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1 Theoretische Rahmung, Forschungsstand und Fragestellungen

1.1 Theoretische Rahmung I: Hettlings Konzept des «Erlebnisraums»

Bilder und Vorstellungen der eigenen Gesellschaft formen und verändern sich durch das Zusammenspiel von Gedächtnis, Identität und sozialer Wirklichkeit.[6] Gerade bei Denkmalanalysen spielen diese Dimensionen eine wichtige Rolle: Nicht nur das Denkmal als solches bildet den Untersuchungsgegenstand, sondern vielmehr der Umgang der Besuchenden damit und ihr Wissen darüber. Als theoretischer Rahmen für solche Analysen bietet sich die zentrale Kategorie des «Erlebnisraums» an, den Hettling vorschlägt in Anlehnung an Wilhelm Diltheys Erlebnisbegriff und an die kulturanthropologischen Ritualtheorien von Mary Douglas und Victor Turner. Demnach beinhaltet menschliches Verhalten stets eine soziale und eine symbolische Dimension. Der sozialgeschichtlichen resp. soziodemografischen Perspektive steht die Frage nach symbolischen Zeichen und Strukturen gegenüber. Hettling plädiert dafür, dass gerade die Letzteren bei der Analyse menschlicher Handlungen mitberücksichtigt würden, sei es in Form symbolischer Visualisierungen (zum Beispiel Fahnen, Rituale) oder in Form diskursiven Gedenkens (zum Beispiel Reden); denn solche Symbolsysteme bildeten wichtige Orientierungs- und Ausdrucksschemata innerhalb einer Gesellschaft. Dies führt zu der für den «Erlebnisraum» konstitutiven Trias von Denkmal, Mythos und Fest, die Hettling deduktiv am Beispiel eines konkreten Denkmals entwickelt.[7] In diesem Raum kann ein Mensch gedeutete Vergangenheit selbst erfahren, Vergangenheit nachspielen oder nachgespielt sehen: Das erzeugt Emotionen und ermöglicht Erinnerung resp. Gedenken, in Kurzform: Ohne Emotion keine Tradition. Um ein solches «Erlebnis» im historischen Längsschnitt zu analysieren, schlägt Hettling dementsprechend drei untereinander verbundene, kulturanthropologisch fundierte Analysedimensionen vor: a) das Ritual, also die symbolische Praxis und ihre Akteure, die dramatische Inszenierung, die verbal, begrifflich oder auch handelnd erfolgen kann, b) politische Emotionen, evoziert durch Sentimentalisierung oder Poesie mit dem Ziel affektueller Bindungen zum Staat, und c) die individuelle historische Erinnerung resp. das historische Gedenken von Akteuren und deren Weitergabe von Wissen, befördert durch den emotionalen Gehalt.[8] Dieses Erlebnis ist überdies, wie erwähnt, an einen bestimmten Raum gebunden, der nicht original sein, aber über die Aura der Authentizität – verstärkt etwa durch die Präsenz eines Denkmals – verfügen muss.

Die Überprüfung resp. Fruchtbarmachung von Hettlings Konzept ist bis heute weitgehend ein wissenschaftliches Desiderat geblieben. Einzig Demantowsky hat es aufgenommen und für die Geschichtsdidaktik anschlussfähig gemacht, indem er das «Erlebnis» mit dem lernpsychologischen Begriff des kognitiven Bruchs in Verbindung bringt.[9] Diese für das geschichtsdidaktische Konzept des historischen Lernorts grundlegende Wendung setzt er jedoch nicht um, wenn er Hettlings Trias von Mythos, Denkmal und Ritus – also Hettlings Fest – exemplarisch am österreichischen Kleinwetzerdorfer Heldenberg durchspielt. Inwiefern dieser historische Lernort Lernen bewirken kann, bleibt offen – eine Lücke, die auch die vorliegende Arbeit kaum zu füllen vermag.

Um ein empirisch operationalisierbares Analysegerüst für die vorliegende Untersuchung zu entwickeln, gilt es, Hettlings fundierende Trias und seine drei vorgeschlagenen Dimensionen Mythos, Denkmal und Ritual durch weitere Theoriebezüge zu differenzieren und zu konkretisieren.

1.2 Theoretische Rahmung II: Gebrauchsgeschichte und Mythen

Im Kontext des 700-Jahr-Jubiläums der Eidgenossenschaft von 1991 beschäftigte sich die Schweizer Geschichtswissenschaft intensiv mit Repräsentationsformen der Nation. Daraus entstand eine ganze Reihe von Studien, welche Ideologien und Leitbilder sowie deren visuelle und textuelle Repräsentation beschreiben und analysieren. Diese sind für das vorliegende Projekt von besonderem Interesse.[10] Als bedeutsam hervorzuheben sind zwei Beiträge. Guy P. Marchal und Aram Mattioli unterstreichen, dass einerseits die für die Selbstdarstellung und -vergewisserung inszenierten Bilder der Vergangenheit häufig nicht identisch seien mit der geschichtswissenschaftlich fundierten Darstellung; andererseits erwiesen sich die Repräsentationen stets als orts- und zeitgebunden.[11] Marchal richtete sein Augenmerk in einem weiteren Schritt auf die beobachtbaren Mechanismen, wie Wissen und Vorstellungen über die Nation und ihre Geschichte verwendet werden.[12] Mit dem Begriff der Gebrauchsgeschichte rückte er statt der «Geschichte», der Inhalte, nunmehr deren «Gebrauch», also deren Produktions- und Verwendungs-, ja Instrumentalisierungsprozesse in den Vordergrund. Er definiert seinen Leitbegriff als Geschichte, «die der nationalen Identität dient, sei es als Nationalgeschichtsschreibung, die dem Staat eine zielgerichtete Entwicklungsgeschichte hin zum aktuellen Zustand verpasst, um diesen historisch zu begründen; sei es in Form allgemeiner historischer Vorstellungen und im Bewusstsein lebendiger Geschichtsbilder, die das Selbstwertgefühl, das Bewusstsein einer nationalen Identität stützen und fördern».[13] Gebrauchsgeschichte hat also dienenden Charakter, sie wird zur Identitätskonstruktion eingesetzt, sei es in Form ganzer nationaler Epen, sei es als identitätsstiftende Geschichtsbilder. Gebrauchsgeschichte wird von mannigfachen Akteuren verwendet, verändert, instrumentalisiert und ist daher einer permanenten Umformung unterworfen. Um die Wirkungsweise der Gebrauchsgeschichte zu verdeutlichen, führt Marchal den Begriff der Geschichtsbilder ein, geschichtliche Vorstellungen, die er auch als «imaginaire historique» bezeichnet.[14] Er versteht darunter «die im Selbstverständnis oder Nationalbewusstsein einer staatlichen Gemeinschaft eingelagerten und darin weiterlebenden Geschichtsbilder».[15] Diese Bilder stimmten oft nicht mit dem geschichtswissenschaftlichen Kenntnisstand überein, vielmehr sind es geradezu Historiengemälde im Kopf, die einen gewünschten Erkennungseffekt ermöglichen, Gefühle ansprechen, Assoziationen auslösen – und sind geprägt durch die jeweils aktuelle, soziale, kulturelle und politische Verfasstheit der Gesellschaft.

Marchal verortet seine Gebrauchsgeschichte also nicht im Kontrast zur wissenschaftlich gestützten Geschichtsschreibung, sondern untersucht deren Eigenschaften, Funktionsweisen und Wirkungen. Dabei stellt er nicht nur Parallelen mit dem Konzept der Geschichtskultur fest, sondern auch mit demjenigen der Erinnerungsorte: Die Frage nach dem Gebrauch scheidet tatsächliche Erinnerungs- und Gedenkorte von den bloss geschichtswissenschaftlich bestimmten.[16]

Eine paradigmatische Ausprägung von Marchals Gebrauchsgeschichte stellen politische Mythen dar. Deren grundlegende Merkmale beschreiben Etienne François und Hagen Schulze, indem sie die europäischen und amerikanischen Erzählungen vergleichen.[17] Demnach ist der politische Mythos in der Totalität der Zeit verortet, indem er in einer unbestimmten Vergangenheit spielt, auf die Gegenwart und Zukunft übertragbar ist und auf diese Weise eine grosse Kontinuität der dargestellten Nation widerspiegelt. Weiter wird die mythische Erzählung als eigentliche Geschichte verstanden, welche die Nation mit der Idee von Unabhängigkeit und Souveränität begründet und in einem christlichen Kontext entstehen lässt. Schliesslich, und diese Eigenschaft ist besonders bedeutsam, wird die Gemeinschaft, also die Nation, als einzigartige Schicksalsgemeinschaft geschildert, die sich von allen anderen Gemeinschaften wesentlich und positiv abhebt – ein «Wir» lässt sich damit von einem «Sie» abgrenzen.

Herfried Münkler seinerseits fokussiert in seiner grundlegenden Studie zu den deutschen Mythen auf die Wirkungsweise, den Gebrauchsaspekt der politischen Ursprungs- und Bewährungserzählungen.[18] Sie bilden die symbolische Grundlage eines Gemeinwesens und wirken auf das identitätsstiftende kollektive Gedächtnis ein – und umgekehrt: Politische Entwicklungen können dazu führen, dass sich Narrative verändern. Solche Prozesse manifestieren sich in drei verschiedenen Formen, der erzählten Form, also der Narration, der architektonischen, dem Denkmal, sowie der ritualisierten, dem Fest, eine Trias, die derjenigen von Hettlings «Erlebnisraum» entspricht.[19] Grundsätzlich stellt Münkler fest, dass ein Mythos seine Kraft nur zu entfalten vermöge, wenn er in allen drei Formen seinen Ausdruck erhalte. Greifen nun politische Akteure die bestehende Ordnung an, erringen die Macht oder scheitern an der etablierten, kann sich dies darin niederschlagen, dass Denkmäler gestürzt oder umgestaltet, Rituale neu geformt, mythische Narrationen neu erzählt werden. Dabei kommt Letzteren eine zentrale Funktion zu. Ihnen fehlen feste Konturen, weshalb sie in Form und Bedeutung wandelbar, also narrativ variabel sind.[20] Es ist genau diese Veränderbarkeit, so die Hypothese Münklers, durch welche die Narrative eher Veränderungen befördern resp. nachzeichnen, während Bilder und Denkmäler sowie die mit dem Mythos verbundenen Feste einen überwiegend bewahrenden Charakter haben. Umgekehrt vermögen gerade in einem demokratischen Staatswesen führende politische Schichten eher die ikonische Verdichtung und rituelle Inszenierung zu beeinflussen als die Erzählungen, deren Verfügbarkeit nicht eingeschränkt werden darf. Wenn die erzählten Mythen hingegen ihre Kraft verlieren – solche Prozesse können zäsurartig rasch oder erodierend langsam verlaufen –, büssen der Ort und auch die praktizierten Rituale ihre Bedeutung ein. Diese von Münkler beschriebenen Mechanismen sind direkt anschlussfähig an Hettlings Konzept des «Erlebnisraums» und dienen ebenfalls als theoretisches Raster für die Denkmalanalyse.

1.3 Theoretische Rahmung III: Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein

Die erwähnte Geschichtskultur stellt die dritte theoretische Erweiterung dar. Geschichtskultur bezeichnet die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit Vergangenheit und Geschichte umgeht.[21] Definitorisch prägend ist Rüsen, der an der Deutungsfunktion von Kultur in modernen Gesellschaften anknüpft.[22] Schönemann nimmt das Modell von Rüsen auf, kritisiert daran jedoch die anthropologische Verengung sowie die fehlende Historisierung der Dimensionen und gibt dem Modell in zweifacher Hinsicht eine wesentlich neue Richtung. Erstens definiert er vier geschichtskulturelle Dimensionen mit kommunikationstheoretischem Fokus, um das Konzept operationalisierbar zu machen.[23] Er unterscheidet die institutionelle Dimension (Rahmen geschichtskultureller Praxis wie Schulen, Archive, Museen etc.), die professionelle Dimension (spezifische Akteure wie Lehrpersonen, Wissenschaftler, Künstler etc.), die mediale Dimension (Vermittlungsformen wie Buch, Film, Lied etc.) sowie die adressatenspezifische Dimension (Adressaten geschichtskultureller Phänomen wie Schichten, Ethnien, Berufe etc.). Demantowsky nimmt diese Differenzierung auf, plädiert jedoch gleichzeitig dafür, dass die institutionelle Dimension den anderen heuristisch übergeordnet sei: die Institutionalität der Geschichtskultur sei ihr eigentliches, ihr empirisch evidentes Dasein.[24] Die vorliegende Studie läuft dieser Hierarchisierung entgegen, indem sie auch nach empirischer Evidenz im Diskurs fragt sowohl in der medialen als auch in der adressatenspezifischen Dimension.

In einem zweiten Schritt grenzt Schönemann die Kategorie der Geschichtskultur, die «Aussenseite des gesellschaftlichen Geschichtsbewusstseins», ab von derjenigen des individuellen Geschichtsbewusstseins, unterscheidet also ein kollektives Konstrukt von einem individuellen.[25] Mehrere Modelle liegen vor, welche die Eigenschaften des Geschichtsbewusstseins generell beschreiben, insbesondere die strukturanalytischen Modelle von Jeismann und Pandel, das genetische Modell von Borries’ sowie der funktionstypologische Ansatz von Rüsen.[26] Pandel strukturiert das als mentale Struktur bezeichnete Geschichtsbewusstsein in sieben Doppelkategorien, Doppelkategorien deshalb, weil er jede Kategorie antagonistisch auffächert. Den drei Basiskategorien Temporalbewusstsein (gestern – heute – morgen), dem Wirklichkeitsbewusstsein (real – fiktiv) und dem Historizitätsbewusstsein (statisch – veränderlich) stehen die fünf sozialen Kategorien gegenüber mit Identitätsbewusstsein (wir – sie), politischem Bewusstein (oben – unten), ökonomischem Bewusstsein (arm – reich) sowie moralischem Bewusstsein (richtig – falsch).[27] Rüsen seinerseits zielt darauf ab, manifestiertes Geschichtsbewusstsein in Form erzählter Geschichten funktionstypologisch zu ordnen. Dabei unterscheidet er vier Typen des historischen Erzählens, den traditionalen, den exemplarischen, den genetischen und den kritischen, mit je unterschiedlichen Erinnerungsleistungen, Kontinuitätsvorstellungen, Kommunikationsformen, Identitätskonstruktionen und Sinnbildungsmustern.[28] Von Borries visualisiert Rüsens Sinnbildungstypen in Form eines Spiralmodells, das die Typen in eine Entwicklungslogik stellt, entlang der Faktoren der Flexibilisierung und Individualisierung historischen Denkens.[29] Das Modell führt vom traditionalen über das exemplarische hin zum genetischen Erzählen, jeweils in einer affirmativen und einer kritischen Ausprägung, und entspricht damit der von Rüsen selbst angeführten Sonderstellung der kritischen Sinnbildung.[30] Im vorliegenden Projekt folgt die Analyse der geschichtlichen Vorstellungen der Rütli-Besuchenden einerseits dem funktionstypologischen Modell von Rüsen und andererseits dem strukturanalytischen nach Pandel.

Jeismann hatte bereits Ende der 1970er-Jahre als Erster ein strukturanalytisches Modell von Geschichtsbewusstsein entworfen, das auf drei unterscheidbaren Dimensionen der Erkenntnisleistung basiert, auf Analyse, Sachurteil und Wertung.[31] Dieses Konzept erweiterte er in der Folge und definierte Geschichtsbewusstsein als Reifegrad, der sich ganz wesentlich durch Reflexivität auszeichne.[32] Defizitäre historische Vorstellungen, welche diesen Grad nicht erreichen, bezeichnete er als «Geschichtsverlangen», «Geschichtsbild» und rein vergangenheitsbezogenes «historisches Verstehen». Das «Geschichtsbild», also eine im Vergleich zu geschichtswissenschaftlichen Darstellungen und Konzeptionen defizitäre Vorstellung, hat er an anderer Stelle definiert als eine individuelle und kollektive, gefestigte Gesamtvorstellung von Sinn, Wesen, Verlauf und Ziel der Geschichte.[33] Im Kontrast zu geschichtswissenschaftlichen Narrativen seien diese Vorstellungen, so Rolf Schörken, einerseits faktenarm und selektiv, andererseits urteilend, deutend, emotional.[34] Damit deckt sich auch Demantowskys Definition, die zusätzlich auf die narrative Abrufbarkeit hinweist, die gerade im vorliegenden Projekt von besonderer Bedeutung ist.[35] Vergleichbare Eigenschaften geschichtlicher Vorstellungen hat auch die Conceptual-Change-Forschung festgestellt. Als besonders wirkmächtig haben sich geschichtsbezogene implizite Theorien resp. Alltagstheorien erwiesen.[36] Diese lebensweltlich geformten Konzepte weisen typische Merkmale auf, die sie von wissenschaftsförmigen Inhalten unterscheiden, so beispielsweise die Personalisierung von Kollektiva und Strukturen (grosse Männer und Frauen) resp. Reduktion historischer Sachverhalte auf grosse Personen, monokausale Erklärungen, linear-eindimensionales Denken, die Personifizierung abstrakter Kategorien, die Stereotypisierung sozialer Ordnungsschemata, ein dominierender Gegenwartsbezug, der sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft prägt, sowie die Verkürzung der Vergangenheit auf ein allgemeines «früher». Solche Merkmale impliziter Theorien dürften auch in den geschichtlichen Vorstellungen nachweisbar sein, wie sie im vorliegenden Projekt erhoben werden. Im Fall des Rütlis beziehen sich diese Vorstellungen auf die mit dem Ort zusammenhängenden Mythen. Für die Analyse zu berücksichtigen ist daher der Umstand, dass sich die Merkmale mythischer Narrative und subjektiver Theorien teilweise überschneiden, wie beispielsweise der generalisierende Vergangenheitsbezug oder die stereotypisierenden, sozialen Konstellationen.[37]

Dass geschichtskulturelle Institutionen, Professionen, Medien und Publika das individuelle Geschichtsbewusstsein beeinflussen durch spezifische Basisnarrative, scheint offensichtlich, gerade auch im Bereich der nationalen historischen Sinnbildung, in dem das vorliegende Rütli-Projekt zu verorten ist. Demantowsky sieht in den Basisnarrativen erzählerische, nicht einem konkreten Autor zuordenbare Grundmuster geschichtskulturellen Zeitgeistes, der sich wahrscheinlich besonders gut anhand schulischer Geschichtslehrwerke analysieren lasse.[38] Davon unterscheidet er Meisterzählungen, die sich durch «wirkmächtige, aber gleichwohl auktoriale Erzählmuster» auszeichneten.[39] Beide gelte es, «in ihrer jeweiligen Genese, Morphologie, Funktionalisierung und Wechselwirkung» zu analysieren. Was Demantowsky mit diesen Analysekategorien andeutet, verdeutlicht und präzisiert Béatrice Ziegler, indem sie den Umgang mit Geschichte grundsätzlich als machtdurchdrungenen Prozess versteht, der interessengebundene Deutungen hervorbringt.[40] An die Stelle des Zeitgeistes setzt sie wirkungsmächtige Akteure, allen voran den Nationalstaat und seine Repräsentierenden, die Narrative zu prägen und durchzusetzen vermögen. Dies trifft besonders auf individuelle Vorstellungen zu, ja sogar auf persönliche Erinnerungen. Denn sogar solche Erinnerungen zeugten, so Ziegler, nicht von der vermeintlich selbst erfahrenen Vergangenheit, sondern vielmehr von deren Wirkung und der Verarbeitung, unter den Bedingungen der gesellschaftlich vermittelten kommunikativen Situation und den gesellschaftlich mächtigen Diskursen. Dazu trete die ebenfalls sozial bedingte und gerichtete Aufforderung an Individuen, sich zu erinnern – eine Aufforderung, die formal und inhaltlich wirke, das heisst Regeln des Erzählens und Grenzen des Aussprechbaren miteinschliesse. Dieses zwar sozial geprägte, aber dennoch individuelle Erinnern unterscheidet Ziegler vom Gedenken, das sie als kollektiven, machtbestimmten Umgang mit Vergangenheit bezeichnet.

Diese begriffliche Unterscheidung ist von zentraler Bedeutung – wie die gesellschaftlich mächtigen Diskurse die individuellen Erinnerungen und Vorstellungen prägen, bleibt empirisch schwierig zu fassen. So ist die Wirksamkeit schulischer oder medialer Wissensvermittlung, die auf Derivaten wissenschaftlicher Erkenntnis basiert, mehrfach in Frage gestellt worden.[41] Empirische Nachweise, wie implizite Theorien entstehen resp. wie sie durch geschichtskulturelle Akteure, Institutionen oder Medien geschaffen und beeinflusst werden, stehen noch aus. Diese Lücke zu füllen, kann nicht das Erkenntnisziel des vorliegenden Projekts sein, der Nachweis solcher Abhängigkeiten wäre viel zu komplex und konzeptionell-methodisch kaum zu bewältigen. Vielmehr geht das vorliegende Projekt von Schönemanns Kategorisierung von individueller und kollektiver Vorstellung aus und fächert beide Kategorien möglichst breit auf. Auf diese Weise lassen sich zwar keine Interdependenzen nachweisen, jedoch parallele und konstrastierende Eigenschaften und Tendenzen sichtbar machen.

1.4 Theoretische Rahmung IV: Denkmäler und ihr Gebrauch

Denkmäler als Untersuchungsobjekte haben in der Geschichtswissenschaft – im Gegensatz zur Kunstgeschichte[42] – eine eher junge Tradition.[43] Erst Nipperdeys klassischer Aufsatz zu den deutschen Nationaldenkmälern als Ausprägung des Nationalbewusstseins eröffnete die Reihe ideengeschichtlicher Arbeiten zu diesen geschichtskulturellen Objektivation. Gut ein Jahrzehnt später richtete Koselleck sein Interesse auf Kriegerdenkmäler, die er als identitätsstiftend für die Überlebenden interpretierte.[44] Einen eigentlichen Meilenstein setzte sodann Pierre Nora, als er 1986 sein monumentales Werk «Les Lieux de mémoire» herausgab. Darin bezieht er sich explizit auf das Konzept der «mémoire collective» des französischen Soziologen Maurice Halbwachs, das die individuell abrufbaren und zugleich innerhalb einer Gesellschaft geteilten Erinnerungen und Erinnerungsorte beschreibt.[45] Als Erinnerungsort kann nicht nur ein geografischer Ort, sondern ebenso ein Kunstwerk, ein Ereignis, ja eine mythische Gestalt oder sogar eine Idee dienen, denen als historisch-soziale Bezugspunkte identitätsstiftende Funktionen zukommen. Vor dem Hintergrund der kulturgeschichtlichen Wende ab den 1990er-Jahren setzte eine intensive Forschungstätigkeit ein, die auf Entstehungsgeschichte, Sinnstiftungs- und Deutungsmuster, Symbole und Rituale fokussierte. Dazu lässt sich das mehrbändige Werk zu den deutschen Erinnerungsorten zählen, das François und Schulze in Noras Tradition herausgaben.[46] Für die Schweizer Denkmallandschaft liegen die beiden handbuchartigen Denkmaltopographien von Georg Kreis vor. Diese Gesamtdarstellungen verzeichnen und typologisieren die verschiedenen Ausprägungen der «lieux de mémoire».[47] Als «lieu de mémoire» können in der Regel auch – geschichtsdidaktisch gewendet – ausserschulische historische Lernorte angesprochen werden. Demantowsky definiert sie als Raum, der «geschichtsbezogene Erlebnisse einerseits ermöglichen, dessen Potential darüber hinaus aber andererseits auch tatsächlich abgerufen bzw. realisiert» wird.[48] In seiner vorgeschlagenen Typologie unterscheidet er unter anderem authentische von konstruierten Lernorten, je nachdem ob ein Ort mit einem Gründungsmythos verbunden ist oder durch den Ort erst gestiftet werden soll.[49] Zu ersteren zählen in der Regel «historic sites», Orte also, die mit nationalgeschichtlich bedeutsamen Ereignissen oder Persönlichkeiten verbunden sind; als Untergruppe dazu können Gedenkstätten für Opfer politischer Gewaltherrschaft gesehen werden. Dabei komme ihnen, wie Bert Pampel ausführt, nicht nur die Aufgabe zu, Geschichtswissen zu vermitteln, sondern auch nationale Identität zu stiften und staatsbürgerliches Bewusstsein zu fördern.[50]

Damit eng verbunden, oft sogar identisch, sowohl begrifflich als auch inhaltlich, ist das Denkmal, dessen Objektcharakter sich von der allgemeineren Kategorie der historischen Stätten unterscheidet. Damit ist weniger die Begriffsdefinition im weiteren Sinne gemeint, welche die schützenswerten, alten Baudenkmäler bezeichnet, die sich zu verdichteten und idealisierten Vergangenheitsrepräsentaten entwickeln.[51] Vielmehr trifft hier die enger gefasste, als klassisch geltende kunstgeschichtliche Definition von Hans Ernst Mittig zu. Demnach wird das Denkmal als «ein in der Öffentlichkeit errichtetes und für die Dauer bestimmtes materielles, vor allem plastisches, möglicherweise mit Inschriften ausgestattetes (Kunst-)Werk verstanden, das an Personen oder Ereignisse erinnern und aus dieser Erinnerung einen Anspruch seiner Urheber, eine Lehre oder einen Appell an die Gesellschaft ableiten und historisch begründen soll».[52] Zum einen umfasst diese Definition die Wirkung, die das Denkmal durch seine Prägnanz auf die Betrachtenden haben soll, eine Wirkung, die auf einer «Idee der Autorität», ja der Herrschaft basiere.[53] Zum anderen weist sie bereits auf die geschichtsdidaktischen Funktionen eines Denkmals hin, die im von Jeismann dargestellten «Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive»[54] verknüpft werden und darin stark an Marchals Gebrauchsgeschichte erinnern. Diese nicht zuletzt geschichtsdidaktisch eminenten Funktionen greift nicht nur Winfried Speitkamp auf, dessen kulturwissenschaftliches Analyseraster für Denkmäler als Gegenstandstheorie in Kapitel 3.9.1 aufgenommen wird, sondern auch Brückner, indem er verschiedene Trägerschaften von Denkmälern und Formen des Gedenkens aufzeigt.[55] Mit seinem «Erlebnisraum»-Konzept, das diesem Projekt zugrunde liegt, stellte Hettling 1997 ein Modell zur Verfügung, mit dem sich die Funktionsfähigkeit von Denkmälern untersuchen lässt – ein Zugang, der sich von den zahlreichen geschichtsdidaktischen Beiträgen zu Denkmälern als ausserschulischen Lernorten unterscheiden, die in ihrer Stossrichtung tendenziell in der kunstgeschichtlich-deskriptiven Tradition stehen.[56]

3 817,44 ₽
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9783035512663
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