Читать книгу: «Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit oder: Wer war Julius Barmat?», страница 2

Шрифт:

Grenzen einer biografischen Annäherung

Journalisten, Schriftsteller, Staatsanwälte, Parlamentarier und Ministeriale haben Tausende von Blättern beschrieben und sich mit dem Fall von Julius Barmat befasst. War der frühere Kaufmann ein Unternehmer, der sich wie so viele andere seiner Zunft überschätzte und verhob? Oder ein gerissener Finanzier und Spekulant, der sich – wie schon zuvor in Holland und später in Belgien – der neuen politischen Klasse der Republik angedient und diese in seine Machenschaften verstrickt hatte? War Barmat ein opportunistischer Sozialist, in dessen Haus in Amsterdam 1919 Vertreter der Sozialistischen (Zweiten) Internationale verkehrt hatten, oder gar ein verkappter »jüdischer Bolschewist«? Solche Gerüchte kursierten in der oppositionellen linken wie rechten Presse. Dass er jüdischer Konfession war, ein Ostjude, wie man damals sagte, war dabei keine Nebensächlichkeit.

Die Antwort auf die Frage, wer Julius Barmat war, scheint auf den ersten Blick einfach, bedenkt man die dichte Überlieferung von Quellen, die sich mit ihm befassen, und die fast überbordende, mit Skandalen verbundene Ereignisgeschichte. Aber das täuscht. Die Unsicherheit beginnt mit der Frage, welchen Vornamen er sich selbst in einer Darstellung gegeben hätte: Julius, wie er seinen Namen bei deutschen Behörden angab, oder Judko, wie er sich in den Niederlanden nannte und wie ihn auch einige seiner deutschen Freunde ansprachen, was im Munde seiner Feinde aber einen pejorativen Klang hatte? Judko ist eine im Jiddischen verbreitete, nicht nur auf die Kindersprache beschränkte Koseform von Yehuda, ein Name, den Barmat selbst aber offenbar nie benutzte.14 Zahlreiche weitere Fragen, die seine Biografie betreffen, lassen sich nicht beantworten. Das vorliegende Buch macht sich aber auf eine Spurensuche, die uns auf viele Wege, darunter manche Umwege bringt, aber auch zu neuen Erkenntnissen führt.15

Nach Jahrzehnten geringen Interesses haben zwar einige neuere wissenschaftliche Arbeiten Licht auf den Fall Barmat geworfen. Einen breiten Raum nehmen dabei der Verlauf des Medienskandals sowie Fragen von Antisemitismus und Korruptionsdebatten ein. Der Skandal wurde in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus eingeordnet, der selbst das korrupteste Regime der deutschen Geschichte war, aber mit dem Slogan des Kampfes gegen »jüdische« und »republikanische Korruption« antrat.16 Aber in all diesen neueren Darstellungen ist der Name Barmat meist als Chiffre präsent. Seine Person bleibt eigentümlich vage, fast ein Phantom. Diese Distanz ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass im babylonischen Sprachengewirr der Skandale eine Stimme fehlt: nämlich die von Julius Barmat selbst. Und nicht nur das: Barmats wirtschaftliche Aktivitäten, der Verdacht des Betrugs, ja mehr noch, alle Spekulationen über seine Person bleiben im Dunst der Vermutungen und vielfach unbewiesenen Tatsachen.

Das biografische Genre lebt in der Regel von der Verfügbarkeit von Ego-Dokumenten. Sie machen den Kern einer Biografie aus, stellen Selbstzeugnisse doch eine Nähe und »Unmittelbarkeit zu ihrem Helden« (Hans Erich Bödeker) her.17 Das gilt selbst dann, wenn der Name des Protagonisten negativ konnotiert ist.18 Das Fehlen eines Nachlasses sowie die Tatsache, dass persönliche Briefe und andere Ego-Dokumente nur spärlich überliefert sind und die meisten Quellen zu seiner Verteidigung nicht von Julius Barmat selber, sondern von juristisch argumentierenden Rechtsanwälten stammen, verweisen auf die spezifischen Voraussetzungen und Grenzen der vorliegenden biografischen Annäherung. Hinsichtlich der wenigen Ego-Dokumente ist die Geschichte Julius Barmats vergleichbar mit der des französischen »Unbekannten« aus der Provinz, dessen Lebensgeschichte der Historiker Alain Corbin in einer anregenden historischen Darstellung rekonstruiert hat.19 Aber im Gegensatz zu diesem Unbekannten führte Barmat kein »ganz gewöhnliches Leben«. Barmats Geschichte handelt vielmehr vom ungewöhnlichen Leben eines bekannten Unbekannten. Denn seit den aufwühlenden Tagen des deutschen Barmat-Skandals 1925, den sich hinziehenden rechtlichen Untersuchungen und dann den neuen Skandalisierungen in Belgien, Holland und Frankreich gingen sein Name und seine Biografie in öffentlich-medialen Besitz über.

Die Biografie Barmats schrieben andere, indem sie seinen Namen als Metonymie, Stigma und als Projektionsfläche benutzten:20 für Demokratie und ihre mögliche Dekadenz, für Korruption, Abwege von Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit, unlauteres wirtschaftliches Gebaren sowie einen »jüdischen Kapitalismus« seit dem Krieg. Diese eng miteinander verschränkten Leitthemen, die in zentrale Felder der politischen, sozialen und kulturellen Konfliktgeschichte der Zwischenkriegszeit führen, stehen im Mittelpunkt dieses Buches.

Demokratie, Kapitalismus und politische Moral

In der zeitgenössischen politischen Sprache wurde der Name Barmat binnen kurzer Zeit zu einer hochemotionalen Metonymie, mit der Kritiker gleichermaßen die wirtschaftliche, politische und moralische Korruption von konkreten Personen sowie die Weimarer Republik und das demokratische System im Allgemeinen thematisierten: »Barmatpartei«, »Barmatrepublik«, »Barmatsumpf« und »Barmatiden« waren bald gängige polemische Kampfbezeichnungen, die aus dem Vokabular der oppositionellen radikalen Linken in das der Konservativen und vor allem der Völkischen diffundierten, sich dort einnisteten und die in den meisten Fällen auf die SPD gemünzt waren.21 In Verbindung mit zahlreichen zirkulierenden Bildern provozierten solche Begriffe politische Emotionen, die von Verachtung bis hin zu Hass reichten und zugleich individuelle und kollektive Weltdeutungen lieferten.22 Julius Barmat verkörperte ein »System«, und das bezeichnenderweise nicht nur in Deutschland. Wie zu sehen sein wird, verweist der Fall Barmat auf eine europäische Dimension der Auseinandersetzungen, die sich allesamt auf dem Hintergrund der Folgen des Ersten Weltkriegs, der Inflation und dann der großen Weltwirtschaftskrise auf einem dezidiert politisch-ökonomischen Feld abspielten.

Die polemische Verwendung des Namens wie der Biografie durch die Gegner ging in Deutschland wie dann später in Frankreich und Belgien mit einer Vermischung des Falles und des Namens Barmat mit anderen ähnlich gelagerten Fällen einher. Neben Julius und seinem Bruder Henry Barmat standen der schon erwähnte litauische Waffenhändler Iwan Kutisker, der ursprünglich aus Frankfurt stammende Berliner Unternehmer und Finanzier Jakob Michael sowie eine ganze Reihe anderer mehr oder minder zweifelhafter Unternehmer und Banker im Visier der Staatsanwaltschaft.23 All das hat bis heute viele Verwechslungen zur Folge, nicht nur was die Namen, sondern auch die den jeweiligen Personen zugeschriebenen Delikte betrifft. Denn Verdächtigungen und tatsächliches Fehlverhalten in dem einen Fall wurden vielfach auf andere Fälle projiziert. Darüber hinaus vermischten die Zeitgenossen unterschiedliche Sachverhalte und Zusammenhänge, in welche die Personen involviert waren und die sich im Einzelfall potenzieren konnten: Betrug, Bestechung, Konkursverschleppung, Korruption, Wucher, »Luftgeschäfte«, Spekulation sowie Kriegs-, Inflations- und Deflationsgewinnlerei. Das war ein ganzes Syndrom von realen und vermeintlichen Wirtschafts- und Finanzdelikten, die alle in einem grauen Feld zwischen öffentlicher Empörung und (Wirtschafts-)Kriminalität angesiedelt waren.24

Ausgehend von der Geschichte Julius Barmats werden diese verschiedenen Themen im vorliegenden Buch zusammengeführt. Anders formuliert: Es geht sowohl um konkrete Handlungspraxen als auch um Diskurse und vielfältige Zuschreibungen. Insofern handelt es sich um eine Geschichte aller nur möglichen »Gespenst[er] des Kapitals« (Joseph Vogl), die aber in unserem Zusammenhang an konkrete Situationen, Handlungen und Personen zurückgebunden werden.25 Und nicht nur das: Ob Spekulantentum oder Korruption, immer ging es, worauf Jens Ivo Engels in Bezug auf Korruption hingewiesen hat, neben Demokratie- auch um Kapitalismuskritik.26

Diese Kritik bezog sich auf die Überschreitung von rechtlichen Normen wie von sozialmoralischen und ethischen Grenzen, darunter an erster Stelle die Grenzen der politischen Moral. Die Geschichte Barmats ist die Geschichte der Skandalisierung von Verletzungen von Normen und Regeln, von Grenzüberschreitungen in Politik, Wirtschaft und Recht und damit eine Geschichte von Ein- und Ausgrenzungen. Anknüpfen kann die Darstellung an neuere Arbeiten zu Wirtschafts-, Politik-, Sex- oder Kolonialskandalen, die zeigen, wie zentrale Normen, Regeln und Grenzen einer Gesellschaft diskursiv verhandelt werden.27 Damit lassen sich Vorstellungen von Normalität und Ordnung identifizieren, aber auch die allgegenwärtige Unterscheidung des »Wir« von den »anderen« und damit auch von Freund(en) und Feind(en), Unterscheidungen, die insbesondere im deutschen Denken der Zwischenkriegszeit, einer Zeit realer Grenzkämpfe, so tief verankert waren.28

Julius Barmat wird in diesem Buch als ein Grenzgänger des Kapitalismus beschrieben. Das bedarf zunächst der Erläuterung. Unternehmer und Banker, weniger dagegen Kaufleute, wurden in den letzten Jahren zu einem beliebten Genre der Wirtschaftsgeschichte. Neben hagiografischen Darstellungen ist vieles davon sogenannte Auftragsforschung, also der Finanzkraft der familiären oder institutionellen Nachfahren zu verdanken; oft geht es dabei um die »Aufarbeitung« und Aufklärung von Ereignissen in der Zeit des Nationalsozialismus. In der Regel stehen hier »große« Unternehmerpersönlichkeiten im Mittelpunkt – selbst wenn sie scheiterten.29 Erstaunlich wenig wissen wir dagegen über die vielen »Pleitiers und Bankrotteure«, geschweige denn über das breite Spektrum von Gaunern, halbseidenen Geschäftsleuten und Angestellten, einschließlich jener ehrbaren Kaufleute und Manager, von denen manche heute noch gefeiert werden und morgen schon durch ein Fenster aus dem Justizpalast fliehen.30 Und nur schwer sind die Grenzüberschreitungen zu fassen, die feinen Linien, die Seriosität und Legalität von Anrüchigkeit und Betrug trennen – und das gelegentlich in einer einzigen Person.31 Viel ist geschrieben worden über die besonders in deutschen Studierstuben populäre »protestantische Ethik« und den »bürgerlichen Wertehimmel«, wenig dagegen über die in diesem Buch in den Blick genommenen Personen und ihre sich oft in Grenzbereichen bewegende Moral, für die Schriftsteller wie Theodor Dreyser und Émile Zola oder neuerdings Filmemacher vielleicht einen besseren Blick als Wissenschaftler haben.32 Mit Sicherheit gab es sie häufiger, als die unternehmensgeschichtliche Literatur Glauben macht. Das zeigen vor allem neuere Arbeiten zu den USA.33

Wenn Julius Barmat also vor diesem Hintergrund als Grenzgänger des Kapitalismus bezeichnet wird, appelliert das nur vordergründig an die Tatsache seiner – vielfach skandalisierten – Überschreitung von Staatsgrenzen im geschäftlichen wie privaten Verkehr. Vielmehr geht es um jene Aspekte, die seit jeher mit der Zerstörungskraft kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung in Verbindung gebracht wurden, wie etwa das Überschreiten moralischer Standards bzw. das Senken der »wirtschaftlichen Grenzmoral« (Götz Briefs). Kriegs- und Inflationsgewinnler waren andere zeitgenössische pejorative Begriffe für solche Grenzgänger.

In diesem Zusammenhang wird hier auf das spezifische Konzept des »politischen Kapitalismus« zurückgegriffen, ein idealtypischer Begriff, den Max Weber schon vor dem Ersten Weltkrieg in die Diskussion einführte und den er von einem »rationalen Kapitalismus« abgrenzte. Dabei ging es ihm, und das ist wichtig im Auge zu behalten, um eine Systematisierung der »kapitalistische[n] Orientierung des Erwerbs«, mithin um Formen von Handlungs- und Erwerbsorientierungen von Individuen.34

Mit dem Begriff politischer Kapitalismus zielte der Polyhistor Weber zuallererst darauf ab, Phänomene vormoderner Gesellschaften, einerseits der vormodernen Vergangenheit der okzidentalen Welt und andererseits der Gegenwart auch der vormodernen, nicht okzidentalen Welt, zu beschreiben.35 Fündig wurde er vor allem in der Geschichte der Antike, der Frühen Neuzeit sowie außerhalb Europas, wo er einen engen Nexus zwischen Politik und wirtschaftlichen Interessen und andere Formen des Erwerbsgeistes jenseits der Moderne entdeckte. Es ist ein Kapitalismus, der auf der spezifischen Ausbeutung politischer Macht durch wirtschaftliche Akteure basierte. In seinen Worten hieß das: »Orientierung an Chancen des kontinuierlichen Erwerbs kraft gewaltsamer, durch die politische Gewalt garantierter Herrschaft«; dazu zählte er das koloniale Wirtschaftssystem ebenso wie die Sklaverei und die Verleihung fiskalischer Privilegien, wie etwa die frühneuzeitliche Steuer- und Amtspacht. In diese Rubrik fällt auch der sogenannte »Beutekapitalismus«, sei es in Form staatlich sanktionierter Piraterie, sei es in Form gewaltsamer kolonialer Landnahme.36 Kennzeichnend für diesen »politischen Kapitalismus« war für ihn überdies die »Orientierung an Chancen des aktuellen Beuteerwerbs von politischen oder politisch orientierten Verbänden oder Personen: Kriegsund Revolutionsfinanzierung oder Finanzierung von Parteiführern durch Darlehen und Lieferungen« sowie eine »Orientierung an Chancen des Erwerbs durch außeralltägliche Lieferungen [an oder von] politische[n] Verbände[n]«.

Diese Phänomene des Erwerbsstrebens seien in der modernen okzidentalen Welt nicht ganz verschwunden, wie Weber meinte. Aber seiner Ansicht nach waren sie ökonomisch »irrational« und dysfunktional, und ihre Marginalisierung verlief dementsprechend parallel zur Durchsetzung des »rationalen Kapitalismus« wie des modernen Staates. Für den Ökonomen Weber war dieser »rationale Kapitalismus« historisch gesehen vergleichsweise neu und mit Blick auf seine Entstehungszeit seit der Frühen Neuzeit auch »modern«.37 Er umschrieb damit ziemlich genau das, was heute als Marktwirtschaft mit funktionierenden, freien und arbeitsteiligen Faktorenmärkten für Boden, Kapital und Arbeit bezeichnet wird. Hier herrschen idealerweise die Regeln eines kompetitiven Marktes, vermittelt nicht zuletzt durch eine stabile Geldwirtschaft und über rationale, nämlich marktkonforme »Spekulationen« an den Börsen, die das Verhalten von Marktteilnehmern steuern. Für den Staatswissenschaftler und Historiker Weber waren dabei die Funktions- und Integrationsfähigkeit des modernen Steuerstaates von Bedeutung.38

Wenn im Folgenden vom politischen Kapitalismus gesprochen wird, geht es nicht darum, diese Erklärungen Webers, einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Modernisierungsprämissen, zu bestätigen oder zu widerlegen.39 Es soll vielmehr gezeigt werden, welche Ausformung der Kapitalismus in der Zwischenkriegszeit erlebte, was daran »politisch« war und welche Kritik sich hieran entzündete. Das führt ins Zentrum nicht nur zeitgenössischer Kapitalismusdiagnosen und der Kapitalismuskritik,40 sondern auch staatsrechtlicher Fragen etwa im Sinne eines Carl Schmitts.

Die Frage, wer Julius Barmat war, handelt von modernen Varianten dieses politischen Kapitalismus. Interessant und in unserem Zusammenhang nicht nebensächlich ist, dass der kritische Zeitbeobachter Weber offenbar schon während des Krieges nicht mehr so sicher war, ob der »rationale Kapitalismus« nicht schon bald eine »Welt von Gestern« (Stefan Zweig) sein würde. Die Kriegswirtschaft und vor allem die bald aus dem Boden schießenden Nachkriegsneuordnungspläne versprachen seiner Meinung nach nichts Gutes, wobei Weber zunächst vor allem den Einfluss großwirtschaftlicher Interessen im Auge hatte. Blühte im Krieg nicht eine »rein politisch[e] Konjunktur: von Staatslieferungen, Kriegsfinanzierungen, Schleichhandelsgewinnsten und all solchen durch den Krieg wieder gigantisch gesteigerten Gelegenheits- und Raubchancen lebenden Kapitalismus und seiner Abenteurer-Gewinnste und -Risiken [auf], der gegenüber dem der Rentabilitätskalkulation des bürgerlichen rationalen Betriebs der Friedenszeit nicht die geringste Ahnung hat«? Und nicht nur das: Vor Webers Augen stand »ein wilder Tanz um das goldene Kalb, ein hasardierendes Haschen nach jenen Zufallschancen, welche durch alle Poren dieses büreaukratischen Systems quellen«, was das Aufblühen von »Schmarotzern«, »Tagedieben« und »Ladentischexistenzen« zur Folge hatte. Das war eine Anspielung auf die »hosenverkaufenden jüdischen Jünglinge«, von denen der einflussreiche Historiker Heinrich Treitschke gesprochen hatte; Weber sprach verklausuliert von der »›Verösterreicherung‹ Deutschlands«.41

Das sind alles Themen, mit denen sich dieses Buch auseinandersetzen wird. Dabei ist es keine Nebensächlichkeit, dass solche Positionierungen mit eklatanten religiösen, ethnischen wie rassischen Stereotypisierungen überformt waren. Denn wie die letztgenannten Zitate Webers illustrieren, schien der ältere »politische Kapitalismus« wenig mit jener »protestantischen Ethik« zu tun zu haben, in der für den Religionssoziologen der moderne »rationale Kapitalismus« wurzelte.42 Aber was war er dann? Just an diesem Punkt setzt die deutsche Selbstverständigungsdebatte über den Kapitalismus ein, die in der Auseinandersetzung Webers mit seinem Fachkollegen Werner Sombart schon vor dem Krieg begonnen hatte und die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht.

Grenzübertritte, Grenzüberschreitungen und Grenzziehungen

Die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wer Julius Barmat war, führt auf die Spur einer Vielzahl von Geschichten und Zusammenhängen, die sich alle in der einen oder anderen Weise mit Normverletzungen befassen. Dabei geht es um zentrale Aspekte einer Geschichte von Rechts-, Geld- und Vertrauensbeziehungen und sozialmoralischen Fragen, die in öffentlichen, seit jeher aber auch in wissenschaftlichen Debatten am Beispiel konkreter Personen verhandelt wurden, sei es als eine Geschichte von Moral und Wirtschaftssystemen, sei es als eine Geschichte des Kapitalismus.43 Die elf Kapitel dieses Buches befassen sich daher mit sehr unterschiedlichen, gleichermaßen realen, rechtlichen, symbolischen wie metaphorischen Grenzübertritten, Grenzüberschreitungen, Grenzziehungen und Grenzräumen.

Verfolgt wird ein biografischer Zugang, ohne eine wirkliche Biografie des im Mittelpunkt stehenden bekannten Unbekannten Julius Barmat zu schreiben. Es geht um konkrete Akteure und Situationen, somit eine Vielzahl von miteinander verflochtenen Mikrogeschichten, in denen uns Bilder, Emotionen wie Diskurse entgegentreten.44 Sie haben ihre jeweils eigene Valenz und sträuben sich schon wegen des ausgeprägten Eigensinns vieler der in unserer Geschichte auftauchenden Akteure häufig gegen eine schematische kategoriale Einordnung, egal ob es sich um zeitgenössische politische oder ökonomische Wissensbestände, kausale Zusammenhänge oder Karrieren von Personen handelt. Dabei ist es immer das Ziel, aus diesen Mikrogeschichten größere »Makro«-Fragen zu erschließen: sich verändernde Ordnungen des Kapitalismus in seinen verschiedenen Ausprägungen, die in allen Ländern zu beobachtende Demokratie(kritik) in Verbindung mit Korruptionsdebatten, Formen der sozialen und politischen Radikalisierung, die faschistischen Mobilisierungen Auftrieb verliehen, dann aber auch staatliche, ordnungspolitische Regulierungsbemühungen, wie sie insbesondere seit der Weltwirtschaftskrise einsetzten. Mit diesem Ansatz verknüpft sich die Prämisse, dass die Geschichte der Zwischenkriegszeit mehr ist und sein sollte, als in den wie auch immer neu abgezirkelten und thematisch proportionierten historischen Überblicksdarstellungen zum Ausdruck kommt. Die Geschichte gerade dieser Zeit zeigt eigentümliche Volten gleichermaßen der Kontinuität wie Diskontinuität, der Erwartungen und Hoffnungen einschließlich ihrer Enttäuschungen.

Aus Gründen der Lesbarkeit folgt die Darstellung einer chronologisch-systematischen Gliederung. Das beginnt mit der umstrittenen Frage der Visumsvergabe und damit der Einreise Julius Barmats in Deutschland im Jahr 1919, einer Zeit illegaler Grenzübertritte von osteuropäischen, darunter vielen jüdischen Flüchtlingen. Das erste Kapitel handelt von der Ankunft des »schwerreichen« Lebensmittelkaufmanns, der das Reichsgebiet nicht über die unbefestigte Grenze aus dem Osten, sondern aus dem Westen betrat. Der Streit darüber, wer die Verantwortung für diese Ankunft hatte, setzte schon 1918/19 ein und erreichte 1925 einen Höhepunkt. Wann kam es schon vor, dass sich in einer Person gleich alle jene Zuschreibungen wiederfinden ließen, welche die Zeitgenossen so zu empören vermochten: die des Ostjuden, des Spekulanten, des Kriegsgewinnlers, des Förderers der Sozialistischen Internationale, ja des Bolschewisten? Solche politischen und ideologischen Fragen vermischten sich mit dem scheinbar Trivialen und Alltäglichen, nämlich Brot, Butter und Speck, die Julius Barmat in großen Mengen nach Deutschland lieferte. Die Praxis der Kriegswirtschaft bildete einen zentralen Aspekt des umstrittenen »politischen Kapitalismus« der Nachkriegszeit und der frühen Weimarer Republik.

Das zweite Kapitel nimmt Julius Barmat als einen Grenzgänger des Kapitalismus in den Blick, der 1923 sein Geschäftsmodell änderte, indem er mithilfe von Krediten der Preußischen Staatsbank und der Reichspost vom lukrativen Lebensmittelhandel in den Bereich Industriekonzerngründung wechselte. Die offenbar zu jeder Zeit anzutreffenden Panegyriker des Unternehmertums wähnten ihn (wie viele andere) kurzzeitig als neue, heroische Unternehmerpersönlichkeit der Zukunft, auf den nicht zuletzt auch die Preußische Staatsbank setzte. Wie viele andere Unternehmer scheiterte der »Kriegs-, Inflations- und Deflationsgewinnler« jedoch im Zuge der Währungsstabilisierung und damit bei der Rückkehr zur vermeintlichen ökonomischen Normalität. Die Grenzen seriösen wirtschaftlichen Handelns wurden neu gezogen und die Grenzgänger des Kapitalismus aus dem Wirtschaftsleben ausgeschieden – so jedenfalls die Erwartung. Vor diesem Hintergrund werden die Auseinandersetzungen über Spekulation, Wucher und Korruption, mithin die unbestimmten Grenzen legaler und legitimer wie illegaler und illegitimer risikoreicher Praktiken verfolgt. Es geht dabei auch um Erwartungen und Diagnosen der Zeitgenossen, die sich, wie sich dann vor allem nach dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise zeigen sollte, erneut enttäuscht sahen.

Davon ausgehend beschäftigen sich die eng aufeinander bezogenen Kapitel drei und vier mit der Einschreibung des Namens Julius Barmat in die politische Kultur der Weimarer Republik im Kontext der sich seit 1925 entfaltenden Skandaldynamik. Diese Dynamik erklärt sich nicht nur durch die anstehende Reichspräsidentenwahl, die mit dem vorzeitigen Tod Friedrich Eberts vorgezogen werden musste, sondern mehr noch im Zusammenhang mit der Bildung von konservativen Bürgerblockregierungen in Preußen und im Reich. Dabei entbrannte ein erbitterter Kampf um die politische Moral, der sich mit denen des politischen Kapitalismus und seinen vermeintlich demokratischen Entartungen verband. Die scharfen Angriffe auf die Republik sind oft betont und mit Blick auf die Folgen nicht ganz zu Unrecht als desaströs charakterisiert worden. In diesem Kontext werden die eskalierenden Korruptionsvorwürfe, derer sich nun alle Parteien bedienten und die, wie es schien, fast alle Parteien und das System betrafen, beschrieben. In den Wortgefechten wurde Barmat zu einer Metapher bei der Aushandlung von Grenzen: zwischen Politik und Wirtschaft, sozialdemokratischer Moral und Koalitionspolitik, Recht und Rechtsstaatlichkeit. In den Vordergrund rücken dabei, auf den ersten Blick vielleicht überraschend, nicht nur die langfristigen Folgen dieser Einschreibung von Barmat und Korruption in die Weimarer politische Kultur, sondern auch die Art und Weise, wie die Republik Zähne zeigte und sich behauptete.

Anklageschrift und Urteil im Falle Julius Barmats waren monumentale Zeugnisse juristischer Faktenaufarbeitung, die sich um das diffizile Problem der Beurteilung der Handlungsmotive der involvierten Akteure im Rahmen des Rechts drehten. Das Recht der Gesetze ist bekanntlich nicht unbedingt identisch mit moralischen Gerechtigkeitsvorstellungen; das gilt gerade für die Zeit der Weimarer Republik. Im Mittelpunkt der Kapitel fünf und sechs stehen die Versuche, erste große politische und halb fiktionale Narrationen der Skandal- und Korruptionsgeschichte mit Julius Barmat zu entwickeln: Gottfried Zarnows (alias Ewald Moritz) politischer Bestseller Gefesselte Justiz (1930/32) und Walter Mehrings Theaterstück Der Kaufmann von Berlin (1929), das sich in der avantgardistischen Theaterfassung Erwin Piscators nicht nur als – vorhersehbarer – Theaterskandal, sondern auch als Theaterflop erwies. Mehring und Piscator versuchten die Inszenierung eines aktuellen Zeitstückes, das von Kapitalismus handelte – und scheiterten. Deutlich werden dabei die Möglichkeiten und Grenzen der literarischen Repräsentation des Themas. Der von Gottfried Zarnow und einem unbekannten Buchprüfer namens Philipp Lachmann aktualisierte und weitergeführte Korruptionsdiskurs führt auf das Terrain der politischen Rechten, genauer besehen zu einem wenig beachteten Aufklärungsradikalismus der deutschen Zwischenkriegszeit mit all seinen Aporien. Bei dieser Gruppe von Personen, die als Grenzgänger der Vernunft beschrieben werden, handelte es sich um ein Sammelbecken von Unzufriedenen und Außenseitern, im wahrsten Sinne des Wortes um moderne Formen des Kleist’schen Michael Kohlhaas. Sie versuchten den Anschluss an die Zeit zu finden und setzten ihre Hoffnungen auf eine wie auch immer geartete nationale Revolution; sie waren Stichwortgeber des Nationalsozialismus, ohne dass sie in dieser Bewegung heimisch wurden.

Eine andere Form des politischen Radikalismus verfolgt das siebte Kapitel. Es handelt von den Forderungen nach Ausgrenzung und Enteignung der Juden, wie sie völkische Gruppen während des Skandals erhoben und wie sie die Nationalsozialisten im Kontext des Volksentscheids über die Fürstenenteignung 1926 unter dem Motto »Enteignet die Fürsten. Barmat braucht Geld!« programmatisch formulierten. Die Pointe dieses Kapitels besteht darin, dass von hier (ebenso wenig wie vom bekannten 25-Punkte-Programm der NSDAP) keine direkte Linie in die Zeit des Nationalsozialismus führt; vielmehr wird eine Reihe von vermittelnden Entwicklungen und bürokratischen Umwegen in den Blick genommen. An erster Stelle zu nennen ist die Ende 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise, in der das ältere Thema Barmat erneut auftauchte, auch als Beispiel dafür, dass sich die in die Währungsstabilisierung 1924/25 gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hatten. Allenthalben tauchten seit 1930 Phänomene und Personen auf, die an den Grenzgänger des Kapitalismus erinnerten – und das einmal mehr nicht an den Rändern, sondern mitten in der Gesellschaft ehrbarer Unternehmer und Banker. Der exekutive Staat setzte auf die – ordnungspolitische – Neuziehung von Grenzen: die Eindämmung vermeintlich »spekulativer« Energien und korrupter Praktiken in Unternehmen, allemal in den Banken; reale Grenzkontrollen und Grenzsperren im Zuge von massiv verschärften Kapitalverkehrskontrollen mit dem Ausland; die Kontrolle von Staatsbürgern bei ihrem Grenzverkehr; neue Strafen wie die sogenannte »Reichsfluchtsteuer«. Wie sich diese In- und Exklusion entfaltete und wie sich dabei Techniken der administrativen Praxis mit ideologischen Begründungen, den »Barmat-Geist« auszutreiben, verschränkten und verstärkten, steht im Mittelpunkt dieses Kapitels. Konkret dargestellt wird diese Entwicklung am Beispiel des 1925 in den Skandal involvierten Finanziers Jakob Michael und einer Reihe anderer Personen, die in diesem Buch als Fürsprecher, Anwälte und Verteidiger Barmats auftauchen. Bis Ende der 1930er Jahre hatten sie entweder das Land verlassen oder waren in Konzentrationslagern interniert worden.

Die hier erzählte Geschichte Julius Barmats fiele sicherlich anders aus, wenn der Unternehmer nach seiner Ausreise aus Deutschland 1929 sang- und klanglos in der Welt der Geschäfte untergetaucht wäre. Stattdessen gibt es, wie im achten und neunten Kapitel gezeigt wird, eine Skandalspur, die in die Schweiz, nach Belgien, Frankreich und in die Niederlande führt. Das hat mit der zweiten großen Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit, der Weltwirtschaftskrise, zu tun, als auch in den Nachbarländern eine Vielzahl von kleinen und großen Fehlspekulationen von Privatpersonen wie von Banken »aufflogen«. In dieser Zeit erwarb sich Barmat den Ruf eines »internationalen Betrügers«, und das noch vor dem belgischen Barmat-Skandal 1937. Wie schon in den deutschen Auseinandersetzungen und zugleich befeuert durch die nationalsozialistische Propaganda diskutierten die Zeitgenossen auch im Ausland Fragen der Grenzen der sozial-moralischen Ordnung des Kapitalismus, der Grenzüberschreitungen und Ausweisungen. Indes waren die Debatten stets nationalspezifisch eingefärbt, wie etwa die französischen Hypostasierungen Barmats als vermeintlicher – jüdischer – Agent des deutschen Geheimdienstes illustrieren. Die Ereignisse in dem nahe-fernen Belgien zeigen überdies die in den 1930er Jahren explosive Verbindung von Demokratie-, Korruptionsund Kapitalismuskritik, die in den Sturz einer erfolgreichen Regierung, nicht jedoch des demokratischen Systems mündete.

Ausgehend von diesen internationalen faschistischen Debatten über »Bankster« und »jüdischen Hyperkapitalismus« verfolgt das zehnte Kapitel zunächst zeitgenössische Einschreibungsversuche von Julius Barmat in antisemitische Hetzfilme wie Jud Süß und den Ewigen Juden, die auch im Ausland gezeigt wurden. Vor diesem Hintergrund werden Überlegungen zu den radikalen Grenzüberschreitungen der NS-Zeit in Form der Vernichtungspraxis während des Zweiten Weltkrieges angestellt. Die Nachbetrachtungen nehmen schließlich das Verschwinden Julius Barmats aus dem sozialen Gedächtnis nach dem Krieg in den Blick, und zwar auch vor dem Hintergrund, dass einige wichtige Akteure der Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit nach 1945 die deutsche Historiografie mitprägten. Es geht um das Verschwinden des kontaminierten Themas »Kapitalismus« zumindest in bundesdeutschen Debatten, was bis heute viele historiografische Leerstellen hinterlassen hat.

Возрастное ограничение:
0+
Объем:
791 стр. 20 иллюстраций
ISBN:
9783868549362
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают