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Die ersten tausend Tage

Die ersten tausend Lebenstage – die Zeitspanne zwischen der Empfängnis und dem zweiten Geburtstag – sind der kritische Zeitraum schlechthin, in dem ein beträchtlicher Teil (ca. 50 Prozent, wie wir gesehen haben) von Gesundheit, Wachstum und neurologischer Entwicklung über die gesamte Lebensspanne hinweg »programmiert« wird. Das ist derzeit weitgehender wissenschaftlicher Konsens. Zahlreiche Programme von Non-Profit-Organisationen, von der UNICEF bis zur Gemeindeebene, nennen daher ihre Kampagnen zur Verbesserung der globalen Situation »The first 1000 Days«.

Besondere Aufmerksamkeit hat neben der richtigen Ernährung der Mutter auch das Stillen erlangt. Aufgrund der nachgewiesenen positiven Auswirkungen des Stillens auf die Gesundheit und das Überleben von Kindern empfehlen führende Gesundheitsverbände, darunter die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die American Academy of Pediatrics (AAP), dass Babys in den ersten sechs Monaten ausschließlich (!) gestillt werden sollten (ohne jegliche Zufütterung). Die WHO empfiehlt zudem, dass Babys selbst bei Zufütterung mindestens 24 Monate lang weiter gestillt werden sollten, da dies sowohl Mutter als auch Kind die größten gesundheitlichen Vorteile bietet. Bisher fehlt allerdings vielen Müttern die oft nötige Unterstützung, um diese Empfehlungen umsetzen zu können. Infolgedessen können sie und ihre Kinder die außergewöhnlichen gesundheitlichen Vorteile des Stillens nicht nutzen. Warum Stillen so außerordentlich wichtig ist und welche erstaunlichen Mechanismen hinter der gesundheitsfördernden Wirkung stehen, werde ich später noch erläutern.

Und noch eine ganz wichtige Einsicht – die Notwendigkeit zu politischem Handeln – lässt sich aus oben Gesagtem ableiten. Gesellschaftliche und sozioökonomische Ungleichheit bzw. Ungerechtigkeit sind die stärksten allgegenwärtigen Determinanten für eine negative gesundheitliche Entwicklung in jeder menschlichen Gesellschaft auf der Erde. Einfach ausgedrückt, hat ein Kind, das in Armut aufwächst, im Erwachsenenalter eine bedeutend schlechtere Gesundheit als ein Kind, das nicht in Armut aufwächst.29

In dieser wissenschaftlich begründeten Tatsache liegt – gerade in unserer modernen Gesellschaft – allerdings auch unsere große Chance, den Teufelskreis von Armut und schlechter Gesundheit zu durchbrechen. Die über Jahrzehnte einzusparenden gesellschaftlichen und ökonomischen Kosten wären nämlich enorm. Bereits der berühmte Afroamerikaner Frederick Douglass (1817–1895), ehemaliger Sklave und späterer Schriftsteller, bemerkte: »Es ist einfacher, starke Kinder heranzuziehen, als gebrochene Männer zu reparieren.« Kostengünstiger ist es obendrein.

Wenn es bereits zu spät ist

In zahlreichen Fällen ist es allerdings zu spät, um präventive Maßnahmen zu setzen, da der Schaden bereits eingetreten ist. Glücklicherweise kennen wir aber verschiedenste Interventionen und Maßnahmen, um den späteren negativen Gesundheitsfolgen entgegentreten zu können. Die epigenetischen Erbgutmodifikationen einer negativen »Programmierung« sind keinesfalls absolut irreversibel, sondern lassen sich bis zu einem gewissen Grad zeitlebens positiv beeinflussen.

Gesunde Beziehungen

Zahlreiche Studien haben die Schutzfunktion einer sicheren emotionalen Bindung zu einer Bezugsperson und ihren positiven Einfluss auf die Entwicklung von Kindern gezeigt.30 Umgekehrt hat sich aber auch gezeigt, dass mangelnde soziale Integration und Unterstützung ein größerer Risikofaktor für eine frühere Sterblichkeit im Erwachsenenalter ist als Rauchen, Alkoholkonsum und körperliche Inaktivität.31 Die gute Nachricht ist, dass die positive Schutzwirkung einer frühen sozialen Integration ebenso dosisabhängig ist wie die negativen Gesundheitsfolgen von frühkindlichen Ereignissen.32

Gesunder Schlaf

Wie ich später noch ausführlich erläutern werde, sind eine verminderte Schlafdauer und eine schlechte Schlafqualität sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern für zahlreiche Gesundheitsprobleme und Krankheiten bis hin zu einem verfrühten Tod verantwörtlich.33 Es liegt daher nichts näher, als für eine regelmäßige Schlafroutine und ausreichende Schlafdauer bereits ab der frühen Kindheit zu sorgen. So kann das (Vor)Lesen von Büchern und eine Begrenzung der Bildschirmzeit vor dem Schlafengehen erheblich zur Förderung der Schlafhygiene beitragen und im Falle des Vorlesens darüber hinaus die erwähnten sozialen Bindungen stärken sowie die kindliche Entwicklung (Fantasie) anregen.

Gesunde Ernährung

Eine dauerhafte stressbedingte Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse und die resultierende Cortisolfreisetzung scheinen eine langfristige Überlebensstrategie des Köpers zu aktivieren. Das bei gestressten Menschen zu beobachtende gesteigerte Bedürfnis nach kalorien- und fettreichen Nahrungsmitteln dürfte aus evolutionärer Sicht dazu dienen, ausreichend Reserven für die nächsten bevorstehenden Stressoren zu haben. Zudem haben viele Menschen gelernt, sich durch Zucker- und Fetthaltiges vermeintlich zu »beruhigen«. Ein Teufelskreis.34

Stress hat aber nicht nur Einfluss auf unser Ernährungsverhalten, sondern auch eine gesunde Ernährung kann, über die Modulation unseres Darmmikrobioms, umgekehrt die Stressreaktion unseres Körpers mildern. Wie unsere Darmbakterien Einfluss auf zahlreiche Organsysteme unseres Körpers, ja sogar auf unser Verhalten nehmen, werden ich in Kapitel »Mikrobiom« genauer beleuchten. Fest steht, dass die tägliche Ernährung unseren innigsten Kontakt zu unserer Umwelt darstellt. Ein Umstand, den vielen Menschen, die Essen als notwendiges Übel ansehen, um die »Maschine Köper« am Laufen zu halten, nicht berücksichtigen. Groß angelegte Studien haben gezeigt, dass eine mangelhafte und einseitige Ernährung weltweit für mehr Todesfälle verantwortlich ist als alle anderen Risikofaktoren, einschließlich des Tabakrauchens.35

Eine gesunde Ernährung hingegen liefert nicht nur ausreichend Nährstoffe bei gleichzeitig weniger leeren Kalorien, sie ist zudem als Lieferant von Methylgruppen und anderen bioaktiven Molekülen auch ein potenter Modulator epigenetischer Prozesse.36

Gesunde Bewegung

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass körperliche Aktivität nicht nur die allgemeine Gesundheit verbessert, sondern im Speziellen vor allem kognitive Funktionen, die Hirnentwicklung, die hormonelle Regulation und die Immunfunktion positiv beeinflusst.37

Und selbst wenn die diesbezügliche Forschung noch recht jung ist, so zeichnet sich mittlerweile ab, dass auch regelmäßige körperliche Aktivität ihre schützende Wirkung bezüglich Krankheiten wie Diabetes mellitus, Adipositas und in der Folge Herz-Kreislauf-Erkrankungen über die Beeinflussung epigenetischer Prozesse ausübt.38

Zusammen mit gesunder Ernährung und ausreichend erholsamem Schlaf zählt die regelmäßige moderate körperliche Betätigung zu den drei wichtigsten, relativ einfach und täglich umsetzbaren Maßnahmen für ein langfristig gesundes Leben. Ich werde diese drei untereinander vernetzten Gesundheitsfaktoren im Verlauf des Buches noch ausführlicher beleuchten.

Achtsamkeit

Die vielfältigen, nicht genormten Formen von achtsamkeitsbasierten Meditationstechniken lassen sich nur schwer objektivieren, um sie wissenschaftlich problemlos vergleichen zu können. Trotz dieser und anderer Einschränkungen deuten aktuelle Untersuchungen an Erwachsenen darauf hin, dass auf Achtsamkeit basierende Interventionen wie Meditation, Yoga, Tai Chi und Qi Gong eine Vielzahl von sozialen, emotionalen, verhaltensbezogenen und physiologischen Gesundheitsparametern entscheidend verbessern können.39

Ein wesentlicher Mechanismus für die gesundheitsfördernden Aspekte von achtsamkeitsbasierten Techniken ist ihre stressreduzierende und entspannende Wirkung über spezifische Gehirnbahnen. Bekannt ist, dass Stress das Auftreten oder die Verschlechterung von Symptomen unter anderem bei chronischen Schmerzen, Psoriasis, Reizdarmsyndrom, posttraumatischer Belastungsstörung und Diabetes beeinflusst.40

Darüber hinaus ist gut belegt, dass chronischer Stress mit negativem Gesundheitsverhalten wie gesteigertem Tabakkonsum, vermehrten Schwierigkeiten bei der Raucherentwöhnung (erhöhter Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls), schlechterem Ernährungs- und Essverhalten sowie mit Schlafstörungen und schlechterer Schlafqualität verbunden ist. Es liegt daher nahe, dass die gesundheitsbezogenen Aspekte von achtsamkeitsbasierten Programmen primär über die damit einhergehende Stressreduktion ihre Wirkung entfalten.41

In Verbindung mit den genannten negativen Einflüssen in frühen Lebensabschnitten versprechen neueste Forschungsbemühungen, die direkte Wirkung achtsamkeitsbasierter Interventionen wie Meditation auf epigenetische Effekte zurückzuführen, besonders spannend und vielversprechend zu sein.42

Naturerlebnis

Eine zunehmende Zahl empirischer Forschungsergebnisse zeigt auch den vielfältigen Wert von Naturerlebnissen bzw. des Verweilens in der Natur für die menschliche Gesundheit.43

Groß angelegte Studien und Metaanalysen der letzten Jahre belegen einen deutlichen Stressreduzierungseffekt für Menschen in natürlichen Umgebungen sowie positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und kognitive Funktionen.44

Dabei dürfte die stressreduzierende Wirkung von »mehr Zeit in der Natur« vor allem durch eine Senkung von Herzfrequenz und Blutdruck sowie durch eine Änderung des Cortisolspiegels vermittelt werden.45

Auch die psychische Komponente von Naturerfahrung spielt eine gesundheitsförderliche Rolle, allerdings lässt sich diese mangels einer genauen Definition von »Natur« und aufgrund unterschiedlicher Präferenzen gegenüber verschiedenen Landschaftstypen wissenschaftlich nur schwer objektivieren.

Speziell für Kinder, die Adverse Childhood Events hinter sich haben, wurde erst kürzlich der potenziell therapeutische Nutzen von Natur vorgeschlagen.46 Die diesbezüglichen Forschungen befinden sich derzeit allerdings noch in den sprichwörtlichen »Kinderschuhen«. Inwieweit epigenetische Erbgutmodifikationen dabei für einen langfristigen Therapieeffekt eine Rolle spielen, ist zwar noch unklar, angesichts des derzeitigen Kenntnisstandes zur Verbindung von Psyche und Epigenetik aber anzunehmen.


Ein gewisser Stress in der Kindheit kann, wenn dadurch Herausforderungen gemeistert werden und dem Kind dadurch psychisches Wachstum und eine gesunde Entwicklung ermöglicht werden, positiv sein. Toxischer Stress resultiert jedoch aus anhaltenden negativen Erfahrungen oder Umwelteinflüssen, die Kinder nur schwer bewältigen können. Folglich wirkt sich chronischer Stress extrem nachteilig auf die Entwicklung des Gehirns aus und führt zudem über eine epigenetische Programmierung in der frühen Kindheit zu chronischen Krankheiten im Erwachsenenalter und ist mit einer erhöhten Sterblichkeit verbunden.47

Diese Erkenntnis kommt im Endeffekt einer Revolution gleich und könnte bei dementsprechenden Handlungskonsequenzen auf politischer, gesellschaftlicher und individueller Ebene die Zukunft unserer Gesellschaft (nicht nur auf gesundheitlicher Ebene) drastisch verbessern!

Es liegt an uns und einer vorausschauenden Politik der gewählten Volksvertreter, gemäß dieser biomedizinisch großteils abgesicherten Erkenntnisse konkrete Maßnahmen für die Zukunft mehrerer Generationen zu setzen.

Die Langzeitauswirkungen der Coronavirus-Pandemie auf Kinder und Jugendliche als vulnerable Bevölkerungsgruppe sind derzeit nicht im Geringsten abschätzbar und lassen entsprechende Präventionsmaßnahmen umso dringender erscheinen.

Leben
Was ist Leben?

Um uns selbst und unsere belebte Mitwelt etwas besser zu verstehen, sollten wir uns für einen Moment mit der Frage auseinandersetzen, was Leben eigentlich ist und was ein Lebewesen wie den Menschen überhaupt ausmacht.

Bei eingehender Beschäftigung mit der Frage, was Leben ausmacht bzw. was seine Grundpfeiler sind, bemerkt man rasch, dass eine umfassende Definition gar nicht so einfach ist. In der Naturwissenschaft, insbesondere der Biologie, wird Leben über zahlreiche miteinander verbundene Prozesse definiert, die in ihrer Gesamtbetrachtung die charakteristischen Eigenschaften eines lebenden Organismus ausmachen.

Diese Prozesse und Eigenschaften umfassen Energiegewinnung und Stoffwechsel mit enger Beziehung zur Umwelt, die Fähigkeit zur Selbstregulation und Aufrechterhaltung einer inneren Organisation, Kommunikation mit anderen Lebewesen über verschiedenste Signale, die Fähigkeit, auf chemische oder physikalische Änderungen in der Umwelt zu reagieren, Fortpflanzung bzw. Reproduktion sowie Weitergabe von genetisch verankerten Eigenschaften und freilich die Fähigkeit zu Wachstum und Entwicklung.

Während diese Eigenschaften schon bei den kleinsten einfachen Lebewesen existieren, werden diese Prozesse mit zunehmend höherer Organisationsform immer komplexer. Die Basis dieser komplexen Systeme ist eine kaum überschaubare Vielzahl biochemischer Moleküle. Die kleinste Einheit des Lebens, eine Zelle, kann bereits als selbstständiger Organismus existieren. Alle Lebensformen bedienen sich der gleichen Form der Informationsspeicherung in Form von DNA und RNA und des gleichen universell gültigen genetischen Codes bestehend aus lediglich vier verschiedenen Nukleotiden. Die vielfältigen Möglichkeiten der Aneinanderreihung dieser vier Buchstaben bilden die Grundlage für Evolution und die gesamte zu beobachtende Vielfalt der Lebewesen. Wie genau dieses Leben auf der Erde entstand, ist bis heute nicht hinreichend geklärt. Selbst die Möglichkeit, dass der Ursprung des Lebens nicht auf der Erde, sondern auf irgendeinem anderen Himmelskörper entstand, ist noch nicht gänzlich vom Tisch.

Bei der Geburt eines Kindes bzw. etwa neun Monate davor sprechen wir häufig vom »Beginn des Lebens«. Allerdings ist dies aus biologischer Sicht nur bedingt richtig, da das Leben seit Milliarden von Jahren, von Generation zu Generation ein ununterbrochenes Kontinuum von Lebensformen darstellt. Aus dieser biologischen Sicht existiert ewiges, unvergängliches Leben tatsächlich. Ein Neugeborenes ist lediglich die körperliche Manifestation dieses kontinuierlichen Stromes des Lebens.

Für die Erhaltung komplexer Lebenssysteme und zum Aufbau von Materie ist Energie notwendig. Für viele Lebewesen dieser Erde, einschließlich uns Menschen, ist das Sonnenlicht die primäre Leben spendende Energiequelle, die über den Prozess der Photosynthese alles weitere Leben aufrechterhält. Allerdings existiert auch Leben, das ohne Sonnenlicht als Energiequelle auskommen kann, wie zum Beispiel manche thermophilen methanogenen Archaeen, die auf der Grundlage der Oxidation von Wasserstoff und der Reduktion von Kohlendioxyd zu Methan in extremen Lebensräumen gedeihen können.

Zelluläre Organismen, die sogenannten Biota, unterscheiden sich von den Viren. Letztere können sich nur mithilfe lebender Zellen vermehren. Aus diesem Grund wird auch zum Teil heftig darüber diskutiert, ob es sich bei Viren überhaupt um Lebewesen im klassischen Sinn handelt oder eher um eine leblose Ansammlung von Genen und Proteinen. Isoliert betrachtet, außerhalb einer Wirtszelle, besitzen Viren tatsächlich nicht alle Eigenschaften, die das Leben definieren. So fehlen ihnen zum Beispiel ein eigener Stoffwechsel und die Fähigkeit, sich eigenständig fortzupflanzen. Unter den natürlichen Bedingungen des Lebens aber, während der Wechselwirkung mit einem Wirt, verhalten sich Viren eindeutig wie eine Lebensform. Sie erwachen durch ihren Wirt bzw. dessen Zellen quasi zum Leben.

Auch wir Menschen können, wie andere mehrzellige Organismen auch, nur bis zu einem gewissen Grad selbstständig »leben«. Genauso wie Viren eine Wirtszelle benötigen, um zu »leben«, sind wir auf Organismen wie Pflanzen angewiesen, die Sonnenlicht zu organischen Verbindungen aufbauen, um uns zu ernähren und damit zu leben. Isoliert betrachtet, kann kaum ein Lebewesen gänzlich alleine existieren. Das Netz des Lebens umfasst unzählige Wechselwirkungen und Abhängigkeiten, die auf den ersten Blick unsichtbar sind.

Und noch etwas: Sogenannte Retroviren dürften die Entwicklung unserer menschlichen Spezies im Laufe der Evolution teilweise sogar gefördert haben. Als humane endogene Retroviren (HERVs) wurden sie über Millionen Jahre der Evolution als defekte Viren Teil unseres eigenen Genoms.

Im Rahmen des Human Genome Projects wurden im menschlichen Genom mehrere Tausend solcher endogener Retroviren gefunden. Sie machen etwa acht Prozent unseres Genoms aus und schlummern darin keinesfalls nur als blinde Passagiere, sondern dürften wesentlich an der Entwicklung der komplexeren Säugetier-Plazenta beteiligt gewesen sein. Neueste Forschungsergebnisse legen zudem nahe, dass HERVs sowohl bei der Tumorentstehung als auch bei der angeborenen Immunabwehr gegen Krebszellen eine zentrale Rolle spielen könnten.1

Endogene Retroviren sind ein weiteres Beispiel für die Notwendigkeit einer differenzierten Sicht auf die Prozesse des Lebens, denn sie tragen durch ihre Beteiligung bei der angeborenen Immunantwort einerseits zu unserem Schutz bei, andererseits können sie auch zu einer Schädigung durch Autoimmunprozesse und Krebsentstehung führen.2

Viren spielen somit bei der Betrachtung des Lebens, auch abseits ihrer Eigenschaft als Infektionserreger, eine außerordentliche Rolle und die Wissenschaft beginnt gerade erst die Bedeutung viraler Bestandteile unseres Genoms für Gesundheit und Krankheit zu enträtseln.

Bisher war man eher der Auffassung, dass sie als Bestandteil der nichtkodierenden Abschnitte unserer DNA, der sogenannten »Junk-DNA«, mitgeführter genetischer Ballast seien. Da dieser »Ballast« aber gut 97 Prozent (!) unserer DNA-Sequenzen ausmacht (also nicht für konkrete Proteine kodiert), ist es äußerst unwahrscheinlich, dass dieser große Anteil unserer Erbinformation keine wichtige biologische Aufgabe erfüllt. Im Gegenteil: Ergebnisse aus dem vermutlich noch lange nicht abgeschossenen ENCODE-Projekt (Encyclopedia of DNA Elements) deuten darauf hin, dass zumindest 80 Prozent unserer Erbsubstanz tatsächlich eine wie auch immer geartete biologische bzw. biochemische Funktion aufweisen.3 Auch in diesem Bereich wird die Zukunft mehr als spannend.

Wir haben uns jetzt zwar einer Definition von Leben einigermaßen angenähert, aber was macht eigentlich ein Tier wie den Menschen aus? Eine gängige simple Erklärung bezeichnet Tiere als vielzellige Lebensformen (ausgenommen der Pilze), die einen sogenannten heterotrophen Stoffwechsel besitzen. Das bedeutet, dass sie, was ihre Ernährung betrifft, von der Körpersubstanz oder den Stoffwechselprodukten anderer Organismen abhängig sind. Sprich: Sie müssen Nahrung in Form anderer Organismen oder deren Produkte zu sich nehmen.

Diese Definition eines Tieres wie der Menschen ist zwar nicht falsch, aber leider ziemlich unvollständig. Sie vernachlässigt nämlich zumindest die Hälfte der Zellen und die bei Weitem überwiegende Mehrzahl der Gene, die unseren Körper ausmachen! Wir verdanken diese revolutionäre Erkenntnis im weitesten Sinne einem Mann, den kaum jemand kennt.

Carl Woese, 16s rRNA und der Baum des Lebens

Carl Woese ist für die Biologie das, was Albert Einstein für die Physik ist, und dennoch kennt ihn kaum jemand. Wie kann das sein? Als Carl Woese in den 1960er- und 70er-Jahren, kurz nach Entdeckung der Doppelhelix-Struktur der DNA durch Watson und Crick, die Idee hatte, mithilfe der zu diesem Zeitpunkt aufstrebenden Genetik den Baum des Lebens aus Carl Linnés Systema naturae zu adaptieren, steckte die Wissenschaft der Molekularbiologie noch in den Kinderschuhen.

Um einen molekulargenetischen evolutionären Stammbaum des Lebens zu generieren, suchte Woese nach einem Gen, das in jedem bekannten Organismus vorkommt, von Generation zu Generation weitergegeben wird und langsam mit einer hohen Vorhersagbarkeit mutiert. Das Molekül, das diese Anforderungen schließlich erfüllte, war die sogenannte ribosomale RNA (rRNA). Dieser Bestandteil der zellulären Proteinherstellungsmaschinerie findet sich sowohl in einfachen Prokaryoten als auch in komplexeren eukaryoten Zellen. Am besten geeignet schien Woese dafür die sogenannte 16s rRNA (eine Untereinheit der ribosomalen RNA) in den Prokaryoten und das geringfügig größere Äquivalent der Eukaryoten, die 18s rRNA.

Die zur Auswertung notwendige Computerrechenleistung lieferte damals noch ein IBM-Lochkartensystem und der Prozess war einigermaßen langwierig, da für einen einzigen 16s rRNA-Fingerprint oft Monate vergingen. Als Woese eines Tages die 16s rRNA von speziellen bakterienartigen Zellen sequenzierte und die Ergebnisse so gar nicht zu den Bakterien passten, war Woese außer sich. Er wusste, er hatte eine gänzlich neue Lebensform entdeckt. Er nannte diese bakterienartigen Organismen, die sich jedoch deutlich von diesen unterschieden, Archaea (von altgriech. archaĩos »uralt«, »ursprünglich«).4

Es stellte sich heraus, dass es sich nicht um irgendeinen kleinen Seitenast des Lebensbaumes handelte, sondern um einen eindrucksvollen dicken Hauptast. Neben den Bakteria und Eukarya existierte von nun an eine dritte Domäne, die Archaea. Woese und sein Kollege George Fox brachten es mit dieser Erkenntnis 1977 sogar auf die Titelseite der New York Times. Was folgte, waren Ablehnung und heftige Anfeindung durch zahlreiche zeitgenössische Biologen, die schließlich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten. Ein seltsames Phänomen, das sich in der Wissenschaftsgeschichte häufig wiederfindet und zeigt, dass neue, revolutionäre Erkenntnisse in einem konservativen System anfänglich zumeist nicht wohlwollend aufgenommen werden. Die meisten wollten damals schlicht nicht akzeptieren, dass Pflanzen und Tiere im neu aufgestellten Baum des Lebens lediglich einen unbedeutenden Endzweig eines eher kleinen Astes darstellten.

Als sich die molekularbiologische Technologie zunehmend verbesserte und effizienter wurde und Sequenzierungsdaten aus der ganzen Welt die Ergebnisse von Woese zunehmend bestätigten, war er schließlich zwanzig Jahre später vollständig rehabilitiert. Heute ist die Sequenzierung der 16s rRNA der Standard schlechthin, um unbekannte Mikroben zu entdecken und zu klassifizieren. Der verkannte Visionär Carl Woese starb 2012 im Alter von 84 Jahren.

Dank seiner bahnbrechenden Forschung und konsequenten Unbeirrbarkeit wissen wir heute, dass der größte Teil der Biodiversität unserer Erde, vor unseren Augen verborgen, in der unsichtbaren Welt der Mikroben zu finden ist. Sie sind überall, in unserer Umwelt, unter unseren Füßen und in uns selbst. Sie repräsentieren die bei Weitem überwiegende Mehrheit der genetischen, metabolischen und ökologischen Vielfalt der gesamten Biosphäre!

Da Mikroben für biogeochemische Kreisläufe und für die gesamte Funktion der Biosphäre von entscheidender Bedeutung sind, ist das Lebenswerk von Carl Woese – das Netzwerk der Evolution und die Vielfalt der Mikroben zu klären –, für die Ökologie und die gegenwärtige biomedizinische Forschung von unschätzbarem Wert und reicht meines Erachtens zweifelsohne an Darwins Lebenswerk heran. Dieses Buch, insbesondere der folgende Abschnitt, wäre ohne Carl Woese jedenfalls nie geschrieben worden.

Und noch etwas: Der Baum des Lebens wächst und wächst unaufhaltsam. Während der letzten Jahre hat sich vor allem durch Initiativen wie das Human Microbiome Project und das Earth Microbiome Project der große Ast der Bakterien, aber auch jener der Archaea, erheblich vergrößert und zahlreiche neue Äste sprießen lassen.


Als die Astronauten der Apollo-8-Mission am 24. Dezember 1968 erstmals ihren eigenen, durch die Sonne bestrahlten Heimatplaneten über dem Horizont des Mondes aufsteigen sahen, hatten sie, wie viele andere auch, die in der Folge diese als »Earthrise« betitelte Aufnahme unseres blau-grünen Planeten sahen, ein Erweckungserlebnis der Sonderklasse. Wie klein, verwundbar und verloren doch unser wunderbarer Planet in der unendlichen Weite des Universums wirkte.

Ein derartiger »Übersichtseffekt« bewirkt gewissermaßen eine fundamentale kognitive Identitätsverschiebung. Vielleicht haben Sie ja ein gleichartiges »Erweckungserlebnis«, wenn Sie den phylogenetischen Baum allen Lebens auf der Erde betrachten (Abbildung 3). Für viele Menschen ist es tatsächlich ein »Aha-Moment«, wenn sie erkennen, ja zur Kenntnis nehmen müssen, wie klein und unbedeutend unser winziger menschlicher Zweig unter der großen genetischen Vielfalt des Lebens auf der Erde eigentlich ist. Sicher, unser menschlicher Zweig ist einzigartig. Aber genau das trifft in gleicher Weise auf den Zweig jeder anderen Spezies zu.

Abbildung 3: »Tree of Life«. Eine aktuelle, stark vereinfachte Version des Baumes des Lebens, der die gesamte Vielfalt der derzeit sequenzierten Genome umfasst. Die Bakterien der sogenannten »Candidate Phyla Radiation« umfassen Bakterienstämme, deren Mitglieder größtenteils unkultiviert und nur aus der Metagenomik und Einzelzellsequenzierung bekannt sind. (Stark vereinfacht und modifiziert nach Hug et al. 20165)

Irgendwann vor etwa 3,5 bis 3,9 Milliarden Jahren entstand auf der Erde das erste primitive Leben. In weiterer Folge war es LUCA (englische Abkürzung für last universal common ancestor), der den Ausgangspunkt für alle heute bekannten Lebensformen wie Bakterien, Archaeen, Pilze, Pflanzen und Tiere (inklusive Mensch) darstellte. LUCA ist gewissermaßen der letzte hypothetische gemeinsame Urvorfahre aller existierender Arten, der vor mindestens 3,5 Milliarden Jahren gelebt hat. Ob LUCA bereits DNA oder noch die ältere Form der RNA als Speicherung seiner Erbinformation nutzte, ist unklar.

Die Verwandtschaft von allen derzeit existierenden Lebewesen lässt sich durch ein Kladogramm der gesamten Organismenwelt – den sogenannten »Tree of Life« – darstellen. Selbst der Zeitpunkt, an dem sich zwei Entwicklungslinien voneinander getrennt haben, lässt sich molekulargenetisch mithilfe der sogenannten molekularen Uhr einigermaßen genau ermitteln.

Übrigens: Alle Tiere sind mehr oder weniger miteinander verwandt, da sie sich aus einer gemeinsamen Stammform entwickelten. Auch wenn es so manchem Weltbild widerstrebt, so zählt in der Biologie der Mensch ganz ohne Zweifel zu den Tieren und gehört somit in das Reich der Animalia. Paradoxerweise ist der Mensch aber das einzige Tier, das glaubt, kein Tier zu sein.

Wenn wir uns 3,7 Milliarden Jahre Evolution von Leben auf der Erde als einen einzigen 24-Stunden-Tag vorstellen und die Tatsache akzeptieren, dass Mikroben von den ersten Sekunden an den Planeten dominierten, dann müssen wir uns demütig eingestehen, dass Homo sapiens erst seit den letzten zwei Sekunden existiert! Selbst all unsere menschlichen Vorfahren erschienen erst vor etwas mehr als einer Minute. Gesamtökologisch betrachtet, fällt unsere Leistung, vor allem während der letzten Millisekunden, nicht gerade berauschend aus. Ohne die seit Milliarden von Jahren existierenden Mikroben gäbe es hingegen kein Leben auf der Erde. Sie sind für die grundlegenden biochemischen Reaktionen verantwortlich, die letztlich die globalen Ökosysteme, die Biosphäre geschaffen haben. Sie ist die Lebensgrundlage alles mehrzelligen Lebens, auch des unseren.

Wir können die Mikroben nicht sehen (die meisten davon nicht einmal im Lichtmikroskop) und dennoch sind sie überall, im Boden, auf den Pflanzen, im Wasser und in der Luft. Besonders erstaunlich ist für die meisten Menschen deren unermessliche Zahl.

Die unsichtbaren Mikroben machen sogar den größten Teil der Gesamtbiomasse der Erde aus. Wenn man alle Mikroben auf dem Planeten zählen würde, wären sie nicht nur zahlreicher als alle Pflanzen, Pilze, Tiere und Menschen auf der Erde, sie würden sie auch gewichtsmäßig weit übertrumpfen!

Wir sollten dankbar sein, dass Mikroben in so unvorstellbarer Zahl allgegenwärtig sind. Ohne sie wären wir weder in der Lage etwas zu essen noch Sauerstoff zu atmen. Und obwohl wir Menschen dermaßen von Mikroben abhängig sind, verhält es sich umgekehrt gänzlich anders: Sie werden weiterhin mit oder ohne uns gedeihen.

Mikroorganismen sind also unheimlich vielfältig und in großer Zahl mit allem Leben auf der Erde verbunden, sodass wir sie in so gut wie allen Lebensräumen des Planeten antreffen. Sie leben im Boden, werden über Wasser und Wind sowie über Lebewesen und deren Ausscheidungen in der Biosphäre verteilt. Aus diesem Grund ist es eigentlich unzulässig, einzelne Mikrobengemeinschaften isoliert zu betrachten, denn Mikroorganismen respektieren so gut wie keine Grenzen. Ganzheitlich betrachtet, gibt es nur ein einziges großes Mikrobiom und das ist jenes der Biosphäre. Wir und alle anderen mehrzelligen Lebewesen sind lediglich vorübergehende Gefäße bzw. Aufenthaltsorte für eine ausgesuchte Gruppe dieser großen Lebensgemeinschaft. Wir können also in der Folge zwar von Darmmikrobiom, Hautmikrobiom oder sonstigen Mikrobiomen sprechen, müssen dabei aber immer im Hinterkopf behalten, dass es sich immer nur um Teilsysteme eines viel größeren Systems handelt, das auf gemeinsame evolutionäre Wurzeln zurückgeht und stets in Wechselwirkung und Austausch steht.

1 722,70 ₽
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9783701746675
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