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Читать книгу: «Aus smarter Silbermöwensicht», страница 4

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Schulpflicht

Anjas Dienst war fast zu Ende, als Marga auf sie zustürzte. »Du, es tut mir echt leid, dass ich dich heute Morgen so angepampt habe, aber bei mir geht‘s zuhause drunter und drüber.«

Anja konnte sich nicht so recht vorstellen, wie es bei Marga drunter und drüber gehen sollte, da sie kinderlos, alleinstehend und eine perfekt organisierte Frau war.

»Ist okay, vergiss es. Das kann jedem passieren, dass er mit dem falschen Bein aufsteht.«

Marga sah sie prüfend an. »Sag mal Anja, ich bekomme unerwarteten Besuch von meiner Schwester aus München, könnten wir morgen die Schichten tauschen? Wenn du meine Spätschicht übernimmst, kann ich mich besser um sie kümmern.«

Das war also der Grund für den plötzlichen Gesinnungswandel. Anja verkniff sich ein ›Ach, daher weht der Wind‹, schwieg und schaute Marga nur lange an. Ein wenig zu lange vielleicht, bevor sie sagte: »Meinetwegen« und ging.

Dieser Schichtwechsel passte ihr überhaupt nicht, weil sie sich fest vorgenommen hatte, Phillip mehr im Auge zu behalten. Verflixt, erneut hatte sie ihre eigenen Interessen hintangestellt. Oder war sie schlichtweg zu feige, ›Nein‹ zu sagen?

Auf dem Weg zum Auto kreuzte Emma ihren Weg.

»Sag mal, ist alles okay? Marga hat eben groß heraushängen lassen, wie unkooperativ du wieder seist. Was ist mit euch beiden?«

»Das frage ich mich auch«, sagte Anja, »denn ich habe soeben auf ihren Wunsch hin den Dienst morgen mit ihr getauscht. So viel zum Thema Kooperation und Solidarität.«

»Au Mann, das klingt nicht gut.«

»Finde ich auch, aber was soll‘s. Ich muss jetzt nach Hause.«

»Und, erhol‘ dich ein bisschen. Ich hoffe, du kannst abschalten.«

»Danke, ebenfalls.«

Im Auto hielt Anja für einen Augenblick inne. Lange Zeit war sie nachts schweißgebadet hochgeschreckt, zitternd mit dem Gefühl Jakob stünde vor oder – noch schlimmer – hinter ihr, kurz davor, sie anzubrüllen. Ein anderes Mal schien er sie aus der Ferne zu observieren – wie eine stumme Bedrohung. Diese Momente wurden erfreulicherweise seltener, dafür war es nun Marga, die eine dunkle Kraft in ihren Träumen verkörperte und einem erholsamen Tiefschlaf im Wege stand.

Wieder kreisten Anjas Gedanken um die Begegnung mit Marga. Sie hatte sich von dieser falschen Schlange breitschlagen lassen. Nicht nur ihre eigenen Interessen hatte sie zurückgestellt, nein, auch die ihrer Kinder, was viel unverzeihlicher war.

Fest nahm sie sich vor, sich in einer solchen Situation nie mehr überrumpeln zu lassen, und schon gar nicht von einer Frau wie ihr. Warum hatte es Marga, deren Einkommen als gelernte Altenpflegerin bedeutend höher war als ihrs, auf sie abgesehen? Sie hatte als ältere mehr Mitspracherechte bei der Dienstplangestaltung und überdies einen guten Draht zur Pflegedienstleitung. Anja wünschte sich, selbstbewusster auftreten zu können, sich anderen gegenüber besser zu behaupten. Nachdenklich fuhr sie nach Hause.

Dort angekommen, erwarteten Clara und Phillip sie wie immer im Treppenhaus. ›Es gibt nichts Schöneres als freudig begrüßt zu werden, wenn man heimkommt‹, durchfuhr sie der Gedanke. Und genau aus diesem Grund mochte sie nicht gleich nach den Hausaufgaben fragen, sondern setzte sich in die Küche, atmete durch und versuchte Nacken und Schultern zu entspannen.

Nach zehn Minuten kam Clara und erzählte von einem Gespräch mit der Klassenlehrerin.

»Meine Leistungen in Deutsch und Mathe liegen oberhalb des…. Ich glaube ‚Regelstandards‘ hat sie gesagt und sie würde mir raten, zum Gymnasium zu gehen. Soll ich das?«

»Na klar, und ich bin überzeugt, dass du es schaffst, wenn du so weitermachst. Ich bin stolz auf dich und werde dich unterstützen, so gut ich kann. Aber, arbeiten musst du alleine. Du weißt, ich muss die Brötchen verdienen.«

»Warst du auch auf dem Gymnasium?«

»Nur kurze Zeit.«

»Warum?«

»Nach meiner Grundschulzeit sind wir wegen Opas Arbeit oft umgezogen, und es ist mir jedes Mal schwerer gefallen, mich an eine neue Klasse zu gewöhnen. Es dauerte nicht lange und meine Noten gingen den Bach runter. Ich hatte in der Klasse keine Freundinnen und wurde zunehmend gleichgültig.«

»Ich freue mich über gute Noten.«

»Das kannst du auch und ich freue mich mit dir. Weißt du, ich bereue, damals so schnell aufgegeben zu haben.«

»Was hast du aufgegeben?« Phillip hatte sich von hinten in die Küche geschlichen und dem Gespräch der beiden gelauscht.

»Die Schule und alles.« Wie gerne hätte Anja vermieden, mit Phillip über ihre eigenen Schulerfahrungen zu reden. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter mehrmals gesagt hatte, dass Kinder punktgenau die Schwächen ihrer Eltern orteten. Und genau so würde Phillip sich nicht mit ausweichenden Antworten zufriedengeben.

»Die kann man so aufgeben, die Schule? Das will ich auch.«

»Nein, kann man nicht. Alle Kinder müssen zur Schule gehen, es gibt die Schulpflicht bei uns. Nur, ich habe irgendwann aufgehört, mich anzustrengen, und das war ganz, ganz dumm.«

Bloß das Thema wechseln!, dachte Anja und erkundigte sich bei Phillip, was bei ihm gerade in der Schule dran war. Zum Glück bemerkte er das Manöver seiner Mutter nicht, sondern antwortete wahrheitsgemäß.

»Wir üben für die nächste Rechtschreibkontrolle. Das ist langweilig und nervig. Frau Vittel gibt uns immer so viele Übungsblätter. Die sollen wir dann ganz schnell die schwierigen Wörter in die Lücken übertragen. Manchmal stehen die Worte an der Tafel, manchmal müssen wir sie aus der Erinnerung aufschreiben. Da komme ich am Ende nicht mehr mit.« Phillip stand mit verschränkten Armen und leicht eingezogenen Kopf in der Mitte des Raumes und blickte teils trotzig, teils kleinlaut seine Mutter an.

»So, so. Wann schreibt ihr diese Rechtschreibkontrolle?«

»Übermorgen.«

»Mist, dann bleibt uns nur heute zum Üben. Morgen habe ich nachmittags Dienst. Komm, zeig mir mal deine Sachen.«

Wenig begeistert stapfte Phillip in sein Zimmer, um sein Heft zu holen. Es dauerte mehr als zehn Minuten, bis er mit einem zusammengeknüllten Papier in der Hand erschien.

»Ist dies der Text, den ihr bis übermorgen können müsst?«

»Und hier ist die Liste. Und hier der Text, aber der ist blöd!«

»Wenn ihr später Aufsätze schreibt, kannst du dir eigene interessante Sachen ausdenken. Nur, jetzt bei diesem Test kommt es auf die Rechtschreibung an, das heißt, wie man etwas schreibt und nicht was.«

»Das ist echt langweilig! ›Marie geht mit ihrer Oma einkaufen‹«, zitierte er abfällig. »Wenn die wenigstens in den Zoo gehen würden oder auf Safari. Diesen Text hier«, er deutete mit einer abfälligen Handbewegung auf das Papier, »haben wir schon drei Mal in der Schule geschrieben.«

»Drei mal denselben?«

»Nö, der war jedes Mal etwas anders. Aber jetzt sollen Oliver, Sven und ich die schweren Wörter noch einmal abschreiben oder mit den Eltern üben. Nur wir drei! Das finde ich gemein!«, empörte sich Philipp und kniff die Augen zusammen.

»Das hat Frau Vittel wahrscheinlich gut gemeint, damit ihr das übermorgen alle schafft.«

»Nein, die will mich ärgern.«

»Sei froh, dass ihr genau wisst, was ihr üben müsst!«, mischte sich Clara ein. »Unsere Lehrer sagen nur ungefähr, was drankommt.« Phillip hatte nur ein verächtliches Schnauben für seine Schwester übrig.

»Komm Phillip, kümmere dich nicht um Clara. Hol Stift und Papier. Wir fangen erst mal an.«

»Manno, so was Blödes!«, seufzte er und ging auffallend langsam in sein Zimmer.

Es dauerte eine Zeit, bis sein Füller einsatzbereit war und das Papier richtig lag. Dann ging es tatsächlich los.

Anja begann, Phillip die Worte zu diktieren, war aber schon nach den ersten zehn über die vielen Fehler erschrocken. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, da Phillip sehr empfindlich auf Kritik reagieren konnte. Seine Schrift war krakelig und verkrampft. Anja beschloss, nach der Hälfte zu pausieren, um ihn bei der Stange zu halten. Aber schon bald ließ Phillip den Kopf auf die Tischplatte fallen.

»Das ist ätzend. Ich kann nicht mehr!«

Wir hätten viel früher anfangen müssen, dachte Anja. Und, war die Liste überhaupt vollständig? Der untere Teil des Arbeitsblattes war abgerissen. Aber Phillip war schon aufgesprungen und aus dem Zimmer gerannt.

»Ich schau mir das jetzt mal an und dann machen wir nach einer Pause weiter, okay Phillip?«, rief sie ihm hinterher.

Aber Phillips Zimmertür war bereits ins Schloss gefallen. Wenigstens hatte er sie nicht wütend zugeschmissen, fand Anja.

Seb betrat das gemeinsame Wohnzimmer und blickte Anja fragend an.

»Verflixte Rechtschreibung. Ich weiß gar nicht, wo ich dabei mit Phillip anfangen soll und übermorgen schreiben sie einen Test. Seine Mitschüler wissen das vermutlich schon seit zwei Wochen.«

»Zeig mal her«, sagte Seb und sah sich Phillips Worte an. »Oh, je, da müssen wir uns wirklich etwas einfallen lassen.«

»Bloß was? Ich habe Angst, dass er ganz dicht macht, wenn ich ihm hier alles rot verbessere oder anstreiche.«

»Dann nimm doch grün!«

»Ha ha.«

»Tut mir leid, kleiner Scherz… stimmt… war nicht gut.«

»Und jetzt?«

»Warte mal, ich hab ‘ne Idee«, flüsterte Seb und war mit dem Text in seinem Zimmer verschwunden.

Nach zehn Minuten war er wieder da und weihte Anja in seinen Plan ein. Wenig später saßen Seb und Phillip gemeinsam vor Sebs PC.

»Hör zu Phillip, ich habe hier deinen Text abgetippt. Du darfst jetzt 5-7 Hauptworte markieren, entfernen und in eine extra Liste einfügen. Hier, schau mal, das geht so. Du entscheidest, welche Worte gelöscht werden. Dann drucken wir das Papier mit den Lücken aus, und du kuckst dir deine Liste supergenau an. Anschließend füllst du die Lücken aus der Erinnerung aus. Für jedes richtige Wort gibt es ein Gummibärchen. Okay?«

Phillip war begeistert und machte sich ans Werk. Die Auswahl der Worte, fiel ihm leicht und beim Lückenauffüllen machte er nur einen Flüchtigkeitsfehler.

Beim zweiten Durchgang mussten mindestens fünf weitere Wortlücken entstehen.

Phillip wurde etwas nervös, denn nun war ihm klar, dass er sich schwierige Worte mit stummem h, wie in ›nehmen‹ oder längere Worte wie ›Kassiererin‹ merken musste. Als Seb ihm jedoch sagte, er könne sich soviel Zeit lassen, wie möglich, legte Phillip wieder los.

Anja blätterte in der Zwischenzeit scheinbar völlig unbeteiligt in einer Zeitschrift, beobachtete aber die beiden aus dem Augenwinkel.

Es war schon erstaunlich, wie gut der ›Computerfreak‹ Seb mit ihrem quirligen Sohn klarkam. Der besonnene und gelassene Gemütsmensch und ihr Sohn konnten unterschiedlicher nicht sein. Die krausen rot-blonden Haare, die braungrünen Augen, der Dreitagebart, die ausgewaschenen Jeans und das blau-rot karierte Flanellhemd waren ihr so vertraut, dass sie sich fragte, ob er überhaupt andere Klamotten besaß. Zwar hatte er mehrere Oberhemden, bzw. Sweat- und T-Shirts, sie kannte ja die Wäscheberge, aber das blau-rot karierte war definitiv sein Lieblingsstück, fast ein Teil seiner selbst.

Seit sie zusammen wohnten, war er bislang nicht zum Frisör gegangen. Dennoch wirkte der rot-blonde Afrolook wie gestylt und alles andere als ungepflegt. Ihr war als Würden sich ihre Fingerspitzen danach sehnen, durch die Locken zu fahren.

Anja wurde jäh aus ihren Tagträumen gerissen, denn Phillip rannte stolz auf sie zu und verkündete: »Ich kann jetzt den ganzen Text auswendig aufschreiben. Und morgen üben wir alles noch einmal.«

Eine ganze Stunde lang hatten sich Seb und Phillip intensiv mit dem Diktat beschäftigt. Nicht ein einziges Mal war Phillip aus dem Zimmer gerannt, wie sonst bei unangenehmen Aufgaben..

»Wahnsinn«, sagte Anja, ohne genauer zu erläutern, ob sie Phillips Ausdauer oder Sebs Idee meinte.

Im Stillen dachte sie: Hoffentlich wandelt Frau Vittel den Lückentext nicht ab. Sie erinnerte sich nur zu gut an ihren eigenen Frust, wenn sie für eine Arbeit gelernt und geübt hatte, nur eben halt das ‚Falsche‘. Momentan war sie jedoch nur froh und dankbar über Sebs rettende Idee.

»Danke Seb, das war genial«, sagte Anja, sobald Phillip und Clara zu Bett gegangen waren.

»Das wird sich herausstellen, hoffen wir mal das Beste.«

»Ich wusste gar nichts von deinem pädagogischen Talent.«

»Ich weiß, ich weiß, der PC-Nerd.«

»Das hab‘ ich nie gesagt.«

»Aber gedacht.«

»Nein ... hmm … , tut mir leid. Auf jeden Fall bin ich dir sehr dankbar! Und du willst das Diktat wirklich morgen noch einmal mit Phillip wiederholen?«

»Ja, am frühen Nachmittag. Dann ist er nicht so müde und ich habe eine kleine Pause.«

»Pause? Woran arbeitest du?« Anja wurde auf einmal klar, dass sie sich nie ernsthaft erkundigt hatte, was konkret Seb so tagsüber machte. Das würde sich ändern. Sie nahm sich fest vor, mehr über Sebs Leben in Erfahrung zu bringen. Er passte doch nicht so ganz ins Klischee.

»Erklär ich dir morgen - wenn du‘s wirklich wissen willst. Jetzt siehst du sehr müde aus. Gute Nacht.«

»Danke, gute Nacht.«

Anders als sonst fuhr Seb seinen PC herunter. Stattdessen setzte er sich ans Fenster und schaute in den ungetrübten, grenzenlosen Sternenhimmel. Wären seine Gedanken doch nur von gleicher Klarheit wie der heutige Abendhimmel!, wünschte er.

Anjas Frage, woran er gerade arbeite, war mit Sicherheit rein rhetorisch gewesen. Vermutlich, überlegte er, interessierte sich Anja nicht wirklich für ihn.

Zu selben Zeit lag Anja im Nebenzimmer im Bett und fragte sich, was aus dem einst so unternehmungslustigen Mädchen geworden war, das erst Ärztin auf der Cap Anamur, dann Stewardess werden wollte. Später hatte sie die Idee verfolgt, in einem Reisebüro zu arbeiten, und nun schuftete sie als ungelernte Altenpflegehelferin! Was für ein unschöner Gedanke! Die Arbeit war sinnvoll und machte ihr Freude! Punkt! Wären da nicht der Zeitdruck und vor allem diese subtilen Anfeindungen von Marga, die sie langsam zu fürchten begann.

Warum hatte Marga kürzlich vor allen Mitarbeitern darüber gelästert, dass Anja angeblich in letzter Zeit so häufig über ihre Kopfschmerzen jammern würde. Es stimmte, dass ihr hin und wieder der Schädel brummte, aber sie war überzeugt, dass sie nicht mehr als andere Kollegen darüber geklagt hatte.

Und Seb? Wie weit wollte sie ihn kennenlernen? Sich auf ihn verlassen? Tat sie das bereits?

Bewegung

Macus Steger hatte, außer zu den Mahlzeiten, über mehrere Tage sein Zimmer nicht verlassen. Damit sollte jetzt Schluss sein. Er hatte sich in den Rollstuhl geschwungen in der Absicht, das Haus zu erkunden. Nachdem er die Tür zu seinem kleinen Apartment zugezogen hatte, rollte er den breiten Flur entlang in Richtung auf den Eingangsbereich. Dort fiel sein Blick auf das Leitbild der Pflegeeinrichtung, welches auf jeder Etage aushing.

‚Uns liegen eine selbstbestimmte Lebensführung und das Wohlbefinden unserer Bewohner am Herzen, wir bemühen uns um ein Gleichgewicht zwischen ihrer Teilhabe am Gemeinschaftsleben und ihrer Privatsphäre ....‘

Für Marco klang das alles positiv und vielversprechend, doch zu allgemein und abstrakt, beinahe inhaltslos. Ja, in seiner Privatsphäre fühlte er sich respektiert und zugleich, über viele Stunden hin, auch sehr allein.

Aber, wie man in den Wald hineinruft, so ... Ja, er konnte von den Mitarbeitern tatsächlich nicht erwarten, dass sie täglich einen neuen Versuch machten, ihn für die angebotenen Aktivitäten zu motivieren. Hatte er sich womöglich wie ein trotzendes Kleinkind verhalten? Sollte er Anjas Rat aufgreifen und sich einer der Spiele- oder Gesangsgruppe anschließen? Vielleicht würde er sich morgen dazu aufraffen.

Doch ganz untätig wollte er schon heute nicht sein und so beschloss er, erst mal die Räumlichkeiten des Hauses zu erkunden, und dann würde er eventuell demnächst ...

Mit seinem Rollstuhl erkundete er die verschiednen Etagen und ertappte sich dabei, gelegentlich nach Anja Ausschau zu halten. Vergeblich, und dennoch fühlte es sich gut an, wieder etwas aus eigenem Antrieb zu tun. Morgen, so nahm er es sich vor, würde er seine Erkundungen ausweiten.

Beim Abendbrot im Hausrestaurant traf Marco erneut auf Herrn Hummer, dessen joviale Art ihn leicht befremdete. Dennoch fand er es weitaus angenehmer, Belanglosigkeiten auszutauschen als allein auf dem Zimmer zu Abend zu essen.

»Na, Herr Hummer, was macht die Kunst? Sind Sie schon zu einem Urteil über dieses Haus gekommen?«

»Nicht endgültig, wissen Sie, es gibt da noch das ein oder andere, was ich abklären muss. Neulich sah ich eine etwas ältere Pflegerin, wie sie recht grob bei einer Bewohnerin Blutdruck gemessen hat. Sie hatte nicht bemerkt, dass ich hinter ihr stand.«

»Da gibt es aber auch andere!«, hielt Marco Steger dagegen. Ihn interessierten solche Beobachtungen nur bedingt, fürchtete er doch, dass sie ihn herunterziehen würden. Zugleich war er froh, einen Tischpartner zu haben, mit dem er halbwegs auf einer Wellenlänge lag. Die Frauen im Haus waren in der Überzahl, und bislang war ihm keine begegnet, mit der er sich gerne länger unterhalten hätte. Marco Steger war offen, sich an Herrn Hummer zu gewöhnen, bereit, ihn ein wenig ins Herz zu schließen.

Eine Frage der Kollegialität

Kaum hatte Anja die Stationstür aufgestoßen, dass Marga sie mit den Worten begrüßte: »Na das scheint ja einzureißen, dein ‚Zu-spät-Kommen‘«. Es traf zu, Anja hatte tanken müssen und war dann auf der Autobahn in einen Stau geraten. Folglich war sie 20 Minuten zu spät und Marga und Emma waren mit dem Übergabegespräch bereits fertig.

»Nur weil du hier als ungelernte Kraft arbeitest, glaubst du, bei den Besprechungen nicht dabei sein zu müssen! Versuchst es dir so angenehm, wie möglich zu machen, während wir uns hier abrackern!«

Anja schnappte nach Luft. Das Letzte, was sie wollte, war, sich vor Arbeit zu drücken. Gerne hätte sie mehr Verantwortung übernommen, aber Emma und Marga sorgten schon dafür, dass die Zuständigkeitsbereiche sauber getrennt blieben.

»Tut mir leid«, brachte sie nur heraus.

»Das fällt mir schwer zu glauben. Mal seh‘n, was für eine Ausrede dir heute einfällt!«, setzte Marga noch eins drauf.

Mit Verständnis war offensichtlich nicht zu rechnen. Deshalb schwieg Anja und war froh, als sie zum Bettwäsche wechseln in ein Patientenzimmer geschickt wurde und den Raum verlassen konnte.

»Ach ja. Und wenn Sie damit fertig sind, Anja« , rief Marga ihr hinterher, »gehen Sie bitte zu Herrn Steger, der hat ausdrücklich nach Ihnen gefragt. Weiß der Kuckuck, warum.« Der süffisant-missbilligende Ton war Anja nicht verborgen geblieben, doch sie schwieg.

Als 16-Jährige hatte Anja während eines längeren Klinikaufenthaltes erfahren, wie unangenehm es ist, sich bei den einfachsten Handhabungen der persönlichen Hygiene helfen lassen zu müssen. Sie wusste, wie die Heimbewohner ihre eigene zunehmende Bedürftigkeit erlebten und konnte deren Verzweiflung gut nachempfinden. Deshalb bemühte sie sich, möglichst diskret zu helfen.

»Guten Morgen Frau Anja, schön, dass Sie da sind. Wie heißen Sie eigentlich mit Nachnamen?«

»Sonnenfeld.«

»Ein schöner Name, der passt zu Ihnen.

»Danke. Ja, anläßlich meiner Scheidung habe ich meinen Mädchennamen wieder angenommen und fühle mich gut dabei.«

»Ich hab Sie schon vermisst!«

»Ja, gestern hatte ich frei, weil ich letzten Samstag für eine Kollegin eingesprungen bin.«

»Was man so alles für die anderen macht, nicht wahr? Arbeiten Sie gerne hier? Ich meine, das ist doch anstrengend. Sie sind hauptsächlich auf der Pflegestation eingesetzt, stimmt‘s?«

»Stimmt.«

»Ist das nicht bisweilen frustrierend?«

»Kommt drauf an, wie man das sieht. Manchmal schon, ja, aber wenn ich sehe, wie einige Heimbewohner trotz ihrer Einschränkungen sich anstrengen, körperlich und geistig fit zu bleiben oder sich an kleinen Dingen freuen, finde ich das bewundernswert. Dann nehme ich mir vor, es später ähnlich zu halten.« Anja hielt inne und wurde ernst. Ihr Blick wanderte wie geistesabwesend zum Fenster.

»Sie sehen jetzt aber sehr nachdenklich aus. Ist was?«, erkundigte sich Herr Steger vorsichtig.

»Mich frustrieren ganz andere Sachen, aber lassen wir das. Was haben Sie für heute geplant?

»Noch gar nichts«, musste Herr Steger zugeben und wechselte schnell das Thema. »Mit Ihnen kann ich mich am besten unterhalten. Nur heute, bitte nehmen Sie es mir nicht übel, heute wirken Sie genauso gehetzt wie Ihre Kollegen.«

»Stimmt, Herr Steger, ich muss jetzt tatsächlich leider zurück auf die Station und meine Kollegen ... «, Anja hielt für einen Moment inne. »Da ist viel zu erledigen, aber ich komme nach dem Dienst kurz bei Ihnen vorbei. Okay?«

»Dann warte ich, bis nachher.«

Wie verständnisvoll er war, und was für Gedanken er sich machte!

Als Anja nach Dienstschluss die Station verließ, rief Marga ihr nach: «Ach, du möchtest bitte einmal kurz bei der Pflegedienstleitung vorbeischauen.« Auch das noch!

Die Chefin stand schon in der Tür und bat Anja, sich hinzusetzen. Anja nahm auf dem vorderen Rand des Stuhles Platz.

»Frau Sonnenfeld, mir ist leider zu Ohren gekommen, dass Sie in letzter Zeit immer häufiger unpünktlich Ihren Dienst antreten. Ich weise Sie darauf hin, dass dies bei Wiederholung zu einer Abmahnung führen kann.«

»Es tut mir leid, ich habe im Augenblick etwas Stress mit den Kindern.« Das war zwar etwas übertrieben, aber Anja wusste, dass die Chefin und Marga befreundet waren und vermied es, Negatives über ihre Kollegin zu sagen.

»Seien Sie in Zukunft pünktlicher!«

»Das werde ich, Frau Krieß, das verspreche ich.«

»Und da ist noch etwas. Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie Absprachen mit Mitarbeitern häufig nicht einhalten.«

»Wie meinen Sie das?« Anja war vollkommen perplex.

»Na, Frau Beutel ist Ihnen gegenüber zwar nicht direkt weisungsberechtigt, aber Sie sollten die Hinweise einer so erfahrenen Kraft nicht ignorieren.«

Anja war fassungslos. Wie sehr hätte sie sich über ein paar Hilfestellungen und Ratschläge der älteren Kollegen gefreut! Nie im Leben hätte sie diese ignoriert!.

»Bedenken Sie«, fuhr Frau Krieß fort, »Sie sind als Letzte eingestellt worden. Ich nehme an, Sie wissen, was das bedeutet .... Andererseits ... habe ich auch Gutes von Ihnen gehört. Die Patienten schätzen Sie, und Leute wie Sie möchte ich nicht verlieren.«

Das klang wie eine Drohung, der fast zeitgleich die Schärfe genommen wurde. Übernahm Frau Krieß doch nicht unreflektiert Margas Meinung? Anja verabschiedete sich höflich und freundlich, aber zutiefst verunsichert. Was hatte Marga über sie verbreitet?

Bevor sie das Seniorenheim verließ, klopfte Anja, wie versprochen, bei Herrn Steger an die Tür und trat ein.

Ein Fotoalbum lag auf seinem Schoß und er bat Anja zu sich. Es hatte den Anschein, dass er schon seit geraumer Zeit auf sie gewartet hatte.

Anja, noch in Gedanken beim Gespräch mit der Chefin, war froh, einmal nicht für die Gesprächsführung zuständig zu sein. Sie setzte sich neben ihn und betrachtete die Fotos.

Zunächst sah sie nur eine Reihe schneebedeckter Berge zu verschiedenen Tageszeiten und bei unterschiedlichen Wetterverhältnissen. Dann erkannte sie anhand der wiederkehrenden Formen, dass es sich um ein und denselben Berg zu handeln schien, einen ziemlich hohen.

»Ist das der Mount Everest?« fragte sie vorsichtig.

»Nicht schlecht, nein, der Mount Everest ist es nicht, aber der Cho Oyo.«

»Nie gehört.«

»Der Cho Oyo« ist der Sechshöchste der vierzehn Achttausender der Welt und liegt nicht weit entfernt vom Mount Everest, ca. 20 km Luftlinie. In Wirklichkeit ist das aber sehr, sehr weit, Google Maps weigert sich zum Beispiel, diese Route zu berechnen. Raten Sie mal, warum!«

»Na ja, weil wohl kaum jemand auf die Idee kommen wird, bei einem Trip beide erklimmen zu wollen. Diejenigen, die auf dem Everest waren, kann man ja wohl an der Hand abzählen.«

»So wenige sind das nicht. Fünftausend mindestens seit der Erstbesteigung, nur ein Bruchteil von ihnen ohne künstlichen Sauerstoff. Viele, sehr viele geben auf, obwohl…«

»Und auf dem Cho Oyo?«

»Etwas mehr als die Hälfte davon. Der Cho Oyo wurde erst in den Sechzigern erfolgreich bezwungen. Nicht, weil er eine größere Herausforderung darstellt, sondern eher, weil er halt nicht der Höchste ist und damit weniger spektakulär.«

»Für mich klingt das spannend, Herr Steger, aber nun erzählen Sie mal, woher Sie das alles wissen und warum sie mir das erzählen. Waren Sie Geografielehrer?«

»Nicht direkt, aber Sie liegen mit Ihren Vermutungen immer ganz nah an der Wahrheit. Nein, ich war Reisejournalist.«

»Toll.«

»Ja, das waren gute Jahre.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen: Reisen, Abenteuer erleben und mit den Berichten die nächste Reise finanzieren.«

»So ähnlich war es schon, obwohl man am Ball bleiben muss, damit die Verleger mit immer ungewöhnlicheren Bildern und Unternehmungen auf dem Markt sich und ihre Produkte positionieren können.«

»Die Konkurrenz, ich weiß. Stets ein beliebtes Argument, die Belegschaft zur Mehrarbeit anzutreiben.«

»Oder freie Mitarbeiter zur Selbstausbeutung. Leider habe ich dabei auch ein wenig meine Frau verloren.«

»Wie kann man seine Frau verlieren und dann nur ‚ein wenig‘?«

»Das sind zu viele Fragen.« Herr Steger rückte von Anja ab. Er sah grau aus im Gesicht und seine Augen wurden für einen Moment starr.

»Nur zwei.«

»Vielleicht erzähle ich das später einmal. Schauen Sie mal, hier war unser Basislager.«

»Basislager? Wollen Sie mir erzählen, dass Sie so einen Trip gemacht haben?

»Das hieß und heißt immer noch Expedition.«

»Okay ‚Expedition‘ , ich bin baff. «

»In den sechziger und siebziger Jahren gab es noch kaum kommerzielle Expeditionen in den Himalaja, und mehr als heute war es eine immense Herausforderung, einen Achttausender in Angriff zu nehmen, körperlich wie mental.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Wie alt waren sie damals?«

»Sechsunddreißig.«

»Schauen Sie, hier, ein Bild von mir«

»Wow, total dick eingepackt, fast nicht zu erkennen. Doch, doch, wenn man genau hinsieht. Die Gesichtszüge sind dieselben. Sie waren mal sehr sportlich, habe ich recht?«

»Ich denke, ja.«

»Irre. War das im Winter?«

»Nein, das war im Sommer, die Schneegrenze lag bei ca. 6000 Metern. Vermutlich ändert sich das infolge des Klimawandels.«

»Wahnsinn«

»Ja, das war schon außergewöhnlich.«

»Gab es Telefon und Kontakt zum Rest der Welt?«

»Ja, vom Basislager aus, aber das ist heutzutage auch nicht anders.«

»Apropos Telefon und Rest der Welt. Ich muss unbedingt zu meinen Kindern. Phillip schreibt morgen ein Deutschdiktat und, ach herrje …. Herr Steger, ich finde das wahnsinnig spannend, aber ... Ich bin mehr als zu lange hier.«

»Ist schon gut, ich laufe ja nicht weg. «Das klang nicht zynisch, sondern eher ein wenig humorvoll, fand Anja und zog die Tür vorsichtig hinter sich zu.

Leider lief ihr Marga ein weiteres Mal über den Weg, die es sich nicht nehmen ließ, eine weitere spitze Bemerkung loszuwerden: »Ach, immer noch da? Ich dachte, deine Kinder haben erste Priorität.«

Die Bemerkung hatte wehtun sollen. Und das tat sie. Anja fühlte eine dunkle Welle unterschiedlichster Ansprüche auf sich zurollen. Ansprüche an sie als Kollegin, Ansprüche an sich selbst und die normalen Erfordernisse des Alltags. Eine unerklärliche Angst, dass diese Welle sie erfassen, überrollen und zerschellen lassen würde, stieg in ihr auf. Und sie brachte nicht die Kraft auf, Marga zur Rechenschaft zu ziehen.

Auf dem Mitarbeiterparkplatz saß Anja hinter dem Steuer, ohne den Wagen zu starten. Sie ließ den Kopf sinken, wobei sie ihr Gesicht in beide Hände legte, um kurz die Augen zu schließen, als jemand energisch an die Scheibe klopfte.

Es war Marga. Anja ließ die Autoscheibe herunter.

»Ja?«

»Ich wollte mich nur erkundigen, was Frau Krieß gesagt hat«, fragte sie scheinheilig. Ihr aufgesetztes Lächeln Gesicht verriet, wie sehr sie danach lechzte, von Anjas Zurechtweisung zu erfahren. Ihre Augen waren hämisch kalt.

Anja drückte den Verriegelungsknopf und fuhr die Scheibe hoch. Marga begann wütend an die Scheibe zu trommeln, doch Anja startete ihr Auto und fuhr los. Wie gut, dass Marga zu alt war, um in sozialen Netzen unterwegs zu sein. Nicht auszudenken, was sie dort von sich geben würde.

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