und Lynchjustiz wirken wir vielleicht als etwas gleichgültig oder auch als in der Fühltiefe im Spektrum eingeschränkt, sind dafür aber sanftmütig und zartbesaitet. Wir packen heute nicht mehr unseren Picknickkorb und unsere Kinder, um als sonntägliche Nachmittagsvergnügung einer Handvoll Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen, ein paar Räderungen und den Enthauptungen der Verurteilten der letzten Woche in Jahrmarktstimmung auf der Blutwiese beizuwohnen. Als Relikt dieser Sensationslust haben sich ein paar von uns gerade noch die Angewohnheit erhalten, Unglücksfälle und Verletzte rasch mit ihrem gezückten Handy einzufangen.

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