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1.8 Forschungsstand III: Geschichte und Mythos des Rütlis

1.8.1 Literatur

Die aktuelle Forschungslage zu Geschichte und Mythos des Rütlis präsentiert sich als recht günstig. Aus der lokal verwurzelten Historiografie-Tradition heraus entstanden 1998 die Texte für das Rütli-Memo, die 1998 eingeweihte Ausstellung in situ.[96] Josef Wiget, der ehemalige Staatsarchivar von Schwyz, stellte darin, wie schon in seiner Rütli-Broschüre von 1986, den quellenmässig belegbaren Ereignissen die Mythengeschichte an die Seite. Letztere entfaltet er, indem er den langfristig wirkenden Gebrauchscharakter des Mythos betont, dessen Einzigartigkeit hinterfragt und die oft angeführte Zielorientiertheit des Ursprungs und der nachfolgenden Entwicklung in Frage stellt. Die Urner Kantonsgeschichte von Hans Stadler-Planzer enthält ebenfalls ein Kapitel zur «Befreiungsgeschichte», die neben dem Rütli vor allem auf die Tellgeschichte fokussiert.[97] Mit dem gleichen Kanton verbunden war auch die Kunsthistorikerin Helmi Gasser, die bereits 1986 die bau- und kunstgeschichtlich bis heute massgebliche Beschreibung des Erinnerungsortes vorlegte.[98]

Die Aufführung von Schillers «Wilhelm Tell» auf der Rütliwiese im Jahr 2004 aktivierte die Rütli-Forschung gleich zweifach. Denn in diesem Zusammenhang veröffentlichten Kreis und Barbara Piatti ihre Monographien.[99] Während Piatti die Entstehung und Wirkungsgeschichte von Schillers Theaterstück «Wilhelm Tell» nachzeichnet, unternimmt es Kreis – mit wesentlichen Beiträgen von Wiget –, Entstehung, Tradierung und Weiterentwicklung von Denkmal und Mythos auszuleuchten und dabei die politische Inanspruchnahme und Instrumentalisierung aufzuzeigen. Seine Arbeit stellt er explizit in die Reihe der kulturgeschichtlichen Studien der «Lieux-de-mémoire»-Forschung.[100] Kreis interpretiert diese Orte eher als Produkte intuitiven Ursprungs denn als Resultate bewusst gemeinschaftsbildender Absichten – ganz im Sinne der «imagologischen Bastelei» nach Marchal.[101] Kreis wie Marchal distanzieren sich von der dominierenden Definitionsmacht des geschichtswissenschaftlichen Diskurses, wo normativ-hermeneutisch Denkmäler registriert und analysiert werden – und man dabei Gefahr läuft, die national-patriotischen Ideen des 19. Jahrhunderts weiterzuführen anstatt nach alltagsgeschichtlichen Realitäten zu fragen.[102]

Letzteres unternimmt Kreis in der Folge und beschreibt aus mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Perspektive den Gebrauch und die Bedeutung des Rütlis von den Anfängen bis in die Gegenwart. Dazu wertet er archivalisches Text- und Bildmaterials aus. Sowohl die konstruierten Bilder, die in das kollektive Bildgedächtnis aufgenommen wurden, als auch den alltäglichen, kollektiven Gebrauch teilt er in drei Dimensionen ein, in eine politische, sakrale und militärische.[103] Kreis legt anhand einer Sammlung von bildlichen Darstellungen dar, dass das Schwören – die metaphysische Verankerung des Staates – und das Rütli zu einer so starken Einheit verschmolzen, dass sich der Rütlischwur vom restlichen Teil der Gründungs- und Befreiungsgeschichte abtrennte und zu einer selbstständigen Bildchiffre geworden ist.[104] Dieses Bild stellt den ursprünglichen Kristallisationspunkt und Referenzpunkt der darauffolgenden Schweizer Geschichte dar.

2009 legte Roger Sablonier eine quellenkritische Interpretation des Bundesbriefs vor, indem er den Bundesbrief (und damit den vermeintlichen Rütlischwur) im Innerschweizer kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext des 12. und 13. Jahrhunderts verortet.[105] Mit mediävistischer Sorgfalt differenziert er die in den 70er-Jahren von Marchi[106] eingeleitete Dekonstruktion des Mythos und weist den Bundesbrief als im 13. Jahrhundert gängigen Versuch aus, den Landfrieden zu sichern – konspirative, adelsfeindliche oder staatsbildende Facetten lassen sich darin nicht finden.

Historiografisch dicht bearbeitet ist auch Guisans Rütli-Rapport von 1940. Auf die kritische Würdigung Guisans im vierten und fünften Band von Edgar Bonjours monumentaler Geschichte der schweizerischen Neutralität von 1970 folgte das bis heute gültige Grundlagenwerk, die umfangreiche Guisan-Biografie von Gautschi aus dem Jahr 1989, die dem Rapport ein längeres Kapitel widmet.[107] Spätestens der Bergier-Bericht von 2002 dekonstruierte den Réduit-Mythos, weil er das komplexe Beziehungsgeflecht von Wirtschaft und Politik zwischen der Schweiz und den Achsenmächten aufzeigte.[108] In jüngster Zeit erschienen zwei weitere, kürzere Biografien, denen eine grundsätzlich apologetische Haltung eigen ist. Das gilt sowohl für die auf das 75-Jahr-Jubiläum des Rapports hin erschienene Publikation der emeritierten Rechtsprofessorin und Altnationalrätin Suzette Sandoz und des Historikers Pierre Streit als auch für den Beitrag von Markus Somm.[109] Dieser zeichnet zwar ein durchaus kritisches Bild des Generals, verklärt aber dessen Rolle sowie die Wirkung des Rapports, ohne sie wirklich zu untersuchen.

1.8.2 Das erzählte Rütli im Überblick

Es liegt nicht im Fokus dieser Arbeit, eine monografische Geschichte des Rütlis von den Ursprüngen bis zur Einrichtung des Denkmals ab 1860 darzustellen. Dennoch gibt dieses Kapitel einen orientierenden Überblick über die wesentlichen Stationen des Rütlis vor allem als ideellem Ort.[110] Ein erster Schwerpunkt liegt dabei auf dem Zeitraum, welcher der Einrichtung des Rütlis als Denkmal vorangeht. Ein zweiter kontextualisiert die Entstehung des Denkmals, gefolgt von einem dritten, der das Referenzereignis der zweiten mythischen Bedeutung des Rütlis, des Rütli-Rapports, darstellt. Eine weitergehende geschichtliche Kontextualisierung der Gestaltung und des Gebrauchs des Denkmals erfolgt situativ im Verlauf der Untersuchung.

Für die konkrete rechts- und baugeschichtliche Entwicklung des Grundstücks, die urkundlich im 14. Jahrhundert einsetzt, sei auf Kapitel 3 verwiesen. Der mythengeschichtliche Strang seinerseits beginnt im 15. Jahrhundert mit dem viel zitierten Eintrag im «Weissen Buch von Sarnen», verfasst um 1470/72. Hier wird das Rütli erstmals als Ort geheimer Zusammenkünfte Innerschweizer Verbündeter bezeichnet; die Schwurhandlung ist Teil der gesamten Gründungssage, deren wesentliche Elemente die Unterdrückung der Bauern, die Verschwörung, die Tell-Geschichte und der Burgenbruch bilden. Nachfolgende Chroniken nehmen den gründungsgeschichtlichen Kanon auf, variieren aber die zeitliche Einordnung. Dass die Historiografen gerade im 15. Jahrhundert begannen, die weit zurückliegenden Ereignisse zu erzählen, dürfte dem Bedürfnis nach Legitimation gegen aussen geschuldet sein. Impliziter Adressat war das Haus Habsburg, von dessen Zugriff sich die Innerschweizer mittels öffentlicher Bündnisse, die es auch andernorts gab, im Wesentlichen befreit hatten. Die Gründungssage kann so von Anfang an als «imagologische Bastelei» im Sinne von Marchals Gebrauchsgeschichte verstanden werden.[111] Besonders im Kanton Uri erfuhr sie im 16. Jahrhundert eine Blütezeit.[112] Einen kanonischen Meilenstein der Erzählung schuf der Glarner Magistrat und Chronist Ägidius Tschudi in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Tschudi war kein gutgläubiger Erzähler von Mythen, sondern dank seiner methodischen Qualifikation und der umfassenden Archivforschungen ein ernstzunehmender Historiker. Eine einschlägige Quelle zur Gründungszeit hingegen fand er nicht und kompensierte diese Lücke durch zwar gelehrte, aber beleglose Konstruktionen, indem er beispielsweise den Rütlischwur auf Mittwoch vor Martini datierte, also auf den 7. November 1307.[113] Auch Tschudi widerspiegelt Strömungen seiner Zeit insofern, als seine Erzählung einerseits der aufkeimenden humanistischen Nationalidee entsprach, andererseits dem anhaltenden Bedürfnis nach antihabsburgischer Legitimation. Die ersten historisch nachweisbaren Nutzungsabsichten des Rütlis fanden 1674 und 1704 statt, als Gefahr von aussen resp. Uneinigkeit unter den Eidgenossen drohte.[114] 1713 folgte eine eigentliche Innerschweizer Landsgemeinde als Reaktion auf den verlorenen Zweiten Villmergerkrieg; die gemeinsame Notlage führte zu einem symbolischen Zusammenstehen.

Im aufkommenden Aufklärungs- und Reformpatriotismus des 18. Jahrhunderts nahm das Rütli eine zentrale, politische Referenzfunktion ein für das neue, nationale Selbstbild.[115] Im Kontext des aufkommenden Tourismus und als Uminterpretation der «Tour d’Europe» entstand die «Schweizerreise» für die Schweizer selbst, die so eine politisch-staatsbürgerliche Bedeutung erhielt, welche die Idee einer nationalen Einheit erfahrbar machen sollte – und das Rütli als eine der häufigen Stationen enthielt. Insgesamt trat es aber geschichtskulturell als konkreter Ort zurück hinter das ideelle Schwurmotiv, ein imaginiertes «lieu de mémoire». In diese Zeit fallen nicht nur zwei Denkmalprojekte, sondern auch die Publikation der «Geschichten der Schweiz» von Johannes von Müller.[116] Beeinflusst vom aufklärerischen Patriotismus und Tschudi rezipierend, tradierte er den Gründungsmythos weiter. In den Revolutionsjahren um 1800 beriefen sich sowohl bewahrende als auch fortschrittliche Kräfte auf die drei schwörenden Eidgenossen: 1798 versuchten die Urner vergeblich, durch die Einberufung einer Innerschweizer Landsgemeinde das nahende Unheil abzuwenden, praktisch gleichzeitig pilgerten Vertreter der neuen helvetischen Regierung auf das Rütli, um den vermeintlichen Ursprüngen der Helvetik zu huldigen.

Die steigende Popularität des idyllischen Rütlimotivs in der Restaurations- und Regenerationszeit dürfte der nationalromantischen Strömung geschuldet sein, die ihren Ausdruck nicht nur in einer grösseren Zahl von Stichen und Gemälden fand, sondern auch im Rütlilied, das 1820 seine Uraufführung erlebte. Wie in der Revolutionszeit reklamierten die einander gegenüberstehenden politischen Kräfte den Schwur und seinen Ort für sich. Die Rütli-Bezugnahmen der schweizweit entstehenden Vereinsgründungen, die zum wichtigen Motor wurden für die nationale Idee, waren ebenso zahlreich wie die Indienstnahmen der Wiese durch konservative Kräfte, die sich auf diese Weise gegen liberale Bestrebungen wehrten. Noch nicht auf dem Rütli, aber in dessen Nähe entstanden aus diesem politischen Gegensatz zwei Denkmäler. Das glanzvolle «Aristokratenfest», in dessen Rahmen 1821 das aussergewöhnliche Löwendenkmal in Luzern, errichtet für die gefallenen Schweizer Söldner im revolutionären Paris 1792, enthüllt wurde, stellte «die machtvollste kulturpolitische Veranstaltung der Restauration in der Schweiz»[117] dar – mit dem Winkelrieddenkmal dagegen entstand in Stans in den Jahren 1853 bis 1865 nach einem national durchgeführten Wettbewerb das erste Nationaldenkmal des 1848 gegründeten liberalen Bundesstaats.[118] Das schweizerische Nationalbewusstsein wurde mit diesem Denkmal genauso befördert wie wenig später mit dem Rütli und weiteren Symbolträgern. Der Rückgriff auf das Mittelalter sollte historische Legitimation verschaffen und gleichzeitig als Versöhnungsgeste den 1847 im Sonderbundskrieg unterlegenen, mehrheitlich Innerschweizer Kantonen eine zentrale, wenn auch symbolische Funktion bei der Staatsbildung zuweisen.[119] Damit wurde die Schweiz gleichermassen vom «Mythisierungsschub des 19. Jahrhunderts»[120] erfasst wie die anderen europäischen Nationen.[121] Wie schon das Winkelried-Denkmal entsprang auch der Rütli-Kauf einer Zürcher Initiative. War es beim Ersteren der freisinnige Politiker Jakob Dubs, lancierte bei Letzterem die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft die Idee. Dieser 1810 in Zürich gegründete Verein verfolgte aufklärerisch-patriotische, gemeinnützige Ziele, indem er sich für die Förderung von Bildung und Erziehung sowie wirtschaftlichen Fortschritt engagierte. Er galt als Diskussionforum reformorientierter Eliten und wirkte dadurch national integrierend und staatstragend.[122]

Die Uraufführung von Schillers Tell-Drama 1804 in Weimar wurde in der Schweiz zunächst kaum rezipiert, dennoch markiert sie einen für die Mythenformung und -wirkung zentralen Schritt: Das Theaterstück verlieh dem sich formenden schweizerischen Nationalstaat eine literarisch gefasste Meistererzählung, die zum stärksten und wirkungsmächtigsten Multiplikator des Mythos wurde. Schillers Freiheitsdrama trug wesentlich bei zur mythischen Aufladung und Möblierung der Innerschweizer Landschaft mit Denkmälern (Bild 1), einer Landschaft, die zudem Kristallisationspunkt einer neuen Naturbegeisterung wurde in Kombination mit der Gründungsgeschichte, welche die Bewohner als einfaches, aber freies und glückliches Volk erscheinen liess.[123] Praktisch zum gleichen Zeitpunkt, wie die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft den Rütli-Kauf organisierte, weihten die Innerschweizer Kantone den Schillerstein ein, eine natürliche, beim Eingang zum Urnersee an markanter Lage stehende Steinpyramide, die in ein Denkmal zu Ehren Schillers umgestaltet worden war. Gut zwei Jahrzehnte später schuf der Historienmaler Ernst Stückelberg in der Tellskapelle einen neuen Freskenzyklus, der zentrale Szenen aus Schiller darstellte. Ursprünglich geplant als Beitrag des Kantons Uri zur 600-Jahr-Jubliäumsfeier der Eidgenossenschaft, konnte das Telldenkmal in Altdorf erst 1895 eingeweiht werden.[124] Durch diese Figurengruppe, die bald – genauso wie die Stückelberg-Fresken – zur nationalen Ikonografie zählte, erhielt die Urschweizer Befreiungstradition endgültig eine nationale Überhöhung und zugleich – durch ein Schiller-Verszitat am Sockel – eine weitere explizite Schiller-Reminiszenz. 1899 kam als weitere Attraktion das Altdorfer Tellspielhaus dazu, wo bis heute Schillers Drama regelmässig aufgeführt wird. Ab 1906 verkehrte auf dem Vierwaldstättersee das neue Dampfschiff «Schiller», und mit etwas Abstand folgte in den 1930er-Jahren die Restaurierung der sogenannten Hohlen Gasse; sie liegt indessen nicht am Urnersee, sondern in der Nähe des Küssnachter Beckens.[125]

Eine weitere, geradezu objektivierte Aufwertung des Gründungsmythos initiierte der Bundesrat 1889.[126] Angeregt durch die auf 1891 festgesetzte Berner 700-Jahr-Gründungsfeier, aber auch durch den seit 1890 von der Arbeiterschaft regelmässig begangenen 1. Mai liess er eine im 18. Jahrhundert entdeckte, aber seither wenig beachtete Urkunde, datiert auf 1291, wissenschaftlich untersuchen und deuten, und zwar vom radikal-liberalen Jurist Carl Hilty und Wilhelm Oechsli, Geschichtsprofessor der ETH Zürich. Die als neues Gründungsdokument uminterpretierte Urkunde von 1291, der sogenannte «Bundesbrief» und zugleich «Nationalreliquie»[127], ersetzte nicht nur das von Tschudi imaginierte Datum von 1307, sondern auch die Vorstellung einer Verschwörung, die der Nationswerdung zugrunde gelegen haben soll. Vielmehr schien sie auf einem schriftlich fixierten Rechtsdokument zu basieren, das indes weder Eigennamen von Beteiligten, ein Ereignis noch einen Ort enthielt, geschweige denn den Schwur, Tells Heldentat oder den Burgenbruch erwähnte. Diese wissenschaftlich überformte Verschmelzung, wonach der Schwur am 1.8.1291 auf dem Rütli stattgefunden und die Schweiz begründet habe, ist bis heute wirksam.[128] Abgesehen von der fälschlichen Gleichsetzung trifft auch die Begrifflichkeit der Gründung nicht zu. Denn die Urkunde, der «Bundesbrief», bildet nur eines von vielen Bündnissen, die in ihrer unvorhersehbaren und alles andere als linearen Entwicklung schliesslich zur Gründung des Bundesstaats führten.

Gerade in den 1930er-Jahren, im Kontext der «Geistigen Landesverteidigung», gewannen das Rütli und der Schwur erneut an Gewicht. Die frontistischen Bewegungen sahen in den drei Rütli-Verschworenen heilbringende Volksführer. Diesem frontistischen Verlangen nach Erneuerung wurde die generationsübergreifende Tradierung, wie sie in den drei Rütli-Eidgenossen verkörpert waren, entgegengehalten. Die Historiografie ihrerseits bemühte sich, die historische Authentizität der Gründung zu belegen. Als Höhepunkt der «Geistigen Landesverteidigung» kann neben der «Landi», der grossen Landesausstellung in Zürich von 1939, die 650-Jahr-Feier in Schwyz und auf dem Rütli (Bilder 60 und 61) und der Rütli-Rapport von 1940 (Bild 2) auf dem Rütli gelten. General Henri Guisan versuchte damit, das Offizierskorps der Armee auf Widerstandsbereitschaft einzuschwören, und knüpfte durch die Wahl des Ortes an dessen mythischem Symbolwert an in der Hoffnung, ein neues, identitätsstiftendes Bild zu kreieren. Die militärische Lage der Schweiz war nämlich zu Kriegsbeginn äusserst prekär. Nachdem Frankreich im Frühjahr 1940 wenige Wochen nach dem deutschen Angriff kapituliert hatte, fand sich die Schweiz nunmehr umgeben von den Achsenmächten und deren besetzten Gebieten. In dieser Lage höchster Unsicherheit und Bedrohung entschied sich Guisan, die bereits im Vorfeld des Kriegs beschlossene Verteidigungsstrategie weiterzuführen. Die Idee des Réduits beinhaltete, dass bei einem deutschen Angriff die militärische Abwehrkraft in den zentralen und wirksam zu verteidigenden Alpen konzentriert würde – bei gleichzeitiger Preisgabe der wirtschaftlich und kulturell essenziellen Gebiete im vorgelagerten Mittelland.[129] Mit der zu diesem Zeitpunkt fast ausschliesslich aus Infanterietruppen bestehenden Schweizer Armee schien diese dissuasive Strategie eine realistische Verteidigungsoption darzustellen. Ab Juli 1940 verschob die Armee erste Truppenteile, mit dem sogenannten Réduitbefehl kurz vor Ende des Monats verlagerte sich ein grosser Teil der Armee in den zentralen Alpenraum.[130]

Um den Kommandanten der Armee seine teilweise umstrittene Réduit-Strategie zu erläutern sowie die Notwendigkeit des Widerstands darzulegen, beorderte Guisan 650 höhere Offiziere auf den 25. Juli auf das Rütli.[131] Die Ortswahl begründete er im Nachhinein: «Ich hätte das ja in irgendeinem Lokal oder auf irgendeiner anderen Wiese tun können, bei Morgarten vielleicht oder bei Sempach – doch, nein, es musste hier geschehen, auf der Rütliwiese, an der Wiege unserer Unabhängigkeit, auf dem Boden, der jedem so vieles vor dem geistigen Auge heraufbeschwören musste. Ich war überzeugt, dass dort jeder mich besser als irgendwo anders verstehen würde.»[132] Verordneter Treffpunkt für die Teilnehmer war die Schifflände in Luzern, von wo aus das Dampfschiff «Luzern» gemäss Marschbefehl zum Rütli fuhr.[133] Auf der Wiese hielt der General eine Ansprache. Quellen zu diesem bedeutungsvoll gewordenen Ereignis sind rar. Aufnahmen der Rede Guisans gibt es keine, der Wortlaut seiner frei gehaltenen Rede deckte sich wohl nicht mit dem Armeebefehl, der aus der Feder von Bernard Barbey stammen dürfte, dem persönlichen Stabschef des Generals, und der als 26-seitiges Dokument den Teilnehmern nach dem Rapport ausgehändigt wurde.[134] Ansonsten erstaunt es, wie widersprüchlich und auch unsicher sich die Augenzeugenberichte präsentieren.[135] So ist bis heute umstritten, in welcher Sprache der General sprach, wie viele Teilnehmer effektiv dabei waren und wie das Wetter war. Hier hilft eine zweite Hauptquelle weiter, die den Rapport dokumentiert. Es sind die Fotografien, die der junge, aufstrebende Fotograf Theo Frey schoss. Auf ihrer Basis lässt sich rekonstruieren, dass es nicht strahlend sonniges Wetter war, sondern bedeckt, dass nicht 650 Offiziere auf der Wiese standen, wie Guisan – wohl in Anlehnung an den bevorstehenden 650. Jahrestag der eidgenössischen Gründung – selbst behauptete, sondern zwischen 420 und 485. Theo Frey lichtete die Versammlung auf der Wiese in verschiedenen Aufnahmen ab. Auf seinen Fotografien ist zum einen die aufgezogene Schweizerfahne auf der Rütliwiese gut erkennbar, zum anderen flankiert das Banner des Urner Bataillons 87 die Versammlung.[136] Weiter sind die Offiziere auf der Wiese so gruppiert, dass sie während der Ansprache des Generals auf den See und die am anderen Ufer verlaufende Gotthard-Eisenbahnstrecke sahen. Damit hatten sie insgesamt sowohl die Begründung als auch das Vorgehen für die Verteidigung stets vor Augen – eine symbolische Inszenierung der Réduit-Strategie.[137] Der Rapport liess sich so als Reminiszenz deuten, als Neuauflage des Befreiungsdramas, in dem Offiziere als Darsteller oder Statisten eines historischen Ereignisses fungierten.[138]

Wie wurde der Rapport von Zeitgenossen wahrgenommen? Rasch und vor allem negativ reagierten die diplomatischen Vertreter von Deutschland und Italien, so Streit, der deutsche Staatssekretär von Weizsäcker drohte mit ernsthaften Konsequenzen, der Aussenminister Ribbentrop richtete eine Protestnote an die Schweizer Regierung.[139] Fuhrer und vor allem auch Gautschi dagegen beurteilen die deutsche Reaktion als moderat.[140] Ein Indiz dafür sehen sie in den zwei Wochen, die Ribbentrop verstreichen liess, bis er dem Bundesrat die Protestnote überreichen liess.[141] Der Bundesrat reagierte beschwichtigend und zog einer schriftlichen eine mündliche Stellungnahme vor. Die britische und amerikanische Presse hingegen begrüsste die Positionierung Guisans. Der Nachhall in der Schweizer Bevölkerung war, gemäss Streit, gross gewesen sein, nachdem der Militärstab erst drei Tage später informiert hatte.[142] Diesem nur punktuell und individuell belegten Eindruck steht die nachweisbare mediale Publizität gegenüber, die Guisans Aktion ausgelöst hatte. Nur die Hälfte der grösseren Zeitungen berichteten auf der Titelseite über den Rapport, die NZZ, die Basler Nachrichten und die Gazette de Lausanne platzierten den entsprechenden Beitrag weiter hinten im Blatt.[143] Nach Streit war es vor allem die persönliche Weitergabe durch die Offiziere und deren Truppen, welche die Botschaft des Generals in die breite Bevölkerung trug – was wohl der Absicht des Generals entsprach. Aus Sicht der Meinungsforscher der Armee erwies sich diese Inszenierung Guisans als genauso wirkungsvoll wie seine Ansprache zum 1. August in Morgarten: «Ihre Wirkung auf Elite und Volk war ausserordentlich und tief. Das unbedingte Bekenntnis zur Landesverteidung hat eine neue Welle des Zutrauens und des Verteidigungswillens geschaffen. An Stelle von Unsicherheit ist wieder Sicherheit getreten.»[144] Unklar bleiben in diesem Bericht die Kriterien, anhand derer diese Wirkung hätte gemessen werden konnte.

Die Mythenbildung setzte kurz nach Ende des Kriegs ein. Denn dass die Schweiz praktisch ganz vom verlustreichen Kriegstreiben verschont geblieben war, bedurfte der Erklärung. Und diese Erklärung wurde im Bild des Réduits als «erfolgreichem Selbstbehauptungskonzept eines dauernd neutralen Staates» gefunden, eine Monokausalität, die dank ihrer Einfach- und Eindeutigkeit rasch geschichtskulturellen Niederschlag fand, beispielsweise in Geschichtslehrmitteln.[145] Komplexere Begründungszusammenhänge, die das Beziehungsgeflecht von Wirtschaft und Politik aufzeigten, blieben undiskutiert.[146] Speziell die Visualisierungen, die Aufnahmen von Theo Frey, wurden zu ikonischen Bildern dieser offiziellen Sicht auf die Zeit während dem Zweiten Weltkrieg. Während die unmittelbare Nachkriegszeit beide Mythen hochhielt, begann Ende der 1960er-Jahre deren Dekonstruktion. Die Infragestellung der mittelalterlichen Gründungsgeschichte hatte bereits im 18. Jahrhundert eingesetzt, verdeutlicht und präzisiert durch den Luzerner Historiker Eutych Kopp in dessen nach 1830 erschienenen Publikationen, die jedoch auf wenig Echo stiessen. Erst Otto Marchis «Schweizer Geschichte für Ketzer» von 1969 stiess Tell vom Sockel und kritisierte die idealisierte Demokratievorstellungen zum Rütlischwur, ohne dessen Historizität anzuzweifeln.[147] Ähnlich gewichtete auch Max Frisch seine Kritik in «Wilhelm Tell für die Schule», wo er den Nationalmythos ebenfalls von Tell aus dekonstruierte.[148] In der Wendezeit um 1990 sah sich die wohlstandsverwöhnte und deshalb auf Kontinuität bedachte Schweiz mit aussen- und innenpolitischen Altlasten des beendeten Kalten Kriegs konfrontiert.[149] Die Feierlichkeiten zum 700-Jahr-Jubiläum, eröffnet auf dem Rütli, fielen in diesem Kontext zweispältig aus. Gegen Ende des Jahrhunderts schliesslich prägten rechtsextreme Gruppierungen die Bundesfeier auf dem Rütli und prägten dessen kollektive Wahrnehmung stark.

Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass Ende des 15. Jahrhunderts die Überlieferung der Gründungs- und Befreiungssage einsetzte und im darauffolgenden Jahrhundert ihre kanonische Ausgestaltung erhielt. Von Beginn an fundierte die Gründungsgeschichte – der Ort hingegen kaum – die innenpolitische Legitimation und das Selbstverständnis bei gleichzeitiger aussenpolitischer Abgrenzung. Im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert führten aufklärerischer Patriotismus und nationalromantische Strömungen zu einer ideellen Aufladung des Rütli, auf das sich gleichermassen progressive und konservative Kräfte bezogen. Auch deshalb griff der neue, liberal geformte Bundesstaat von 1848 auf die mittelalterliche Gründungs- und Heldengeschichte zurück, ein Rückgriff, der als Legitimationsanspruch und Versöhnungsgeste dienen konnte. Eine weitere mythische Aufladung der Landschaft rund um den Vierwaldstättersee hatte bereits Schillers Theaterstück «Wilhelm Tell» besorgt, eine Wirkung, die durch die politische und touristische Entwicklung verstärkt und in mehreren Denkmälern objektiviert wurde. 1891 schliesslich erklärte der bürgerliche Bundesrat den 1. August 1291 zum Gründungsdatum der Schweiz, ein Datum, das sich rasch mit dem Schwur resp. dessen angeblichen Ort verband. In der Zwischenkriegszeit verstärkte sich die Bedeutung des Gründungsmythos, denn zentrale Ideen der von bürgerlicher Seite getragenen «Geistigen Landesverteidigung» bezogen sich auf die mittelalterliche Befreiungstradition, die aufgrund der äusseren Bedrohung als Unabhängigkeitstradition gedeutet wurde und im Rütli-Rapport ihren symbolträchtigen Ausdruck fand. Dessen Wirksamkeit entfaltete sich nach dem Zweiten Weltkrieg und stand emblematisch für die kollektive Überzeugung, dass die Schweiz dank ihrer militärischen Stärke vom Krieg verschont geblieben war – ein Mythos, den Historiker seit den 1960er dekonstruierten und der durch das Ende des Kalten Kriegs erst recht in Frage gestellt wurde. Seit Ende des Jahrhunderts prägten rechtsextreme Gruppierungen die Bundesfeier auf dem Rütli und damit wesentlich dessen kollektive Wahrnehmung.

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9783035512663
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