Читать книгу: «Feierabend hab ich, wenn ich tot bin», страница 3

Шрифт:

Der moralische Blackout

Neben der Überhöhung der Arbeit und der Gefahr des Erfolgswahns gibt es eine dritte Kraft, die Burnout als kollektivem Phänomen in der Gesellschaft den Boden bereitet: der Verlust ethischer Institutionen und das Austrocknen ehemals vermittelter allgemeingültiger Werte.

Von alters her gab es in allen Kulturen Institutionen, die gesellschaftliche Werte beziehungsweise Moral vermittelten: bei den Germanen den Thing, die Versammlung der Ältesten, bei den sogenannten Naturvölkern Medizinmänner und Stammesälteste. Im heutigen Deutschland könnte man noch den Ethikrat der Bundesregierung nennen (allerdings scheinen dessen Debatten und Entscheidungen eher abstrakt und sind für eine individuelle moralische Stilbildung eher ungeeignet). Über alle Zeiten und Zonen hinweg bildete sich allerorten ein in der jeweiligen Gesellschaft gültiger moralischer Kompass heraus, an dem der Einzelne sich orientieren konnte.

Wir erleben eine Erosion moralischer Autoritäten.

In unseren Breiten haben grundsätzlich einige Institutionen das Potenzial, in einer gesellschaftlichen Dimension ethische Richtlinien zu entwickeln und als Standard zu etablieren: die Kirchen, die Familie als Schutz und Stütze, die Politik, Wirtschaftsführer, sogar stilprägende Einzelpersonen. Von allen diesen Institutionen ist heute nicht eine übrig geblieben, die in einer gesellschaftlichen Debatte über Werte oder Phänomene, die alle Menschen betreffen, für den Großteil ebendieser Menschen sprechen könnte. Dies zeigt beispielsweise die Debatte um eine Schrumpfung der sogenannten Volksparteien, die inzwischen von so wenigen Menschen gewählt werden, dass selbst parteiintern die Bezeichnung »Volkspartei« diskutiert wird.

Warum ist das so? Als Beispiel für die moralische Erosion möchte ich auf drei der obigen Gruppen eingehen: die Kirchen, die Politik und das wirtschaftliche Establishment:

Die Kirchen

Sie sind im Moment auf dem Tiefpunkt ihrer moralischen Glaubwürdigkeit angelangt. Pädophile Priester – katholisch wie evangelisch –, die sich an Knaben vergehen, Bischöfe, die solche Fälle vertuschen, eine unzeitgemäße Kommunikation, die weite Teile der Bevölkerung nicht mehr erreicht – das sind die Höhepunkte einer Negativ-Karriere, die die Kirchen nachhaltig diskreditiert haben. Neuesten Zählungen des Statistischen Bundesamtes zufolge hat in Deutschland die Zahl der amtlichen Atheisten, auf deren Lohnsteuerkarte unter »Religionszugehörigkeit« eine Leerstelle prangt (28 Millionen), erstmals die der Katholiken (25 Millionen) und die der evangelischen Christen (25 Millionen, ohne Freikirchen) überholt.

Natürlich sagt das nichts über einen »Atheismus des Herzens« aus. Immerhin können auch wahre Atheisten aus den christlichen Zehn Geboten eine Soziallehre ziehen, die an Eleganz und Universalität schwer zu überbieten ist.11 »Du sollst nicht töten« oder »Du sollst nicht lügen« stellen Basisforderungen einer menschlichen Gemeinschaft dar, die auch ein Pfeife rauchender, taz lesender Sartre-Fan bejahen dürfte. Selbst innerhalb der christlichen Kirchen gibt es Strömungen, die Jesus nicht als Gottes Sohn, sondern als genialen Menschen und Begründer einer durchschlagenden Soziallehre betrachten. In diesem Sinne bildet das Christentum auch für Nichtchristen im Konzentrat der Zehn Gebote einen derart grundlegenden Ethik- und Moralkodex ab, in dem sich wahrscheinlich sehr viele Menschen wiederfinden.

Die Kirchen haben sich aus der öffentlichen Debatte zurückgezogen.

Es ist daher geradezu ein PR-GAU, dass es beide großen christlichen Kirchen (die griechisch-orthodoxe nicht mitgerechnet, die in unseren Breiten keine nennenswerte Rolle spielt) nicht geschafft haben, trotz dieser konzeptionellen Steilvorlage wenigstens punktuell eine ethische Diskussion zu entfachen und so als wichtige Stichwortgeber und moralische Instanzen im Gespräch zu bleiben: Wo sind die Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz oder des Evangelischen Kirchenrats, wenn es um Integration geht, um die Sarrazin-Debatte? Wo ist die klare, intellektuelle Kirchenstimme, die sich des Themas »Arbeit und Glück« unter christlichen Vorzeichen annimmt? Durchweg Fehlanzeige. Dagegen ist die Gründung der ersten kirchlichen Unternehmensberatung schon ein positives Zeichen. Man wolle, auch als Gegenbewegung zur Gier der Finanzkrise, wieder Werte in die Wirtschaft einbringen und die »Sinnfrage« stellen, so der verantwortliche Generalvikar Clemens Stroppel.12 Man wünscht sich mehr solcher Alternativen der Verzahnung von Kirche mit Wirtschaft und Politik. Die Minimalerwartung wäre ein fruchtbarer Dialog, ein Sich-Reiben an gegensätzlichen Weltsichten und Prioritäten.

Doch solche Initiativen sind selten. Die Kirchen haben mit ihrer halb altertümlichen, halb geheimen Kommunikationspolitik vor allem eines erreicht – den Rückzug vom Tisch der gesellschaftlichen Teilhabe. Die Kirchen haben sich aus der öffentlichen Debatte zurückgezogen. Und nicht nur das: Inzwischen verkaufen sie auch ihr ureigenstes Territorium an den Höchstbietenden, wie beispielsweise in Düsseldorf.13 Nur der Papst ruft manchmal hörbar, doch wenig dialogbereit aus Rom herüber. Ein Umstand, der mehr zum allgemeinen Verdruss beiträgt als diesen beseitigt.

Die Politik

Der Vertrauensindex der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) bringt das Trauerspiel an den Tag: Nur noch 13 Prozent der europäischen Bevölkerung vertrauen ihren Politikern.14 Vergleichbar schlechte Werte erreichen nur noch Werbeleute und Manager. Das ist umso besorgniserregender, als diese drei Gruppen – Politiker, Manager und Werber – jede auf ihre Art einen bedeutenden Einfluss auf die politische und gesellschaftliche Debatte haben.

Politiker sollten die großen demokratischen Linien ziehen und Stichwortgeber sein in aktuellen Fragen, sei es zur Arbeit, zur Verteidigung oder zur Strategie für einen gesunden Haushalt. Politiker sind im besten Fall Staatsmänner oder -frauen mit sichtbaren Überzeugungen und einem ethischen Grundverständnis, das diesen Namen verdient. Einem Willy Brandt, einem Helmut Schmidt, sogar einem Helmut Kohl in Zeiten der Wiedervereinigung gelang es, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Der vielleicht letzte Politiker dieses Formats war der bayerische Landespolitiker Sepp Daxenberger, der Mitte 2010 im Alter von nur 48 Jahren an Krebs starb. Über alle politischen Lager hinweg wurde sein Tod betrauert. Daxenberger verkörperte wie kein Zweiter eine gelungene Mischung aus klarer Sprache, Prinzipien, Authentizität und rauem Charme.

Doch die Zeiten der Personalisierung durch Profil neigen sich dem Ende zu. Politiker erhalten im günstigen Fall den Status eines Popstars, dessen Halbwertszeit abläuft, wenn die Druckerpressen kalt werden. Daran änderten auch die Fotos nichts, die Ex-Verteidigungsminister zu Guttenberg vor Dinosaurier-Kulisse aufnehmen ließ. Was will er nur damit sagen? Ich fress’ euch alle? Oder: Ich überleb’ euch alle, bis mich ein Meteorit oder die eigene Dissertation hinwegrafft? Immerhin waren zu Guttenbergs Fototermine, ob auf Fels mit Ehefrau oder in einer Militärmaschine – schneidig in der Mitte stehend, die Untergebenen in Tarnjacke zu ihm aufblickend –, heroische Versuche eines visuellen Statements der Stärke. Ihr seid das Meer, ich der Leuchtturm. Für die profillose Politikerlandschaft war Guttenberg damit zunächst ein Glücksfall, denn die Mehrheit seiner Arbeitskollegen atmet nur die dunkle Kellerluft des unsichtbaren politischen Betriebs. Doch leider hat auch er sich nun – wie weiland Ikarus – durch Überheblichkeit und Selbstüberschätzung ins Aus geschossen. Und wie so oft war nicht der eigentliche Fehler die Ursache für den Untergang, sondern der Umgang damit. Denn genau die wachsweiche Prinzipienlosigkeit und das scheibchenweise Herausrücken mit der Wahrheit haben die Bürger wieder einmal in ihrem Vorurteil von der »Arroganz der Mächtigen« überzeugt.

Quote ist King, auch in der Politik.

In der Regel haftet der Politikerszene etwas Krämerhaftes an. Für einen Autobahnbau hier oder ein Milliönchen da scheinen Prinzipien oder Wahlversprechen schnell über Bord geworfen. Quote ist King, auch in der Politik. Darum wird der Politiker oft zum Häschen mit den großen Ohren, das angestrengt den neuesten Beliebtheitsumfragen wie der allwöchentlichen »Treppe« des Magazins SPIEGEL lauscht. Wittert es einen Abstieg, wird es Zeit, zum nächsten Mikrofon zu hoppeln und sich wieder ins Gespräch zu bringen.

Insgesamt vermissen die Menschen in der Politik Persönlichkeiten, zu denen sie aufblicken können. Menschen, die stark sind auch gegen Widerstand. Die für etwas stehen und dadurch so glaubhaft sind, dass von ihnen Werte abgeschaut werden können: Hilfsbereitschaft, Gerechtigkeit, Ehre, Respekt. Eben das Gegenteil einer als rücksichtslos erlebten Arbeitswelt, in der jeder nur für sich kämpft, Intrigen spinnt und Kollegen oder Kunden über den Tisch zieht.

Die Manager

Als dritte Bevölkerungsgruppe, die ihrem gesellschaftlichen Auftrag nicht nachkommt, sind leider auch die Manager und Führungskräfte von Unternehmen zu nennen. Vom kleinen Mittelständler bis zum Weltkonzern. Zugegeben: Führungskräfte haben heute einen schwierigen Job. Immer komplexeren Anforderungen steht eine ungenügende Vorbereitung gegenüber. Auf der Grundlage einer »Wirtschaft mit menschlichem Antlitz« sollen sie Umsatz erzielen und gleichzeitig für ihre Mitarbeiter sorgen. Eine herausfordernde Mission, der sich einige Dinge in den Weg stellen.

Manager haben heute oft nicht mehr das Gefühl, gestalten zu können.

Manager haben heute oft nicht mehr das Gefühl, gestalten zu können. Sie werden zerrieben zwischen den Ansprüchen verschiedener Stakeholder: Mitarbeiter, der eigene Chef, das Topmanagement, Kunden, Lieferanten, Presse, Politiker und der ganz normale Nachbarsbürger, der ihn auf der Straße trifft. Sie alle haben Vorstellungen vom und Ansprüche an das Wirken eines Managers. Eben, wie er seinen Job zu erledigen hat. Und diese Ansprüche sind durch die Finanzkrise nochmals gesteigert worden. »Gierige« Manager stehen nun generell unter Beobachtung und Rechtfertigungszwang. Als unrühmliche Platzhalter sind hier Josef Ackermann, seines Zeichens der Chef der Deutschen Bank, mit seinem Victory-Zeichen und Klaus Zumwinkel, der uneinsichtige Post-Chef, mit seinem Schloss in Italien ins kollektive Gedächtnis eingegangen. So sehen sich Manager heute eingekeilt zwischen schlechter Presse, immer neuen gesetzlichen Regelungen, einem größer werdenden persönlichen Haftungsrisiko und erhöhten Ansprüchen von Mitarbeitern, Kunden und Öffentlichkeit. Dass hier manche Führungskraft zumindest innerlich hinschmeißt, ist verständlich. So wird man eben nicht zur Kreativkanone, sondern nur zum Zustandsverwalter, der die eigene Lähmung damit rechtfertigt, wenigstens nichts falsch zu machen.

In einer eher untypischen Management-Literatur findet man hierzu einen interessanten »Business Case«: in der Bibel. Das Matthäus-Evangelium beschreibt das Gleichnis von den Talenten, einer damaligen Geldeinheit (Mt 25,14–30): Ein reicher Mann ging auf Reisen und gab seinem ersten Diener fünf, seinem zweiten Diener drei und dem letzten Diener ein Talent. Sie sollten das Beste aus diesen Geldbeträgen herausschlagen, während ihr Herr auf Reisen war. Die ersten beiden Diener wirtschafteten gut und verdoppelten ihre Geldsummen. Der dritte Diener jedoch vergrub das Geld aus Angst, es falsch einzusetzen und zu verlieren. Dementsprechend bestraft wird dieser Diener nach der Rückkehr des Herrn. Lieber hätte der Diener aktiv sein und etwas riskieren sollen – auch unter der Gefahr des Verlusts.

Das biblische Gleichnis von den Talenten ist typisch für viele Führungskräfte. Dabei sind sie weder dumm noch faul, sondern schlicht von immer komplexeren Führungsaufgaben überfordert. Das merken natürlich nicht zuletzt die Mitarbeiter. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise trauten 40 Prozent der Arbeitnehmer ihren Chefs kein entsprechendes Krisenmanagement zu.15 Eine Einschätzung, die sicher nicht nur unter dem Eindruck der Krise entstand und damit sozusagen vom Himmel fiel.

Profil und eigene Meinung leisten sich viele Führungskräfte nicht mehr.

Manager sollen unterschiedliche, konkurrierende Ansprüche verschiedener Gruppen befriedigen: Aufsichtsräte, Führungskräfte, Mitarbeiter, Betriebsrat, Kunden, Aktionäre, Presse. Das setzt Entscheidungen voraus, zu denen man stehen muss, die Entwicklung eines individuellen Profils. Mit Ecken und Kanten und nicht stromlinienförmig auf die Karriere ausgerichtet. Profil und eigene Meinung jedoch leisten sich viele Führungskräfte nicht mehr und ziehen sich in einen Egozentrismus zurück. Eine eigene Meinung ist aber wichtig, um die Leuchtturmfunktion auszuüben, die zumindest im oberen Management erwartet werden darf. In diesem Sinne haben Manager durchaus Vorbildfunktion, weil sie einem so wichtigen Bereich der Gesellschaft – Wirtschaft und Arbeit – vorstehen. Daraus kann und darf sie niemand entlassen.

Der Philosoph Karl Popper analysierte die Atomisierung der Moral und die Anfälligkeit der Moderne für Heilslehren verschiedenster Art auf hellsichtige Weise: »Bertrand Russell […] schreibt, dass […] wir uns intellektuell zu schnell entwickelt haben und moralisch zu langsam und, als wir die Kernphysik entdeckten, nicht zur rechten Zeit die nötigen moralischen Prinzipien verwirklichten. Mit anderen Worten: Nach Russell sind wir zu gescheit, aber moralisch sind wir zu schlecht. […] Ich glaube das genaue Gegenteil. Ich glaube, dass wir zu gut sind und zu dumm. Wir werden leicht von Theorien beeindruckt, die direkt oder indirekt an unsere Moral appellieren, und wir stehen diesen Theorien nicht ausreichend kritisch gegenüber; wir sind ihnen intellektuell nicht gewachsen und werden ihre gutwilligen […] Opfer.«16

Wendet man diesen Gedanken auf die Felder der Politik, der Wirtschaft und der Religion an, so kann man durchaus entsprechende Parallelen in unserer Gesellschaft entdecken. So zum Beispiel:

den »Glaubenskrieg« um den angeblichen oder tatsächlichen Klimawandel,

die größtenteils subjektive und oft bar jeder Sachkenntnis geführte Debatte um Sexualstraftäter oder auch

die Stigmatisierung der Raucher als Verletzer der grassierenden »Gesundheitsreligion«.

Popper redet keinem Zynismus das Wort. Er stellt fest, dass die großen moralischen Leuchtfeuer in unserer Gesellschaft erloschen sind und Tausenden von kleinen Taschenlampen Platz gemacht haben. Damit geht eine größere individuelle Entscheidungsmacht, aber auch ein größeres Frustpotenzial für den Einzelnen einher.

Bis hierher lässt sich festhalten, dass sich die alltägliche Überforderung des Einzelnen jenseits individueller Umstände aus drei großen gesellschaftlichen Strömungen speist:

1. Arbeit als übergroßer Teil des Selbstwerts. Zum einen wurde die eigene Rolle als arbeitender Mensch in der westlichen Gesellschaft zum übermächtigen Anteil des Selbstkonzepts, von dem Status, Wohlbefinden und individueller Lebenssinn abhängen. Das Ergebnis ist eine Dichotomie der Werte: Menschen mit Arbeit fühlen sich wertvoll, Menschen ohne Arbeit leiden unter ihrer vermeintlichen Wertlosigkeit und unter fehlender Anerkennung durch die Gesellschaft.

2. Erfolg als Richtschnur aller Lebensbereiche. Das Streben nach Erfolg ist als Quasireligion weitgehend akzeptiert. Das eigene Leben wird gegen Vergleichspersonen und -gruppen »gebenchmarkt«. Man verfällt in einen nie endenden Optimierungswahn seiner selbst, der Karriere, der Partnerschaft, seiner Kinder. Wie eine Welle erfasst der Zwang zum Erfolg alle Lebensbereiche: Arbeit sowieso, aber auch Gesundheit, Fitness, Erziehung, Freizeitgestaltung etc.

3. Atomisierung der Moral. Da übergeordnete Strukturen wie Religion, Politik und Wirtschaft in ihrer Meinungsführerschaft versagen, bildet man aus dem Setzkasten der ethischen Orientierung einfach sein eigenes moralisches Weltbild. Ein bisschen Christ, ein bisschen Salon-Kommunismus, ein bisschen Selbsterfahrungskurs mit Darmspülung. Das ist bedeutsam und bedrohlich zugleich: Wenn ich mein moralischer »Master of the universe« bin und allein die Regeln aufstelle, bewahrt mich bei einem Absturz nichts vor der eigenen Niederlage. Ohne ein Korsett aus flankierenden Grundwerten und Grenzen überschreite ich diese – weil ich sie nicht mehr wahrnehme.

Wie eine Welle erfasst der Zwang zum Erfolg alle Lebensbereiche.

Genau das ist Burnout – eine bis zur Selbstauflösung reichende Überschreitung von Grenzen, die wiederum man erst im Nachhinein erkennen kann. Wie eine Brille, die einem von der Nase gefallen ist und die man erst nach dem Stolpern wieder aufsetzt. Warum man jedoch stolpert, wie die Brille eigentlich aussieht und wer einem am effektivsten hilft beim Aufrappeln – darüber streiten sich die Geister.

Der einsame Reiter

Bei allen drei bislang besprochenen Bereichen – Arbeitsorientierung, Erfolgswahn und atomisierte Moral – lag das Augenmerk auf dem Geschehen außerhalb der Familie. Der vierte Faktor der alltäglichen Burnout-Überlastung liegt dagegen innerhalb: das Phänomen des einsamen Reiters, des Lonesome Ranger.

Viele Burnout-Betroffene berichten von Unverständnis, wenn sie quasi über Nacht von starken High-Performern zu schwachen, Halt suchenden Menschen werden. Manch einer bringt Tage und Nächte damit zu, seinem Partner oder seiner Familie zu erklären, wie es in ihm aussieht. Oft genug gelingt dies nicht. Das Spektrum eigener Emotionen reicht dabei von Wut und Existenzangst bis zum Gefühl der Erniedrigung und des Verrats. Jahr um Jahr hatte man investiert, in die Arbeitsstelle und den Partner, hatte gegeben und durchgehalten. Nur um im Burnout festzustellen, dass einen der Arbeitgeber ausgenutzt hat und nun fallen lässt. Dass der Partner nicht mit der neuen Situation zurechtkommt und sich möglicherweise trennen will.

Ich nenne das den »Abgrund«: die schwindelerregende Befürchtung, sein halbes Leben lang einer Lüge auf den Leim gegangen zu sein, nämlich dem Versprechen, auf die eigene Investition erfolge irgendwann die Belohnung, die Rendite, die Anerkennung. Das Ende des berüchtigten »Rattenrennens«, bei dem man eigenen und fremden Ansprüchen so lange hinterherhetzt, bis man nicht mehr kann. Die Erkenntnis, trotz der eigenen Cleverness, trotz der immensen Arbeitsleistung, sich im Leben so verschätzt zu haben und nun mit leeren Händen dazustehen, trifft einen oft wie ein Schlag.

Es liegt in der Natur des Menschen, Spuren hinterlassen zu wollen.

Dabei geht es um mehr als nur die

Frage, wer in der Abteilung die nächste Gehaltserhöhung bekommt. Es liegt in der Natur des Menschen, Spuren hinterlassen zu wollen, sichtbar zu sein und zu bleiben. Viele Menschen wollen sich durch Elternschaft »verewigen« und ihre Werte und Erfahrungen an ihre Kinder weitergeben. Maler und Musiker wollen bleibende Kunstwerke schaffen, und auch der kleine Straßenmusiker träumte einst davon, Madonna oder Michael Jackson zu werden. Politiker bezeichnen ihre Taten und Entscheidungen gern als »historisch« oder »alternativlos«, um eine gewisse Dramatik zu erzeugen und sie mit Bedeutung aufzuladen. Teenies lechzen nach der Demütigung in einer Castingshow, weil sie so wenigstens kurz aus der Masse der Menschen herausragen. Wenn sie schon keinen Job kriegen, so doch wenigstens diese fragwürdigen 15 Minuten Ruhm. Man sieht vielleicht auch seine eigenen Eltern, wie sie langsam körperlich und geistig abbauen und hat Angst, »selbst einmal so zu enden«. Dann schaut man zurück auf sein eigenes Leben und erkennt vielleicht, wie wenige Spuren man hinterlassen hat, wie wenige liebevolle, tragfähige Beziehungen man in seinem Leben hat, wie wenige magische und bewegende Momente. Trotz der aufreibenden Arbeit, trotz des Alltagsmultitasking, trotz der vielen Opfer, die man gebracht hat. Das ist der Moment, in dem alles schwarz wird und einem der kalte Schweiß ausbricht. Und man beginnt sich zu fragen: Wo bin ich falsch abgebogen? Das ist der Moment, in dem man sich entscheiden muss: für ein Weiterleben als einsamer Reiter oder dafür, sein Leben zu ändern.

Um ein Bild zu gebrauchen: Der Burnout-Betroffene zieht ins Leben wie ein Ritter mit einem exzellenten Schwert: seinem Wissen, seinem Engagement, seiner Bereitschaft zu kämpfen, zu leiden und zu siegen. Das Schwert trägt ihn durch viele Kämpfe, von Sieg zu Sieg. Er ist erfolgreich: im Beruf, im Privatleben, bei der Organisation des Alltags. Zwischendurch muss das Schwert geschliffen werden; das war es dann aber auch. Bald treibt er erneut den Gegner mit großen Hieben vor sich her, erobert neues Territorium und bleibt der Lieblingskämpfer des Königs (beziehungsweise des Chefs), der einen wahlweise als Mann für aussichtslose Fälle oder Motivator nach vorne schickt. Diese Alternative ist auf Dauer genauso kräftezehrend wie das Gegenteil: Er reibt sich auf, kämpft an vielen Fronten und will der Liebling des Chefs werden, will irgendwann mit Reichtum und Ländereien belohnt werden. Aber es klappt nicht. Der Chef ignoriert ihn, trotz seiner Taten. Zur Anstrengung kommt dann auch noch der Frust.

Und Schutzlosigkeit. Denn leider hat der Ritter seinen Schild daheim vergessen. Sprich: die Fähigkeit, auch einmal Grenzen zu ziehen, Arbeitsaufträge abzuwehren, den Kampf nicht aufzunehmen. Nur mit Schwert und Schild ausgerüstet sollte man den Kampf mit einem Gegner wagen. Sonst wird man zum Lonesome Ranger, zum einsamen Helden, der glorreich, aber einsam in den Sonnenuntergang reitet. So lange, bis einem jemand in den Rücken schießt, weil man wieder einmal niemanden für seine Deckung mitgenommen hat. Nicht umsonst ist der »Pyrrhussieg« sprichwörtlich: Im alten Griechenland gelang es König Pyrrhus von Epirus, die Römer in der Schlacht von Asculum (279 v. Chr.) zu schlagen. Allerdings erlitt Pyrrhus so hohe Verluste, dass er angeblich wehklagend ausrief: »Weh mir! Noch so ein Sieg, und ich bin verloren!« Ähnlich geht es dem Burnout-Betroffenen. Er zieht im übertragenen Sinne von Sieg zu Sieg, ohne zu bemerken, dass seine Truppen – seine Energiereserven – immer weniger und weniger werden. Bis er eines Tages zusammenklappt.

Wie wird man zum Lonesome Ranger, zum einsamen Helden der Arbeitswelt, der irgendwann erschöpft aus dem Sattel kippt? In der Regel ist das ein langer Weg. Die wenigsten von uns werden zum Lonesome Ranger geboren. In den meisten Biografien von Burnout-Betroffenen findet man jedoch gemeinsame Merkmale, Spuren und Indizien auf dem Weg der biografischen Analyse.

Wie wird man zum Lonesome Ranger, der irgendwann erschöpft aus dem Sattel kippt?

Ein wichtiges Puzzleteil im familiären Umfeld von Burnout-Betroffenen sind Eltern, die unbewusst Zuwendung ausschließlich gegen Leistung gewähren. Da werden Belohnungen und Geldgaben gegen gute Noten eingetauscht oder ein bestimmtes leistungsorientiertes Verhalten stark mit Lob und Zuneigung gefördert. An sich ist das nichts Schlimmes. Im Gegenteil. Ein Kind soll ja zu Leistungen angespornt werden und lernen, dass man sich im Leben Dinge auch mal erkämpfen und durchhalten muss. Das Problem wird akut, wenn Eltern ausschließlich auf Leistungsverhalten mit Zuwendung reagieren. Und das passiert gar nicht selten. So wird aus einer vielversprechenden Lösungsstrategie für die Zukunft und das Arbeitsleben eine Verhaltensfalle und das bedingungslose Ackern zum angeblich einzigen Weg, sich Liebe zu erstreiten.

Dieser Mechanismus wird besonders bei solchen Vätern ausgelöst, die nicht gelernt haben, Gefühle auszudrücken. Sie weichen auf das »Tauschgeschäft« Anerkennung gegen Leistung aus. Die guten Noten des Kindes oder ein bestimmtes Hobby, das dem Vater gefällt, geben ihm die Gelegenheit, ohne Gesichtsverlust loben zu können und gleichzeitig »Mann« zu bleiben. Denn Nähe zu zeigen oder Gefühle, bedeutet für diese Männer Schwäche sowie eine Verletzung ihres Männerbildes und damit ihres Selbstverständnisses. So wie sie von ihren Vätern hart erzogen wurden, geben sie diese Lehre an ihre Kinder weiter. Sie können einfach nicht anders, als Liebe in der Form eines Geschäftsabschlusses zu leben.

Befragt man Kinder solcher Väter, so hört man immer wieder in der Familie gefallene Sätze wie »Ich will schließlich nicht, dass mein Sohn verweichlicht«, »Leben ist nun mal Kampf« oder »Ich musste mich meinem Vater auch beweisen«. Unter diesem schädlichen »Gib mir was, dann kriegst du was«-Spiel leiden selbstverständlich Töchter ebenso wie Söhne. Töchter manchmal sogar noch mehr, wenn sie sich entsprechende Partner suchen, die das Spiel ebenfalls spielen – nur eben bewusst und manipulativ. Oft steigen solche Frauen in der Mitte des Lebens aus solchen Beziehungen und Arbeitsverhältnissen aus, indem sie einen schmerzhaften Reifeprozess durchleben und sich von diesem Vaterbild trennen, dem sie in ihrem Leben bislang vergeblich nachgejagt sind. Selbst Sätze wie »Ich will, dass du es besser hast als ich« oder »Du sollst es weiter bringen als ich« implizieren, das jemand im Beruf nicht erfolgreich ist und nicht glücklich sein kann.

»Zuwendung gegen Leistung« ist ein Erfolgs- und Lebensprinzip, das oft das ganze Leben durchzieht.

Als Ergebnis lernen Kinder aus der Gleichung »Zuwendung gegen Leistung« ein Erfolgs- und Lebensprinzip, das ihr weiteres Leben durchzieht. Im Coaching können oft Situationen aus Berufsausbildung und Karriere wie Perlen auf eine Schnur aufgereiht werden, die das einmal erlernte Muster bestätigen. So kam einmal eine Abteilungsleiterin zu mir, die sich bitterlich darüber beschwerte, dass bereits jahrelang immer wieder Kollegen an ihr vorbei befördert würden. Sie war mittlerweile völlig am Boden zerstört und zweifelte an sich und ihren Fähigkeiten. Nach einiger Zeit arbeiteten wir heraus, dass sie bei Bewertungs- und Mitarbeitergesprächen mit ihrem Chef immer wieder in die Rolle der kleinen Tochter zurückfiel, die ihrem Vater (in Gestalt ihres Chefs) Rechenschaft ablegte. In diesen Momenten war sie viel zu abhängig von seinem Lob und der damit verbundenen »Liebe«, um in den Ring zu steigen und endlich eine Beförderung zu fordern. Selbstverständlich tat der Chef auch nichts dergleichen. Sonst hätte er ja eine bienenfleißige, kompetente und nach Anerkennung dürstende Mitarbeiterin verloren, kurz: eine perfekte, belastbare, genügsame und überall einsetzbare Arbeitskraft.

Im Endeffekt erhoffte sich diese Abteilungsleiterin jahrelang die Anerkennung und Liebe, die ihr Vater ihr immer wieder versagt hatte – ein unerfüllbarer Wunsch. Doch genau diese Falle ist es, die so manchen im Burnout verbrennen lässt: die immer noch unbefriedigte Suche nach bedingungsloser Anerkennung durch die Eltern. Das, was der Betroffene nicht oder nicht ausreichend bekommen hat. Es ist diese Stimme im Kopf, die einen weitertreibt: Noch dieses Projekt, diese Aufgabe, noch dieses harte Jahr und ich werde erlöst, werde anerkannt, geliebt, ohne Wenn und Aber, löse endlich das große Ungleichgewicht in meinem Kopf auf. Finde Frieden.

Der einsame Reiter zeichnet sich durch Eigeninitiative und Selbstständigkeit aus.

Niemand brachte diese Falle bisher besser auf den Punkt als ein Klient, der mir einmal erklärte: »Herr Väth, ich versuche immer noch, meinem Vater zu beweisen, dass ich besser bin als er. Das Problem ist nur: Er ist seit zehn Jahren tot.« Und obwohl sich dieser Mann schon als Jugendlicher von seiner Familie getrennt hatte und in seinem Beruf sehr erfolgreich war, konnte er doch diese klaffende Wunde nicht schließen, die ihm sein Vater geschlagen hatte: Du musst beweisen, dass du meiner Liebe würdig bist. So ein Geschacher von den Menschen, die einem im Leben am nächsten stehen sollten, kann uns bis ins Mark erschüttern, uns verhärten. Bis wir alles hinter uns lassen und zum Lonesome Ranger werden, der sich eher aus dem Sattel schießen lässt, als Hilfe anzunehmen. Denn man muss das Leben allein meistern, sonst ist man nichts wert. Das haben Mummy und Daddy einem gründlich beigebracht.

Die positive Seite des einsamen Reiters liegt in seiner bewundernswerten Neigung zur Eigeninitiative und Selbstständigkeit. Mit ihr schießt er jedoch zunehmend übers Ziel hinaus, je ausgeprägter sein Leistungsdenken und je fordernder das Arbeitsumfeld wird. Wie der Schlüssel im Schloss sucht und findet der Burnout-Anfällige komplexe und verantwortungsvolle Tätigkeiten, die zu seinem Leistungshunger passen und an denen er sich austoben kann. Dementsprechend ist die erste Phase eines Burnouts auch mit Enthusiasmus überschrieben (siehe 2. Kapitel, Eschers Treppe): die berühmte Win-win-Situation, bei der das Unternehmen und der Burnout-Anfällige sich gegenseitig in die Hände spielen. Die Firma bekommt einen Mitarbeiter, der sich von Anfang an voll reinkniet, kompetent und mit hoher Energie. Der Burnout-Anfällige wiederum kann sich beweisen, will produktiv sein und das alte Muster von Liebe gegen Leistung einmal mehr voll ausleben. Dass diese Gleichung im Arbeitsleben niemals aufgehen kann, weil diese Form von Anerkennung und Liebe nur die Eltern und engsten Verwandten stillen können, weiß er nicht. Ihm fehlen die Schutzmechanismen, der oben angesprochene Schild, den andere Menschen haben.

Burnoutler glauben, sich durch Leistung Harmonie erkaufen zu können.

Initiative, Perfektionismus und Sozialkompetenz als Bestandteile des Organisationstalents von Burnout-Betroffenen führen oft dazu, dass diese ihre Familien zusammenhalten. Nicht selten sind Burnoutler die Manager ihrer Familie, halten die Generationen zusammen, sind die Nabe im Rad des Familienalltags. Es gibt Fälle von Betroffenen, die als Vermittler die Scheidung ihrer Eltern organisieren oder als diplomatisches Bindeglied zwischen Eltern und Großeltern pendeln, weil sich diese beiden Generationen nicht mehr vertragen. So schnappt die Beziehungsfalle zu: Die Selbstaufopferung von Burnoutlern und ihr Bestreben, ihre Familie im Gleichgewicht zu halten, gründet auf der irrigen Annahme, sich durch diese Leistung eine wie auch immer geartete Harmonie erkaufen zu können. Die Nabe in der Radmitte hat stark zu sein.

1 627,39 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
295 стр. 9 иллюстраций
ISBN:
9783862009077
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают