Читать книгу: «Aus smarter Silbermöwensicht», страница 2
Ein roter Pullover
Als Marco Steger morgens die Augen aufschlug, zeigte sein Wecker bereits 9:00 Uhr an. Er hätte sich mit dem Anziehen beeilen müssen, um noch rechtzeitig im Restaurant der Seniorenresidenz zu frühstücken. Doch an die frische Kleidung im Schrank reichte er nicht heran. Er hatte Angst, sich zu strecken oder selbstständig zu stehen, um an das obere Fach zu gelangen. Jana hatte zwar seine Sachen in den Einbauschrank geräumt, aber nicht mitbedacht, wie eingeschränkt sein Handlungsradius inzwischen war.
Nun überkam sie ihn wieder, diese Furcht zu stürzen, denn es war bei einer ähnlichen Aktion vor zwei Monaten, dass er mitsamt Rollstuhl umgekippt war. Aus eigener Kraft war es ihm nicht gelungen, sich zu befreien oder aufzurichten.
Welch Glück, dass der Briefträger mit dem Einschreiben an der Wohnungstür geklingelt und länger gewartet hatte als üblich. Wer weiß, wann ihn sonst jemand aus seiner misslichen Lage befreit hätte. Die einsamen Stunden auf dem Boden, die Schmerzen, die Verzweiflung und vor allem der Ärger über sich selbst, all das war zu allgegenwärtig, als dass er sich erneut in Gefahr begeben würde.
Marco war durchaus bewusst, dass er den Sozialdienst des Hauses rufen konnte. Diese Hilfsmöglichkeit hatte ihm Jonas mehrfach vor Augen geführt, als er die Vorteile der Unterbringung im betreuten Wohnen andeutete. Aber nein, er wollte so lange wie möglich selbstständig bleiben, auch hier.
Andererseits, auf sich allein gestellt, müsste er jetzt die Wäsche von gestern anziehen. In einem Gefühlsmix aus Frust, Enttäuschung und Resignation griff Marco zur Klingel.
Anja sagte zu Mona: »Ich geh schon«, und machte sich auf zu Herrn Steger. Gerade hatte Mona sie mit den Kindern zum Grillen eingeladen und dementsprechend gut war Anja gelaunt. Kein Interessenkonflikt, keine schwierige Entscheidung, alles schien heute zu passen.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Steger. Was kann ich für Sie tun?«, fragte Anja gutgelaunt.
Marco war es sehr peinlich, vor einer fremden Frau noch im Schlafanzug zu sein, doch er hatte nachts lange grübelnd wachgelegen, und war erst mit dem beginnenden Vogelgezwitscher eingeschlafen.
»Guten Morgen, schön, dass Sie es sind. Es tut mir leid, dass ich Sie bemühen muss, aber ich komme nicht ohne Hilfe an meine Kleidung. Können Sie mir helfen?«
»Klar, dafür bin ich doch da.«
»Danke, bitte geben Sie mir einen Pullover von oben, ja?«
»Gerne, hier, meinen Sie den roten, kuscheligen?«
»Auf keinen Fall.«
»Sie mögen kein Rot?«
»Doch, nur dieser erinnert mich an ….« Marco Steger verstummte abrupt.
»Ja?«
»Ist nicht wichtig!«, sagte Herr Steger schnell und bestimmt.
»Was halten Sie von diesem braunen Seelenwärmer?«
»Genau den meine ich, herzlichen Dank.«
»Brauchen Sie sonst noch etwas?«
»Nein, danke, den Rest kann ich allein.«
»Wunderbar, ansonsten melden Sie sich bitte. Ja? Haben Sie eigentlich schon gefrühstückt?«
»Nein, ich habe keinen Hunger«, sagte Marco und fuhr mit dem Rollstuhl rasch in Richtung Badezelle, damit Anja nicht hörte, wie sehr sein Magen knurrte.
Kaum zu glauben! Frühstückspause und es hatte den Anschein, dass die Kollegen heute alle gemeinsam zusammen essen würden. Zwei Bewohner waren zur Dialyse abgeholt worden, eine dritte hatte Besuch von ihrer Tochter, die gerne die Pflege ihrer Mutter für einige Stunden übernahm. All dies bedeutete weniger Hektik.
Der Sozialraum war nicht sonderlich behaglich. Das graublaue Neonlicht, die Schleiflackschränke, die fahlgrünen Gardinen, luden nicht zum Verweilen ein. Und dennoch, wie dankbar waren alle Mitarbeiter für einen solch seltenen Moment des Innehaltens. Mona war die Einzige, die gelegentlich den Tisch mit Blümchen dekorierte. Ansonsten überwogen angefangene Konfekt- und Kekspackungen, in welche die Mitarbeiter hektisch griffen, um kurzfristig ihren Heißhunger zu lindern.
»Und wie geht es deinen Kindern?«, wandte sich Emma an Anja. Siedend heiß fiel Anja der anstehende Anruf bei Phillips Klassenlehrerin ein.
»Es geht so, aber ich muss jetzt schnell telefonieren«, antwortete Anja kurz und verließ eilig das Dienstzimmer.
»War ja klar, die hat ja immer was anderes zu tun«, zischelte Marga zu ihrer Nachbarin, sodass Anja die Bemerkung nicht mehr hörte.
Was mochte die Lehrerin wohl von ihr wollen? In Anjas Augen war Phillip ein aufgewecktes, an vielem interessiertes Kind mit einem feinen Gespür für Ungerechtigkeit, nicht nur was ihn, sondern auch, was andere betraf. Er war für sein Alter zwar nicht groß, aber reaktionsschnell und beweglich. Seine Energie und Ausdauer bei Aktivitäten im Freien beeindruckten Anja. Gerade hatte er den Fußball für sich entdeckt. Auf die Schule hatte er sich unheimlich gefreut und war sehr gerne in die erste Klasse gegangen. Anfangs hatte er bereitwillig die Hilfe seiner älteren Schwester angenommen, wenn er vergessen hatte, wie die Hausaufgaben zu erledigen waren. Jetzt, in der zweiten Klasse, war die Begeisterung verblasst, immer häufiger schimpfte er über die Übungen oder auch über seine Mitschüler. Anja hielt das für relativ normal.
»Frau Sonnenfeld, gut, dass Sie anrufen. Wir müssen uns unbedingt über Phillip unterhalten. Ich weiß gar nicht, was mit ihm los ist. Im Unterricht fängt er eine Aufgabe an, bearbeitet sie oberflächlich oder unvollständig und springt unvermittelt zur nächsten. Dann kehrt er zur ersten zurück, weil er merkt, dass diese leichter zu lösen und oftmals Voraussetzung für die Folgeaufgaben ist. Am Ende hat er kein Ergebnis vorzuweisen und ist frustriert.«
»Ist es wirklich so schlimm?«
»Na ja, im letzten Jahr ging es, da kannte er vieles von der Vorschule. Seit den Osterferien wird es zunehmend problematischer. Hat sich etwas an ihrer häuslichen Situation verändert?«
»Eigentlich hat sie sich verbessert. Wir sind umgezogen, innerhalb desselben Stadtteils, und ich habe eher das Gefühl, dass ihm die größere Wohnung guttut. Er hat jetzt sein eigenes Zimmer.«
»Ja, ich weiß auch nicht. Vielleicht reicht es ja vorerst einmal, wenn Sie regelmäßiger seine Hausaufgaben kontrollieren. Das ermöglicht es ihm, bei Stundenbeginn ein paar Erfolgserlebnisse zu haben.«
»Das werde ich tun.«, versprach Anja kleinlaut. Den vorwurfsvollen Unterton in Frau Vittels Stimme hatte sie sich nicht eingebildet.
Trotz Anjas Versprechen, regelmäßiger Phillips Hausaufgaben zu überprüfen, vergaß sie just am selben Abend, die Kinder überhaupt nach der Schule zu fragen. Gott sei Dank war erst Sonnabend, sodass sie am Sonntag noch die Chance hatten, die nächste Woche vorzubereiten. Wie naiv war sie gewesen zu erwarten, dass, nur weil Clara keine Schulprobleme hatte, es bei Phillip ähnlich laufen würde! Am Ende des zweiten Schuljahres würde es, statt eines Notenzeugnisses, wieder einen Lernentwicklungsbericht geben. Der letzte, erinnerte sich Anja dunkel, hatte vielversprechend geklungen. Doch, hatte sie die Formulierungen dieses notenfreien Zeugnisses richtig interpretiert? Der warnende Unterton der Klassenlehrerin beim letzten Telefonat stand hierzu im krassen Gegensatz. Mit der mahnenden Stimme von Frau Vittel tauchten bei Anja unliebsame Bilder aus ihrer eigenen Schulzeit auf: Wie ein Biolehrer plötzlich hinter ihr stand und ihr das Heft entriss, in welchem sie zig winzige, wunderschöne bunte Fische gezeichnet hatte. Und wie er das Heft in der ganzen Klasse herumgezeigt und höhnend gefragt hatte, was das mit dem Stundenthema zu tun hätte. Und die Worte: »Solche Fische gibt’s nicht. Die Anatomie ist völlig falsch. Falsch. Falsch!«, klang ihr heute noch im Ohr. Es war genau an diesem Tage, dass sie selbst am Kunstunterricht den Spaß verloren hatte.
Helfersyndrom
Seb hatte sich ausnahmsweise den Wecker gestellt, da er seinen alten, rostigen Golf vor dem TÜV in der Werkstatt durchchecken lassen wollte.
Am Geschirrberg konnte er ablesen, dass Anja und die Kinder wieder in Hektik die Wohnung verlassen hatten. Okay. Kurz entschlossen räumte er die Geschirrspülmaschine ein, putzte den Herd, wischte die Krümel vom Tisch und stellte die Müslisachen an ihren Ort. So sah die Küche gemütlich und einladend aus. Ob Anja es bemerken würde? Auf dem Weg vorbei am Badezimmer fielen ihm die mittelgroßen Haufen schmutziger Wäscheteile auf, die dort auf dem Boden verteilt lagen - die meisten davon seine. Oh nein, dies konnte er jetzt nicht auch noch erledigen. Der Werkstatttermin war wichtiger.
Auf dem Weg zum Auto traute Seb seinen Augen nicht. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig schlenderte eine ihm vertraute Gestalt: Sein ehemaliger Studienfreund Max, der sich trotz weißem Hemd, Sakko und Schnürschuhen betont lässig gab.
»Mensch Max!«, rief Seb über die Straße, »Was machst du denn hier?«
»Dasselbe könnte ich dich auch fragen, «antwortete Max und kam ihm entgegen. »Hey, Alter, du hast dich gar nicht verändert. Kein Geld für den Frisör und immer noch dasselbe Hemd!«
»Das gleiche, mein Lieber, das gleiche. Du erinnerst dich, dass ich damals fünf davon gekauft habe«, korrigierte ihn Seb. »Lange nicht gesehen. Ich dachte, du wärst in Australien.«
»War ich auch. Aber jetzt bleiben wir erstmal hier. Inges Arbeitserlaubnis wurde nicht verlängert und da haben wir uns kurz entschlossen, zurück nach Deutschland zu kommen. Das ist schon sieben Monate her.«
»Warum hast du dich nicht gemeldet, alter Knabe?«, fragte Seb gespielt vorwurfsvoll.
»Wieso hast du mich nicht in Australien besucht, wie du so groß angekündigt hattest?«, konterte Max. »Ich hab‘ dir immerhin zwei Postkarten geschickt, obwohl ich nicht wusste, ob deine alte Adresse noch aktuell ist. Du wolltest doch damals raus aus Bremen.«
»Stimmt. Will ich eigentlich immer noch, aber dann ist Anja bei mir eingezogen….«
»Du hast ‘ne Freundin? Hey, erzähl‘ mal!«
»Nein, nicht, was du denkst. Ist eher ‘ne WG, ‘ne Zweckgemeinschaft, verstehst du?«
»Na ja, das hätte ich mir fast denken können. Du und ‘ne Freundin. Du kannst sie mir ja trotzdem mal vorstellen.«
Seb runzelte die Stirn.
»Ist was?«, fragte Max scheinheilig und schwenkte, als Seb nicht antwortete, um: »Was hast du inzwischen gemacht?«
»Nachdem du und Tobi ausgezogen wart, konnte ich die große Wohnung nicht mehr über längere Zeit alleine halten. Ein Jahr lang habe ich die Zimmer an andere Studenten untervermietet, aber es war nie wieder so lustig wie mit euch beiden damals.«
»Jou, das war ‘ne Zeit, hast du eigentlich inzwischen deinen Master?«
Seb ignorierte die Frage und fuhr fort: »Ich wollte dann lange Zeit lieber alleine wohnen, hatte aber nicht den Nerv, auf Wohnungssuche zu gehen. Außerdem finde ich es hier im Viertel nach wie vor recht nett.«
»Kann ich verstehen.«
»Wie finanzierst du die Bude?«
»Eine Zeit lang hatte ich ein paar gut bezahlte Jobs, war für einige Firmen die digitale Feuerwehr. Leider haben erfolgreiche, expandierende Unternehmen inzwischen ihre eigenen festangestellten Programmierer oder Subunternehmer.«
»Ich frag dich jetzt nicht, warum du leer ausgegangen bist.«
»Ich verstehe es selbst nicht, vermutlich liegt es doch am fehlenden Abschluss. Da kucken die Personalleiter drauf, egal, was man tatsächlich kann. Aber ich komme über die Runden. Anja übernimmt zwei Drittel der Kosten und ist froh, mit ihren Kids mehr Quadratmeter zu haben.«
»Eine ›bürgerliche Kleinfamilie‹, wie find ich das denn? Wenn mir das einer vor zwei Jahren erzählt hätte!«
»Glaub‘, was du denkst.«
»Sag mal, Seb, ich habe mir vor wenigen Tagen einen neuen Laptop gekauft, einige Funktionen sind mir unklar und mein PC spinnt ebenfalls. Könntest du vorbeikommen und mir helfen?«
Die Situation kam Seb seltsam bekannt vor. Trug er ein T-Shirt mit dem Aufdruck ‚Digitale Pannenhilfe 24/7‘?
»Schon möglich.«
»Übermorgen?«
»Wenn‘s sein muss.«
»Hier, meine neue Adresse, mit der Straßenbahn bist du in zehn Minuten da.«
»Okay. Übermorgen gegen drei.«
»Das geht nicht. Da habe ich ein Vorstellungsgespräch. Lieber um 13:00 Uhr. Es macht dir doch nichts aus, wenn es bei uns etwas chaotisch aussieht? Inge hat augenblicklich ihre puristische Phase, möchte sich von allem Überflüssigen trennen und dabei lässt sie keinen Schrank aus.«
»Das ist mir völlig egal. Meinetwegen um 13:00 Uhr. Ich muss jetzt weiter!«
Leicht genervt und hektisch startete Seb seinen rostigen Golf und würgte ihn gleich zwei Mal ab. Wieder einmal hatte er sich überreden lassen, einem PC-Analphabeten aus der Patsche zu helfen! Zeitweilig tat er es gerne, und war stolz, wenn er nach wenigen Minuten die Ursache einer scheinbaren Funktionsstörung identifiziert und behoben hatte.
Andererseits kam es leider auch vor, dass er für die Fehlersuche mehrere Stunden brauchte. Jetzt malte er sich aus, wie Max dann sein ‚Siehste-mal-wie-kompliziert
-das-ist-Gesicht‘ aufsetzen und ihn damit zusätzlich unter Zeit- und Leistungsdruck setzen würde. Nervig war es immer. Besonders schmerzhaft wurde es, wenn solche Leute kurz darauf begannen, herablassend über Computerfreaks zu lästern. Max hatte stets einen Hang zu Überheblichkeit gehabt.
Als Seb schließlich verspätet auf den Hof der Autowerkstatt fuhr, kam ihm die Idee, eine mentale schwarze Liste mit den Personen anzulegen, die ihn ausnutzten. Zu welchem Zweck war ihm selbst nicht klar, doch allein der Gedanke tat ihm gut. Und so schlenderte er wenig später freudig gelaunt, entspannt die Uferpromenade der Schlachte entlang.
Wie die jungen hellgrünen Blätter der Ahornbäume wandte Seb sein Gesicht den ersten Strahlen der Sonne entgegen und genoss den Frühling. Unvermittelt nahm er auf den Stufen einer Fußgängerbrücke Platz und war mit sich und der Welt zufrieden.
Es war nach 23:00Uhr, doch Seb saß noch vor zwei Computerbildschirmen, umringt von Zeitschriftenstapeln und diversen leeren, wie halbvollen Kaffeetassen. Auf dem Bett lag flüchtig zusammengelegte, saubere Wäsche. Obwohl seine Türe nur angelehnt war, klopfte Anja vorsichtig an und schob sie einen Spaltbreit auf, ohne selbst einzutreten. Seb wandte sich ihr zu. »Hi Anja, was gibt’s?« Er lächelte freundlich.
»Du Seb, kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Nur, wenn es nicht um PCs geht. Schieß schon los.«
»Darum geht es nicht, aber ... «, Anja zögerte einen Moment, ... »Du hattest mir mal angeboten, am Wochenende auf Phillip und Clara aufzupassen, erinnerst du dich?«
»Hab ich das?«
»Hast du, das weiß ich genau ... und morgen ist mal wieder Personalnotstand auf Station.« Anja ließ sich Zeit, weiterzusprechen. »Und, ich habe versprochen, einzuspringen.« Anja schien schuldbewusst und erfolgsgewiss zugleich.
»Ohne mich vorher zu fragen. Das grenzt ja an Nötigung«, empörte sich Seb fadenscheinig.
»Wieso Nötigung? Du kannst ja ‚nein‘ sagen.«
»Gibt es hier vielleicht jemanden mit Helfersyndrom? Was ist, wenn ich wirklich ‚nein‘ sage?«
»Dann versuche ich, mir die Schicht mit Mona zu teilen.« Anja griff zu ihrem Handy.
»Das ist ja wohl ein wenig zu spät, um anzurufen, findest du nicht?«
»Seb?«
»Ja?«
»Ich kann den Feiertagszuschlag gut gebrauchen.«
»Ich weiß. Hast du eigentlich gesehen, dass ich euren Frühstückskram weggeräumt habe?«
»Hab ich, vielen Dank. - Und ist dir aufgefallen, dass ich nichts zu deinem Müll im Badezimmer gesagt habe? ... Also?«
»Was, also?«
»Bist du morgen hier und….«
» …spielst Kindermädchen?«
»Bitte!«
»Okay. Meinetwegen.«
»Danke, du bist ein Schatz.« Anja warf ihm eine Kusshand zu, war im Handumdrehen heraus aus der Tür und in ihrem Zimmer verschwunden.
Sebastian lag noch einige Zeit wach und überlegte, ob er eine zweite mentale Liste anlegen sollte, doch ihm war nicht klar, in welcher Farbe. Vielleicht hellgrün? Sicher mit vielen Fragezeichen versehen. Nein, er schob den Gedanken beiseite. Es war ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden. Um ehrlich zu sein, freute er sich auf die endlosen Diskussionen und Scheingefechte mit Phillip. Auch für Clara würde ihm gewiss etwas einfallen.
Die Sache mit den Versprechungen
Wieder vertröstet! Fassungslos starrte Clara auf die Kurznotiz auf dem Küchentisch.
Seit Wochen hatte Anja ihren Kindern einen gemeinsamen Kinobesuch versprochen und Clara und Phillip hatten es hingenommen, wenn es dann doch mal aus diesem, mal aus jenem Grund nicht klappte. Nun sollte es diesen Samstag abermals ausfallen. Mit ziemlicher Sicherheit würde der Film, den Phillip und Clara sich ausgesucht hatten, nächste Woche in den Kinos gar nicht mehr laufen. Missmutig setzte sich Clara an die unerledigten Hausaufgaben ihres Wochenplans. Wenig später tauchte Phillip verschlafen im Flur auf. Als er Clara am Küchentisch arbeiten sah, rutschte ihm ein »Na, Streberin, schon wieder dabei?« heraus.
Phillip sah ihr Gesicht und bereute seinen Spruch sofort, aber leider war es zu spät. Er nahm ein Glas Milch und fragte: »Wo ist Mama?«
»Arbeiten.«
»Wieso? Die hat doch heute frei.«
»Hatte. Eine ihrer Kolleginnen ist mit dem Fuß umgeknickt, und deshalb ist sie da heute wieder hin. Du weißt genau, wie Mama ist. Kann nie ›nein‹ sagen.«
»Schade, und was ist jetzt mit dem Kino?«
»Rate mal. Nach dem Dienst ist sie immer völlig fertig.«
»Na toll. Was für ein Wochenende. Computer spielen dürfen wir nicht, fernsehen erst heute Abend, wenn wir Glück haben.«
»Ich bin auch total begeistert.«
Als Seb in die Küche kam, blätterte Phillip gelangweilt im Werbeteil der Tageszeitung und Clara klappte ihr Deutschheft zu.
»Moin, ihr beiden. Ihr seid ja früh auf den Beinen.«
»Es ist kurz vor zehn. Das nennst du früh?«
»Für mich ist das rechtzeitig, sagt mal, habt ihr schon gefrühstückt? Ich meine so richtig. Mit amerikanischen Pancakes, englischen Baked Beans & Ham, französischen Croissants und deutschem Müsli und Brötchen?«
»Klingt ein bisschen übertrieben! Ich schlage vor, dass wir an jedem Sonntag eins davon ausprobieren. Dann haben wir Programm für die nächsten drei Wochenenden ohne Mama«, hielt Clara schnippisch dagegen. Seb ging nicht darauf ein.
»Warum arbeitest du eigentlich in der Küche und nicht an deinem Schreibtisch?«, erkundigte sich Seb.
»Hier ist es heller und gemütlicher«, antwortete Clara gereizt. »Noch eine Frage?«
»Okay. Okay. Ich lass dich in Ruhe.«
»Also gut. Ich hole Croissants«, rief Phillip und stürmte zur Tür hinaus, um kurz darauf wieder in der Küche zu stehen. »Seb, hast du Geld?«
»Hier, das muss reichen, wir sind nur zu dritt.«
Wenig später saßen Clara, Phillip und Seb gemeinsam am Frühstückstisch und ließen sich die Croissants mit Butter schmecken. Im Radio lief eine Oldie Sendung mit ›I can’t stand the rain‹.
»Ach übrigens, wo die da gerade über die 70er Jahre reden, fällt mir ein, dass heute Nachmittag hier um die Ecke ein Straßenfest stattfindet. Man kann sich im Stil der 70er Jahre verkleiden«, erwähnte Seb beiläufig.
Keine Reaktion.
»Hättet ihr Lust, dahin zu gehen?«
»Rittermärkte kennen wir, da waren wir schon oft. Die sind cool«, begeisterte sich Phillip dann doch.
Seb bemühte sich redlich, ein Grinsen zu unterdrücken. »Also, ein Rittermarkt ist das sicher nicht, aber wir können ja trotzdem mal vorbeischauen. Es gibt da bestimmt viel Musik.«
Das Telefon klingelte. So ein Mist, es war Max.
»Hi Seb, wie geht‘s?«
»Eh… gut, wieso?«
»Ja, ich wollte nur fragen, ob du früher kommen kannst. Ich muss noch ein Dokument für das Vorstellungsgespräch ausdrucken und mein Drucker ... Du kommst doch, oder?«
Seb fühlte sich an alte Unizeiten erinnert. Wie oft war er eingesprungen, wenn Max seine Arbeiten auf den letzten Drücker zusammengeschrieben und alle Leute um Hilfe angefleht hatte. Auf Seb war Verlass und seine schwarze Liste bislang nicht mehr als eine Idee. Und überhaupt, was war das? Ein Bewerbungsgespräch am Samstag?
»Eh... Eigentlich passt es mir gar nicht. Eh… okay. Auf keinen Fall vor 12:00 Uhr.«
»Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann, Seb, bis nachher.« Schon hatte Max aufgelegt.
Seb überlegte. So ein Mist. Wie vertraut war das Gefühl, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Erst neulich hatte er der Nachbarin versprochen, ihre Pflanzen während ihres Urlaubs zu gießen. Spontan war er dann aber zu seinen Eltern gefahren, um ihnen mit der Installation einer neuen Telefonanlage zu helfen. Bei seiner Rückkehr fand er die Hälfte der empfindlichen Gewächse vertrocknet, und bei dem Versuch, Unterbliebenes wieder gutzumachen, hatte er viele der restlichen Pflanzen ertränkt. Die Nachbarin hatte seine Erklärungen kommentarlos zur Kenntnis genommen und Seb vermied es seitdem, ihr auf der Treppe zu begegnen.
Sebs Gedanken überschlugen sich. Was sollte er mit den Kiddies jetzt tun? Wem fühlte er sich mehr verpflichtet? Anja oder Max? Seb schaute an die Küchendecke und presste seine Lippen zusammen.
»Kinder, ich hab` hier ein Problem.«
»Und das sind wir. Das sieht doch jeder. Stimmt`s?« Die Ellenbogen auf dem Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, sah Clara Seb herausfordernd an.
»Blödsinn.«
»Das ist ja nichts Neues«, fuhr Clara fort. »Lass mich raten. Du hast Anja versprochen, auf uns aufzupassen, und jetzt ruft wieder so‘n Hansel an, der mit seinem PC nicht klarkommt. Natürlich ist das gaaanz, gaaaanz dringend«, folgerte Clara ernüchtert.
»Sag, mal hast du mein Handy abgehört?«
»Nein, aber dafür habe ich hellseherische Kräfte«, erwiderte Clara forsch.
»Schon gut, Clara, du hast recht. Max hat mich um Hilfe gebeten und ich habe zugesagt.«
»Not soll erfinderisch machen! Da bin ich ja mal gespannt«, spöttelte Clara.
»Ich hätte da so eine Idee«, mischte sich Phillip ein. »Clara und ich kommen alleine klar. Du brauchst bestimmt nicht lange. Und in der Zwischenzeit dürfen wir ein bisschen an deinem PC spielen.« Phillip sah Seb erwartungsfroh an.
Sebastian schwieg. Anjas PC war für die Kinder gesperrt und es wäre ein Leichtes für ihn, seinen so zu manipulieren, dass er sich nach einer Stunde unwiderruflich runterfahren würde.
Andererseits wollte er Anja gegenüber loyal bleiben und die war in puncto Computernutzung bei ihren Kindern sehr restriktiv. Er respektierte das, weil er selbst immer wieder die Erfahrung machte, wie leicht man sich beim Programmieren oder im Netz verlieren konnte. Zu oft hatte er sich durch diverse Seiten geklickt und am Ende vergessen, was er ursprünglich suchte. Zurück blieben Frust und das sichere Gefühl, Zeit vergeudet zu haben.
Einigen Andeutungen zufolge musste Anjas Ex in der Vergangenheit ausgesprochen nachgiebig in Hinblick auf den Medienkonsum der Kinder gewesen sein. So konnte Max nachvollziehen, warum Anja Clara und Phillip fortan schützen wollte. Die Versuchung, den PC als ›Babysitter‹ einzusetzen, war ungeheuer groß. Es wäre bequem gewesen!
Clara und Phillip beobachteten ihn erwartungsvoll.
»Ich nehm euch mit! Schließlich will Max etwas von mir!«
Doch die Begeisterung der Geschwister hielt sich in Grenzen.
»Hat Max Kinder?«
»Nö.«
»Was sollen wir dann da?«
»Weiß ich auch nicht. Aber ich glaube, die haben einen Hund.«
»Cool. Was für einen?«, erkundigte sich Phillip, doch Clara hakte sofort nach: »Warum glaubst du das nur?«
»Ich glaub‘s gar nicht mehr. Die kommen nämlich gerade aus Australien.«
»Glaubst du es nicht oder weißt du auch das nicht?«
»Nun werd mal nicht kiebig.«
»Hä?«
»Kiebig. Frech. Also, okay. Vielleicht haben sie ja ein Känguru mitgebra….«, Seb stockte, als er sah, wie Clara mit den Augen rollte.
»Okay. Wir kommen mit« sagte Phillip versöhnlich und auch Carla protestierte nicht weiter. Trotz der unvermittelten Zustimmung der Kinder wusste Seb, dass er, inmitten zweier lebendigen Kindern und gesprächigen Freunden, ein schwerwiegendes Computerproblem kaum würde lösen können. Hierfür brauchte er Ruhe!
Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen. Wo hatte er das neulich gelesen?