Читать книгу: «Feierabend hab ich, wenn ich tot bin», страница 4

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Wenn diese Nabe im Zuge des Burnouts bricht, fängt das Rad gefährlich an zu eiern und ist in Gefahr, gänzlich auseinanderzufallen. Denn jeder in der Familie hat seinen Platz gefunden rund um den Lonesome Ranger, der alle Probleme in den Griff kriegt und das System Familie managt. Und der einsame Held in der Mitte wiederum hat seinen Platz liebgewonnen, hat aus dem Funktionieren heraus eine gewisse Befriedigung erhalten, die erst durch das erzwungene Hinterfragen der Lebenssituation ins Wanken kommt. So implodiert eine Familie im Burnout nach zwei Seiten: Das Lebensgebäude des Betroffenen stürzt in sich zusammen. Und die Familie muss erkennen, wie sehr sie sich in all den Jahren einen Manager herangezüchtet hat, der ihre scheinbar heile Welt in der Balance gehalten hat. Bis jetzt.

Dazu noch ein Beispielfall: In meiner Praxis saß eine erfolgreiche, attraktive Frau Mitte 30 mit Doktortitel, die eigentlich wegen einer beruflichen Beratung gekommen war. Sie hatte gleich mehrere Karriereoptionen, unter denen sie wählen konnte. Und genau das war das Problem – sie konnte sich nicht entscheiden. Wie so oft in solchen Fällen kamen wir von einem offensichtlichen Businessthema schnell auf ein Problem auf der persönlichen Ebene zu sprechen. Im Coaching wurde der Klientin klar, warum sie sich nicht entscheiden konnte: In allen bisherigen Lebensphasen und beruflichen Stationen war sie immer die »kleine, brave Tochter« gewesen, die die Leistungsansprüche ihrer Eltern erfüllt und dafür Zuneigung geerntet hatte. Das hatte sie gründlich satt, konnte aber nichts dagegen tun, weil sie bislang diesen Mechanismus nicht durchschaut hatte. Im Coaching platzte dieser Knoten. Sie führte einige durchaus sehr emotionale, aber heilende Gespräche mit ihren Eltern und hatte schließlich die Kraft und Klarheit für eine Karriereentscheidung.

Schlimm genug also, wenn Eltern auf den Trichter der unbewussten Leistungsdressur verfallen. Immer häufiger jedoch kommt es gar nicht mehr dazu, weil keine Eltern mehr da sind, die diesen Druck ausüben könnten. Der Trend zur Ein-Elternteil-Familie nimmt zu; Großfamilien sind höchstens noch ein Thema für nostalgische Retro-Soaps im Privatfernsehen. So lebten 2006 in Deutschland 2,7 Millionen alleinerziehende Mütter und Väter mit Kindern – eine Zunahme von 24 Prozent innerhalb von zehn Jahren.17 Auch die Zahl Alleinstehender – Ledige, verheiratet getrennt Lebende, Verwitwete und Geschiedene – nimmt zu: 2006 waren in Deutschland 16,5 Millionen Menschen ohne Lebenspartner und ohne Kinder alleinstehend. Das sind 16 Prozent mehr als noch 1996.18 Selbst in traditionellen Familien arbeiten immer mehr Eltern gleichzeitig (bei Ehepaaren: 19 Prozent, bei ehelichen Lebensgemeinschaften: 38 Prozent).19

Insgesamt also fragmentiert unsere Gesellschaft zusehends. Für das aufwachsende Kind bedeutet das eine mangelhafte Orientierung an Rollenbildern in der Kindheit und wenig Zeit mit den Eltern. Vom Luxus eines Großfamilienverbundes ganz zu schweigen. Wir haben in Mitteleuropa eine familienpolitische Situation geschaffen, die für Kinder wenig erfreulich ist.

Hier schließt sich der Kreis: Je weniger Eltern korrigierend eingreifen können, desto größer wird der Einfluss dominanter gesellschaftlicher Strömungen. Und das sind bei uns nun mal die bereits ausgiebig diskutierte übermächtige Stellung der Erwerbsarbeit für das eigene Selbstbild, ein dominantes Streben nach Erfolg in allen menschlichen Bereichen und die fehlende Orientierung an intellektuellen, religiösen, philosophischen und politischen Größen. Die alltägliche Überforderung wirft die Netze nach uns allen aus, doch der Burnout-Gefährdete reagiert darauf in seiner ganz spezifischen, selbstzerstörerischen Weise. Daher muss sich der Schwerpunkt zur Prävention und Behandlung von Burnout verschieben: hin zu einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Debatte und weg von einer rein nachsorgenden Burnout-Industrie.

2. KAPITEL
Die Burnout-Industrie

Es war heiß – jedenfalls für April. Die Sonne schien durch die Bäume vor seinem Haus. Vögel sangen. Die Natur strahlte Optimismus aus – ein Gefühl, das Konstantin Wagner im Moment so gar nicht nachvollziehen konnte.

Wagner strich erneut eine Telefonnummer auf seinem Zettel durch. »Schon wieder eine Nullnummer«, seufzte er innerlich. Dies war schon der vierte Therapeut in seiner Stadt, den er wegen eines Erstgesprächs angerufen hatte. Und wieder hatte er eine Absage erhalten. Dass es so schwierig werden würde, seinen Burnout therapeutisch anzugehen, hatte er nicht gedacht. Eine gewisse Hoffnungslosigkeit ergriff von ihm Besitz.

Nicht genug damit, dass er nun seit vier Wochen krankgeschrieben war und er bei seinem Chef auf der Abschussliste stand. Das wusste er von Werner. Und jetzt fand sich auch partout kein Therapeut, der für ihn Zeit hatte. Alle hatten sie ihn vertröstet – ehrlich bedauernd, aber in der Sache unerbittlich. Vor drei, vier Monaten sei da gar nichts zu machen, so der einhellige Tenor. Alle seien »voll bis Oberkante Unterlippe«. Konstantin Wagner fragte sich, wie das Ganze laufen würde, wenn er selbstmordgefährdet wäre. Wenn man sozusagen schon mit dem Handy in der Hand auf der Brücke steht und noch einmal einen Versuch startet. Da bräuchte man schon mehr als »La Paloma« in der Warteschleife.

Dabei war es schon schwierig gewesen, diese sechs Therapeuten aufzutun. Sein Hausarzt hatte ihm einen empfohlen, die anderen hatte er sich selbst zusammengesucht: aus den Gelben Seiten und aus Empfehlungen von Internet-Foren. Mit mildem Entsetzen hatte er festgestellt, dass man als Betroffener gar nicht so leicht an einheitliche Listen von qualifizierten Burnout-Therapeuten kam. Da war viel Eigeninitiative und Recherche gefragt – eine Arbeit, die sich Konstantin Wagner in seinem Zustand gern erspart hätte. Er fuhr sich mit der Hand müde über die Augen.

»Was soll man schon machen?«, dachte er. »Du musst mit den Karten spielen, die du kriegst.« Das hatte er immer getan und das Beste daraus gemacht. Er setzte sich an den Küchentisch, griff zum Telefon und wählte die nächste Nummer.

Fast jeder, der ab und zu eine Zeitung aufschlägt oder den Fernseher einschaltet, hat inzwischen von Burnout gehört, kennt jemanden, der darunter leidet oder ist selbst Burnout-Opfer. Der Begriff »Burn-out« wurde 1974 vom deutschstämmigen Psychoanalytiker Herbert Freudenberger geprägt, zuerst in den USA publiziert und hat sich über die Zeit in unseren allgemeinen Sprachgebrauch gefräst wie Sonne durch ein Brennglas. Manchmal muss man der angloamerikanischen Welt einfach dankbar sein für ihre Sprachkreationen, die Dinge auf den Punkt bringen, jedoch nur schwer oder gar nicht ins Deutsche übersetzbar sind. »Sophisticated« oder »Sabbatical« gehören auch dazu.

Beim Thema »Burnout« sprechen wir also nicht von balinesischen Kochrezepten auf Chili-Ingwer-Basis, die sich nur einem kleinen Kreis internationaler Spitzenköche erschließen. Im Gegensatz zu balinesischem Essen ist Burnout in aller Munde. Aber was ist Burnout genau? In wie vielen gestressten Köpfen steckt er? Wie groß ist eigentlich das Burnout-Problem in Deutschland? Und wie reagiert die Gesundheitsindustrie darauf?

Eschers Treppe

Kennen Sie das Werk Treppauf und Treppab des niederländischen Künstlers M. C. Escher? Es ist das Bild einer Treppe, deren Stufen sich scheinbar rundherum immer höher schrauben. Dennoch landet das Auge des Betrachters immer wieder bei der untersten Treppenstufe. Eine optische Täuschung, die sogar dann bestehen bleibt, wenn das Gehirn um den Täuschungseffekt weiß. Die Wahrnehmung folgt eben manchmal nicht den Gesetzen der Logik – auch wenn der Vulkanier Spock im Raumschiff Enterprise stets dafür gekämpft hat.

Ein ähnliches Paradox finden wir beim Burnout. Der Begriff »Burnout« ist längst Allgemeingut, während die Wissenschaft seit über 30 Jahren bei der Eingrenzung, Diagnose und den Begründungsmodellen von Burnout keine nennenswerten Fortschritte gemacht hat. Das ist auf den ersten Blick überraschend, denn Burn-out findet sich quasi überall: in der Tagespresse, in Ratgebern und Selbsthilfeliteratur, als Diskussionsthema auf Personalmessen und in TV-Formaten. Nicht zu vergessen die abendlichen Gespräche unter Freunden, bei denen man beklagt, man fühle sich so ausgebrannt, müde und lustlos, dahinter stecke bestimmt ein Burnout.

Wenn man den Begriff »Burnout« bei Google eingibt, erhält man etwa 59 Millionen Fundstellen. Begrenzt man die Suche auf deutschsprachige Seiten, bleiben immerhin noch knapp 6,5 Millionen. Obwohl der Begriff seit über 30 Jahren populärwissenschaftliche Karriere gemacht hat, ist sich die Wissenschaft bis heute nicht einig, was Burnout eigentlich ist: eine echte Störung im klinischen Sinn? Eine Unterform der Depression? Eine Modediagnose für gestresste Großstädter, die ihrem sinnentleerten Scheitern wenigstens den Abgang des Heroischen gönnen wollen?

Die Wissenschaft ist sich nicht einig darüber, was Burnout eigentlich ist.

Fest steht, dass vor dem Phänomen des modernen Burnouts bereits an vergleichbaren Erschöpfungszuständen geforscht wurde. Der amerikanische Neurologe George Miller Beard veröffentlichte 1869 in New York einen Aufsatz zu einem Krankheitsbild, das er »Neurasthenie« nannte, eine »nervöse Überreizung«, die vor allem geistig anspruchsvolle Berufe und die Oberschicht betraf und die erhebliche Ähnlichkeiten mit heutigen Burnout-Symptomen hatte: Kraftlosigkeit, Appetitmangel, Schlafstörungen, Kopf- und Gliederschmerzen etc. Bis zu Beards Tod im Jahr 1883 legte die Neurasthenie als medizinische Diagnose eine erstaunliche Karriere hin.

Nachdem Beard das Entstehen der Neurasthenie mit der beginnenden Industrialisierung inklusive Presse, Telegrafentechnik und der aufkeimenden Frauenbewegung in Zusammenhang gebracht hatte, galt es in bestimmten Kreisen fast als schick, an Neurasthenie zu leiden. Zeigte man doch dadurch, dass man sich bewusst an Industrialisierung und Modernisierung beteiligte (sonst würde man ja nicht darunter leiden). Und nichts ist für eine aufstrebende Mittelschicht elektrisierender, als zur gesellschaftlichen Avantgarde zu gehören. Daher zähle ich Klaus Wowereits Spruch über Berlin, das »arm, aber sexy« sei, zu den kleineren, aber politisch genialen Werbekampagnen der letzten Jahre. Eine ähnliche Bewegung war die Psychoanalyse-Welle im New York der 1980er-Jahre, während der jeder, der etwas in der New Yorker Gesellschaft auf sich hielt, einen Analytiker für seinen gestressten Dauerzustand sein Eigen nennen musste. Hier war die Visitenkarte des Psychiaters, die man bei Partys aus dem Täschchen zog und weiterempfahl, Ausdruck des eigenen Stresspegels und zugleich Zurschaustellung der Aufopferungsbereitschaft als Dienst an der Gesellschaft.

Während nun die Psychologieforschung der letzten 100 Jahre insgesamt auf vielen Gebieten Erfolge und eine durchaus lebendige Geschichte zu verzeichnen hat, kümmern die wissenschaftlichen Ergebnisse zu Burnout weiter vor sich hin – trotz des Vorläuferkonzepts Neurasthenie und eines jahrzehntelangen, medialen Begriffsgebrauchs bis zur Abnutzung.

In der psychiatrisch-klinischen Forschung drückt sich das durch ein – in der Fachwelt beachtetes, von der Öffentlichkeit unbemerktes – Missverhältnis aus: Während in der für Europa gültigen International Classification of Diseases ICD-10, dem Standardwerk für die Einteilung psychischer Störungen, die Neurasthenie in der Störungsklasse F48.0 immer noch mehr oder weniger prominent vertreten ist, fristet Burnout als Zusatzkategorie Z73.0 »Erschöpfungssyndrom (Burnout-Syndrom)« im Kapitel 21 (»Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen«) ein Schattendasein.1 Burnout ist für die klinische Forschung eine sogenannte Ausschlussdiagnose: Sie kommt dann zur Anwendung, wenn man andere Krankheitsbilder wie Depression oder Persönlichkeitsstörungen für eine Diagnose ausgeschlossen hat und einfach nichts anderes passt. Wirklich trennscharfe Kriterien, die einem Psychologen oder Hausarzt innerhalb eines Katalogs zeigen könnten, diese und jene Symptome bedeuteten eindeutig Burnout, gibt es nicht. So bleibt es dem gesunden Menschenverstand des einzelnen Laien, der Presse und der Daumenpeilung des Betriebsarztes überlassen, ob es sich um Burnout handelt oder nicht.

Burnout wird meist diagnostiziert, wenn nichts anderes passt.

Die Burnout-Forscher Andreas Hillert und Michael Marwitz nennen diesen Zustand ungeschminkt eine »Katastrophe«. Sie nähern sich dem Thema »Burnout« empirisch – mit ernüchternden Ergebnissen. Nach Durchsicht der wissenschaftlichen Landschaft müssen sie zugeben, dass bislang tragfähige Daten zu Burnout, seiner generellen Symptomatik und seinen Varianten fehlen. Burnout bleibe lediglich ein »starker, emotionaler Begriff« – gut für den Normalbürger und die Presse, schlecht für seine wissenschaftliche Beschreibung und Definition.2

Wie kann man Burnout trotzdem begrifflich einkreisen? Leicht ist das nicht. In der Literatur existieren über 50 verschiedene Definitionen von Burnout. Seit den Tagen Herbert Freudenbergers hat man hier keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Am leichtesten fallen noch die Symptombeschreibungen. Burnout verursacht verschiedene Formen körperlicher, emotionaler und geistiger Erschöpfung. Dabei reicht das Spektrum von Müdigkeit und Energiemangel (»leere Batterie«) über vielfältige Süchte und psychosomatische Beschwerden (Kopf- und Rückenschmerzen, Tinnitus etc.) bis hin zu Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, Reizbarkeit und sogar Selbstmordgedanken. Symptomatisch gibt es starke Überschneidungen mit Formen der Depression und dem Konzept der sogenannten Erlernten Hilflosigkeit.

Es lohnt sich, einen Moment die Erlernte Hilflosigkeit genauer anzuschauen. Dieses psychologische Phänomen stellt in der Tat ein Grunddilemma des modernen Menschen dar. Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Man nehme einen Hund und bringe ihm ein Kunststück bei. Wenn er das Kunststück erfolgreich absolviert, bekommt er eine Belohnung. Das wiederholt man so oft, bis der Hund weiß: Wenn ich das Kunststück mache, kriege ich ein Leckerli. Das nennt man Kontingenzregel und ist ein wichtiger Bestandteil auch unserer menschlichen Lernfähigkeit. Auf gewisse Dinge im Leben muss man sich verlassen können, damit man sie nicht mehr überprüfen muss: Herdplatte = heiß. Wenn wir nämlich alles und jedes ständig auf seine Gültigkeit überprüfen müssten, kämen wir gar nicht mehr zum Leben. Bestimmte Dinge lernen wir und speichern sie ab – fertig. »Wasser ist nass, der Himmel ist blau, Frauen haben Geheimnisse«, wusste etwa schon Action-Star Bruce Willis.

Die Kontingenzregel bestimmt unser Handeln.

Zurück zu unserem Hund. Nachdem er gelernt hat, dass er für sein Kunststück eine Belohnung bekommt, machen wir Folgendes: In unregelmäßigen Abständen belohnen wir den Hund nicht für sein Kunststück, sondern bestrafen ihn, zum Beispiel durch Schläge. (Die Hundeliebhaber mögen mir an dieser Stelle verzeihen. Mein Hund ist Gott sei Dank theoretischer Natur und hat außer dem Erdulden meiner Gehirnwindungen nicht viel zu leiden.) Was passiert? Der Hund ist verwirrt, er kann keine logische Verbindung mehr ziehen zwischen dem Kunststück (seiner Arbeitsleistung) und der Belohnung (dem Erfolg). Die Kontingenzregel wird gebrochen. Erhält man diesen Zustand von unkontrollierbarer Belohnung und Bestrafung aufrecht, wird sich der Hund irgendwann nur noch wimmernd in die Ecke legen und gar nichts mehr machen, weil die berechenbare Grundlage seines Handelns verschwunden ist. Er kann sich nicht mehr darauf verlassen, für sein Kunststück eine Belohnung zu bekommen. Vielleicht wird er sogar noch bestraft! Das Ende vom Lied: Verwirrung, Resignation, Rückzug, Überforderung.

Wir Menschen reagieren manchmal nicht anders als der Hund, wenn auch auf einem höheren und komplexeren Niveau. Die Kunststücke des Hundes sind unsere täglichen Arbeitsleistungen. Die Belohnungen bestehen aus Gehalt, Popularität, einem schöneren Büro, Status etc. Alles gut, soweit die Kontingenzregel gilt.

Doch immer öfter wird sie gebrochen. Immer mehr arbeitende Menschen haben das Gefühl, es gar nicht mehr in der Hand zu haben, ob sie ihren Arbeitsplatz behalten oder nicht. Sie sehen sich einer bestrafenden Willkür ausgeliefert, mit wechselnden Bezeichnungen: Globalisierung, Restrukturierung, Management, Zeitarbeit. In der Folge resignieren diese Menschen, machen Dienst nach Vorschrift oder entwickeln konkrete Burnout-Symptome. Sie haben das Gefühl, die Kontrolle über ihren Arbeitsplatz – und damit über ihr Leben – zu verlieren. Nach dem Motto: Was soll ich mich groß anstrengen? Ich habe es doch sowieso nicht in der Hand. »Die da oben« entscheiden doch.

Aus dieser Resignation entsteht über Wochen, Monate, Jahre hinweg ein Dauer-Alarmzustand für das Gehirn, ein ständiges Aufder-Lauer-Liegen. Stress vom Allerfeinsten. Als ob man sogar in der geschützten Höhle noch Angst vor dem Säbelzahntiger hat. Und dieser latente, dauerhafte Stress ist unbestritten ein Hauptfaktor für Burnout. Langanhaltender (beruflicher) Stress kann in Burn-out münden. Doch wer dafür jenseits des allgemeinen Mechanismus der Erlernten Hilflosigkeit eine besondere Anfälligkeit aufweist, ist keineswegs eindeutig. Als populäre Burnout-Auslöser gelten auf der Ebene individueller Persönlichkeit immerhin Perfektionismus, Selbstbilddefizite, Idealismus und der Drang nach Anerkennung. Charaktereigenschaften, die hervorragend zu karriereorientierten Arbeitskräften von heute passen. Allerdings scheinen noch andere Konzepte wie Resilienz, das heißt die psychische Widerstandskraft gegenüber Stress und widrigen Umständen, eine Rolle zu spielen.

Bei keinem anderen psychologischen Störungsbild gibt es eine derartige Diskrepanz zwischen der allgemeinen Popularität des Begriffs und dem wissenschaftlichen Kenntnisstand. Hillert und Marwitz beklagen, dass das wissenschaftliche Bild von Burnout »umso unschärfer wird, je schärfer man Burnout unter die Lupe nimmt.«3 Auch was individuelle Entwicklungen oder Phasenverläufe angeht, hat man sich auf keine einheitlichen Modelle geeinigt. Letztlich lassen sich alle Verlaufsmodelle, die je nach Forscher zwischen drei und zwölf Phasen pendeln, in einem fünfstufigen System zusammenfassen: Enthusiasmus, Stagnation, Frustration, Apathie und Endstufe (manifester Burnout)4:

Vor allem im Einstieg, dem idealistischen Enthusiasmus, schlagen Persönlichkeitsfaktoren wie Perfektionismus und das berüchtigte Helfersyndrom zu. Der Einzelne wird quasi vom System durch Belohnung angefixt: Geld, Karriere, Status oder – psychodynamisch komplexer – die Selbstbestätigung durch Aufopferung. Im ersten Stadium ist der Burnout scheinbar für beide Seiten, für Firma und Arbeitnehmer, eine Win-win-Situation: Belohnung gegen hochproduktive Arbeitsleistung. Das ideale, wenn auch hochlabile Paar der heutigen Arbeitsgesellschaft.

Irgendwann geht der Enthusiasmus in Stagnation über. Man kann einfach nicht mehr »wegschaffen«, die Belohnungen verlieren ihren Reiz, die Arbeitslast bleibt gleich, die Produktivität sinkt. Von diesem Moment an zehrt der Mensch von seiner mentalen und emotionalen Reserve – ohne dies zunächst zu bemerken. Der menschliche Organismus ist ungeheuer leistungsfähig, sodass er auch extreme Dauerbelastungen, Stress und Mangelerscheinungen über weite Strecken kompensieren kann. Doch von jetzt an tickt die Uhr der Selbstzerstörung. Einem Junkie ähnlich versucht man, sich durch die alten Drogen »Erfolg«, »Geld« und »Anerkennung« zu motivieren und muss sich doch einen immer größer werdenden Leistungsabfall eingestehen.

Schließlich bricht offene Frustration aus. Die Perspektive einer Verbesserung verschwindet, der Einzelne beginnt bereits, die Erlernte Hilflosigkeit auszubilden – noch nicht generalisiert und noch nicht hoffnungslos. Aber der Organismus kämpft nun permanent mit Überlastung. Die Fassade des sozialen Funktionierens bröckelt. Man wird krank, will niemanden mehr sehen, »hat einfach keinen Bock mehr«. Eine zunehmende Gefühlsachterbahn beginnt: von depressiven Phasen bis zu punktuellen Motivationsinseln, auf die man sich im Glauben, das Meer der Verzweiflung mit dem eigenen kleinen, morschen Ruderboot bis zur Küste durchpflügen zu können, rettet.

In der Apathie zeigt sich die Erlernte Hilflosigkeit in vollem Umfang. Der Einzelne lässt nun sein (Arbeits-)Schicksal vor sich ablaufen wie einen Film, in dem er nur noch eine Statistenrolle hat. Er ist reizbar, unkonzentriert und kann sich selbst minimalen Veränderungen im Tagesablauf nur noch schwer anpassen. Der Hund liegt noch nicht röchelnd in der Ecke, aber er wankt bereits dorthin. Freunde und Arbeitskollegen wenden sich von ihm ab, da er immer unleidlicher wird. Die Teamleistung verschlechtert sich rapide, egal ob als einfaches Mitglied oder als Führungskraft.

Im Endstadium schließlich, dem manifesten Burnout, wird der Junkie von seinem Dealer durch Freistellung oder Restrukturierung fallen gelassen. Das stillschweigende Anfangsbündnis, Belohnung gegen Leistung, wird aufgekündigt. Dem medizinisch-therapeutischen Betrieb bleibt es überlassen, die Reste einzusammeln, um den Einzelnen wieder hochzupäppeln, damit er wieder auf die Straße gehen kann, nachdem er »seine Lektion gelernt hat«. So bitter wie verlogen.

Burnout ist eine individuelle Sucht.

Das Bild eines Junkies kommt nicht von ungefähr: Burnout ist nicht zuletzt eine individuelle Sucht, vergleichbar mit Alkohol-, Drogen- und Spielsucht. Ohne es zu merken, begibt sich der Burnout-Gefährdete in eine Abhängigkeitsspirale. Sein »Stoff« besteht aus Gehalt, Status, Anerkennung und der Befriedigung innerer Ansprüche, zum Beispiel der Gleichung »Arbeit = Anerkennung«. Mit der Zeit wird der Burnout-Junkie immer abhängiger von seinem Stoff, er braucht intensivere Kicks: mehr Arbeit, schwierigere Aufgaben, mehr Verantwortung, mehr Kommunikation. Bis zum Tipping point, der Grenze, an der als angenehm empfundene Herausforderungen plötzlich ins Bedrohliche abrutschen, weil einem die Ressourcen zu deren Bewältigung ausgehen: zu wenig Zeit, zu wenig Energie, eine generelle Überforderung des Organismus bis hin zum Zusammenbruch.

Der klassische Burnout-Betroffene will belastet werden. Darin besteht ja der Kitzel. Nur dass der Mechanismus irgendwann zwangsweise ins Gegenteil umschlägt, denn der menschliche Organismus ist nicht grenzenlos belastbar. Erst gegen Ende der Burnout-Spirale fällt es den Betroffenen wie Schuppen von den Augen, wie stark ihre Arbeitsbelastung zugenommen hat und wie wenig sie dem noch entgegensetzen können – auch das ist ein klassischer Suchtmechanismus. In der Rückschau haben sie es selbst – und vor allem das Umfeld – ja schon länger gesehen. Dann hören sie Sprüche wie »So konnte es ja nicht ewig weitergehen« und »Das hat man ja schon immer gedacht, dass der so endet«. Hinterher ist man bekanntlich immer schlauer. Und wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

Trotzdem sind Burnout-Betroffene nicht nur Opfer. Die wahren Hürden in der Burnout-Behandlung liegen nicht in der körperlichen und psychischen Regeneration. Dafür haben wir inzwischen ein Netz aus Kliniken und Therapeuten, wohlgespannt von der Burnout-Industrie. Die wahre Herausforderung für den Betroffenen ist das Aussteigen aus der Sucht, nachdem er wieder auf den Beinen ist: eine tiefgreifende Neuprägung von Werten, der Rolle von Arbeit für das eigene Selbstbild und eine Lösung vom Mechanismus »Anerkennung gegen Leistung«.

Im Burnout versagen psychische Abwehrkräfte.

Damit er nicht wieder in die Burnout-Sucht abstürzt, muss der Betroffene psychologische und neuronale Belohnungssysteme verändern. Psychologisch bedeutet das, seinen Wert als Mensch, Partner und Teil der Arbeitsgesellschaft nicht nur aus der Arbeitsrolle zu ziehen. Neurologisch gesehen muss das Gehirn langsam von den bisherigen Kicks entwöhnt werden (zum Beispiel dem Adrenalinschub, den ein Lob vom Chef auslöst). Und das dauert. Während der Burnout-Mechanismus rein kognitiv relativ schnell durchschaut und intellektuell verarbeitet werden kann, braucht das Gehirn mit seinen emotionalen Verknüpfungen viele Wochen oder Monate Zeit, neuronale Netze zu lösen beziehungsweise neu zu verbinden. So lange, bis sich nur noch ein schwacher oder gar kein hormoneller Kick mehr einstellt. Wie schwer das ist, zeigen Studien mit Alkoholikern: Noch zehn Jahre nach deren Entwöhnung konnten die entsprechenden neuronalen Belohnungsmuster im Gehirn reaktiviert werden.

Im Burnout versagen psychische Abwehrkräfte. Bei fast allen Burnout-Betroffenen besteht eine Lust an der eigenen Leistung, ein Sich-beweisen-Wollen. Burnout ist ein Spiel mit dem Feuer, ein Mechanismus mit hohem Suchtpotenzial, wenn ein Mensch mit einer entsprechend geprägten Persönlichkeit auf ein Burnout förderndes Umfeld trifft.

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