Читать книгу: «Nirgendsmann», страница 3

Шрифт:

VIII

Als Stadtgespenst führte ich ein zurückgezogenes Leben. Soziale Kontakte war ich nicht gewohnt und große Menschenansammlungen machten mir Angst. Auf den Straßen fühlte ich mich trotzdem gut, obwohl es dort von Passanten nur so wimmelte. Es bereitete mir das größte Unbehagen, gesehen zu werden, doch genau das musste ich hier nicht befürchten, denn die Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts sahen meistens entweder auf ihre Smartphones oder durch einen hindurch.

Auf den rund hundert Metern zwischen meinem Haus und dem Rosa-Luxemburg-Platz passierten ein junges Mädchen, um die sechzehn Jahre, zwei Kumpel, Mitte zwanzig, und eine weitere junge Frau, Anfang dreißig, meinen Weg. Keiner von ihnen hatte mir direkt in die Augen gesehen. Das junge Mädchen war als Einzige nahe dran gewesen, für einen kurzen Augenblick, als sie ihren Kopf gehoben hatte, um meine Umrisse zu erkennen, ihren Kurs minimal zu korrigieren und folglich nicht in das menschliche Hindernis vor ihr zu laufen. Das hatte ihr genügt, dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem handlichen Endgerät, dem Tor zu einer anderen Welt, mit der es die echte schwer hatte, mitzuhalten.

Dass sich die Menschen gegenseitig nicht mehr ansahen, störte mich nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil; so hatte ich meinerseits die Gelegenheit, sie in Ruhe zu beobachten, ohne meinen Blick nervös senken zu müssen, wenn mein Gegenüber einen standhafteren draufhatte oder, wenn es eine Frau war, ein hübsches, mich einschüchterndes Gesicht.

Am Rosa-Luxemburg-Platz angekommen lehnte ich mich gegen eine Hausmauer mit Premium-Blick auf die gesamte Kreuzung. Ich beschloss, mir etwas Kultur reinzuziehen. Wäre doch zu schade gewesen, hätte ich mir das weltbeste Theaterstück entgehen lassen. Der imaginäre Vorhang ging auf.

Ich sah eine Straßenbahnhaltestelle, einen U-Bahn-Abgang, einige Cafés, Imbisse, Einkaufsgeschäfte, Restaurants und natürlich all die hin und her wuselnden Akteure, die den Straßen Leben einhauchten und authentischer spielten, als man es von Schauspielern in den renommiertesten Theatersälen gewohnt war.

Offensichtlich ging es in dem Stück um eine kunterbunte Stadt, die einlud, sich zu amüsieren. Aber das war nur der Rahmen. Worum ging es wirklich? Es gab doch immer eine zweite Ebene, zumindest in guten Aufführungen, und das versprach eine fantastische zu werden. Ich musste genauer hinsehen.

Da gab es vorwiegend gut gelaunte Jugend, Jungs und Mädchen jeglicher Hautfarben, denen es dem Anschein nach an nichts fehlte. Sie waren gut angezogen, hatten alle ihre obligatorischen Smartphones in ihren Händen und gingen, im Nebenbei, freundlich miteinander um. Manche waren allein, kamen aus Geschäften und hatten Besorgungen gemacht. Andere verbrachten ihren frühen Abend mit ihren Freunden, saßen vor einem Restaurant oder auf den Treppen eines Hauseinganges. In diesem Jahr würde es nicht mehr lange warm bleiben, das spürte man und das war auch der Grund, weshalb so viele ihre Zeit draußen verbrachten.

Mich überkam ein Gefühl, dass es uns 2018 in dieser Ecke der Welt richtig gut ging, aber nahezu zeitgleich erinnerte mich ein junger Mann in etwa meines Alters, der unweit meines Logenplatzes an einem Tisch vor einer Pizzeria saß, dass ich mich auch irren konnte. Seine Freundin war gekommen, um ihn abzuholen. Sie war hübsch. Ich hörte, dass sie sich auf den Weg in eine Bar machten, um ein oder zwei Drinks zu nehmen. Die Hälfte seiner Schinkenpizza ließ er liegen und das Letzte, was ich ihn zu seiner Begleiterin sagen hörte, war: »Heute ist ein richtiger Scheißtag!«

Wieso er das dachte, entzog sich meiner Kenntnis. Das musste sich der Zuschauer dieses Stückes wohl dazu reimen.

Apropos Drinks … was wurde da vor meinen Augen weggetrunken! Für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel war etwas dabei, weshalb beinahe jeder ein Getränk in der Hand hielt. Soweit ich das beurteilen konnte, stellte der Alkohol den Kitt dieser Berliner Abendgesellschaft dar, und ohne ihn wäre sie mit Sicherheit in viele traurige Einzelteile zerfallen.

So weit, so gut. Das alles war nichts Außergewöhnliches für diese Kreuzung, an der sich die Schönhauser Allee, die Alte Schönhauser Straße, die Rosa-Luxemburg-Straße und die Torstraße auf ein Schwätzchen trafen. Da war aber noch etwas anderes, das mir erst an diesem Abend auffiel.

Diese vielen jungen Menschen strotzten nur so vor Kraft, und wenn sie es gewollt hätten, hätten sie die gesamte Welt aus den Angeln heben können. Sie sahen gut aus, waren gepflegt, gut genährt, gebildet und mit Technologien ausgestattet, die das Apollo 11 Raumschiff zum Spielzeug degradierten. Man hätte denken können, dass tatsächlich alles gut war, 2018, auf der Torstraße, in Berlin.

Ein Trugschluss.

Dann passierte etwas, was noch nie zuvor passiert war. Ich, der Beobachter, wurde Teil des Stückes. Wider Willen fand ich mich auf der Bühne wieder und sah mir selbst dabei zu, wie ich über die anderen richtete. Aber es waren nicht mehr die anderen, sondern es waren wir, die keine Tageszeitungen lasen und keine Nachrichten sahen, um möglichst effektiv zu vergessen, woher unsere Burger, Drinks, Klamotten und Handys kamen.

Plötzlich fiel es mir schwer zu leugnen, dass jeder, der an diesem Abend und an diesem Ort anwesend war, inklusive mir, die Möglichkeit dazu hatte, für die ungeschriebene Zukunft dieser Erde, einer Tabula rasa, die etwas Farbe vertragen konnte, etwas Gutes zu tun. In Wirklichkeit tat aber niemand etwas und wir ließen das Blatt weiterhin vergilben, obwohl jeder wusste, dass es so nicht weitergehen durfte.

An Meinungen mangelte es nicht, an Überzeugungen auch nicht, aber was konnte man schon tun? Etwas zu tun, bedeutete, sich anzustrengen, und das wollte kaum einer. Die meisten von uns wollten sich nur gut fühlen, gut essen, trinken und sich anderweitig berauschen.

Sich ab und zu aufzuregen, wie schlecht die Bedingungen in den Fabriken in Bangladesch waren, oder darüber zu staunen, wie viel Wasser verbraucht wurde, damit ein Steak seinen Weg auf den Teller finden konnte, das genügte, um kein allzu schlechtes Gewissen zu haben, während man ein 5-Euro-Shirt trug und einen fetttriefenden Doppel-Cheeseburger für 2,29 € verdrückte.

Wir waren zu gemütlich geworden, um wirklich begreifen zu können, was wir da anrichteten; weichgemacht von einer Generation, deren Selbstbild noch intakt war. Du kannst alles werden, was du willst, hatten sie uns gesagt.

Da waren wir also, erwachsen, und stellten fest, dass unsere Eltern uns angelogen hatten.

Was für eine Szenerie! Das neue Jahrtausend, wie es leibte und lebte. Dreißigjährige, die sich immer noch wie Teenager verhielten, lächerliche Klamotten trugen, jegliche Verantwortung von sich wegschoben, infantile Scherze machten, sich durchs Leben wuselten, in den Tag hineinlebten und noch immer unzufrieden waren.

So lief es in einer der angesagtesten Städte der Welt, hier konnte man ein gedankenloses Arschloch sein und fiel nicht weiter auf.

Wozu ein Buch lesen, wenn es Bier gibt?, wäre ein passender Titel für diese Aufführung gewesen.

The End.

Die Laterne über mir ging an und bald würde es auch dunkel genug sein, damit das künstliche Licht Sinn ergab. Direkt neben mir fuhr ein Typ auf einem Segway beinahe eine Frau in einem futuristisch anmutenden Plastikfetzen als Kleid über den Haufen.

Man konnte sich wirklich leicht täuschen und denken, die Zukunft sei hier, aber wie konnte die Zukunft hier sein, wenn der Mensch der gleiche geblieben war, wie ein Anfang zwanzigjähriges Mädchen auf der anderen Straßenseite deutlich machte, indem sie ein AfD-Plakat auf einem Rohrpfosten montierte, danach mechanisch etwas in ihr Smartphone tippte und seelenruhig weiterging, mit einem vollen Rucksack weiterer blauer Plakate auf dem Rücken?

Kaum einer bemerkte, was sie getan hatte, denn dazu waren die meisten von uns Millennials viel zu sehr mit Nichtstun beschäftigt. Und die, die sie bei ihrer Schandtat gesehen hatten, unternahmen nichts dagegen. Das war meine Gruppe.

Jetzt wird's Zeit, dachte ich und meinte ein kühles Bier, überquerte die Torstraße, bog erst in die Alte Schönhauser Straße und dann in die Linienstraße, wo ich in Ruhe flanieren und nachdenken konnte, so wie ich es von Anfang an geplant hatte.

Das einzige Problem war, dass ich gar nicht mehr allein sein wollte. Die paar Straßenzüge, in denen ich herumgewandert war, und die wenigen Gedanken, die ich mir gemacht hatte, hatten ausgereicht, um meine Welt wieder geradezurücken und mich zu erden. Ich war bereit, sehnte mich sogar nach einem Gespräch mit einem anderen Gespenst – zur Not auch mit einem menschlichen Wesen.

Mit meinen Händen in den Taschen, leicht gebeugt und meinen Blick nach vorne gerichtet, spazierte ich die Linienstraße entlang in Richtung Rosenthaler Platz.

Anastasia.

Gemeinsam mit diesem Namen entfaltete sich ungewöhnlich detailreich ein Gesicht vor meinem inneren Auge. Es war ein sehr hübsches Gesicht, rundlich, aber nicht dick, blass, aber nicht ungesund, die gewellten blonden Haare reichten bis zur Schulter, und wenige Sommersprossen zierten rosa Wangen. Diese Wangen gehörten meiner besten Freundin, der einzigen richtigen Kumpanin, die ich in Berlin hatte und die ich liebte, wie man nur seinen besten Freund lieben konnte.

Sie zu treffen, das ging nicht. Seit drei Monaten lebte Anastasia bereits in Paris, wo sie ein Praktikum absolvierte, aber es sollte nicht mehr lange dauern, bis sie zurückkehrte, und mit ihr die Normalität. Das war ein Grund zur Freude, denn ohne meinen Engel drohte ich, meinen Verstand zu verlieren. So fühlte es sich zumindest an.

Soll ich nochmal zurück und Olli holen?, fragte ich mich. Der saß bestimmt noch immer am selben Fleck und trank seine Flasche Fusel leer. Nein, Zurückgehen war keine Option. Zurückgehen war nie eine Option, nicht während meiner Spaziergänge, meiner unspektakulären Abenteuer, die mir heilig waren. Abgesehen davon hatte ich nicht gerade eine hundertprozentige Lust auf die Wieselspinne. Mein Nachbar war schon okay, aber wir kannten uns noch nicht derart gut, dass ich in seiner Gegenwart ich selbst sein konnte.

Olli hatte mir mit ein paar Kartons geholfen, als ich ins Haus eingezogen war, danach hatten wir bei ihm gekifft und Super Smash Bros. auf der N64 gezockt. Ein anderes Mal hatten wir uns zufällig beim thailändischen Imbiss im Erdgeschoss unseres Hauses getroffen, gemeinsam gegessen, ein paar Biere getrunken und dann bei ihm gekifft und Musik gehört. Ein paar weitere Male hatten wir bei seinem Fenster geplauscht, über das, was wir beruflich taten und woher wir kamen, was wir zu tun gedachten und Ähnliches. Währenddessen hatten wir – natürlich – gekifft. Mit Olli ging das schwerlich anders.

Jetzt, während ich den Rosenthaler Platz überquerte, hatte ich keine Lust auf ein Kennenlern-hin-und-her-Geplänkel, das anstrengend für mich gewesen wäre, weil ich schon beinahe verlernt hatte, wie das ging. Von einem Geist war das wohl nicht anders zu erwarten, nahm ich an.

IX

Das Labyrinth war eine gemütliche Kneipe mit vielen winzigen, über enge und verästelte Flure miteinander verbundenen Räumen, gutem Bier und unanständiger Rockmusik. Drinnen sah es aus wie in Draculas feuchtesten Träumen: schwaches Licht trotz unzähliger Kerzen, gepolsterte Sitzmöbel, samtene Tischdecken, Kunst an den kahlen, unrenovierten Wänden, an denen nur mehr stellenweise Tapetenreste hingen, die Räumlichkeiten in burgunderrot und kastanienbraun gehalten. Im Labyrinth war es zu jeder Tageszeit dunkel, dafür sorgten dicke schwarze Stoffvorhänge. Viele Gäste störten sich an dieser vampirischen Atmosphäre, weil sie sich beim Sehen anstrengen mussten, andere fanden sie kultig, ich hatte einfach nur Glück, dass der Besitzer a) ähnlich lichtscheu war wie ich und b) eine ausgezeichnete Bierauswahl anbot.

Um diese Uhrzeit, kurz vor zwanzig Uhr, war der Laden blutleer und beinahe leblos, denn zur Geisterstunde kamen lediglich Gespenster, solche wie ich. Richtig voll würde es erst zwischen einundzwanzig und zweiundzwanzig Uhr werden.

Ganz hinten, in einer Ecke, am Ende des länglichen Tresens, saß ein mir unbekanntes Phantom. Es hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich liegen, trank wässriges Bier und unterhielt sich sporadisch mit Jens dem Barkeeper, um nicht gänzlich zu vereinsamen. Das konnte ich sehen, weil es manchmal auch meine Taktik war.

Die Giftmischer der Stadt waren diejenigen Unsichtbaren, die ich am häufigsten sah und die mich am besten kannten, abgesehen von Anastasia, natürlich. Ein bisschen armselig, oder? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, mochte ich mein Schattendasein gerne. Es kam vor, dass ich mich anpassen wollte, denn es war verlockend, so zu sein wie all meine alten Freunde, die über beide Ohren und aus dem Bildschirm heraus strahlten, immer so verdammt glücklich und erfolgreich. Meistens wollte ich aber ein Geist bleiben, weil ich mir bewusst war, dass die Gesellschaft krank war, ihre Mitglieder Lügner und keiner so glücklich, wie er sich gab. Mich nicht anzupassen, war besser für mich. Nur so konnte ich gesund bleiben.

Aus einem der hinteren Räume hörte ich erregtes, hyänenähnliches Lachen mehrerer hyänenähnlicher Statisten. Es waren also doch schon Menschen hier, ganz untypisch für die Geisterstunde.

»Jens«, sagte ich und nickte ihm zu.

»Herr Nirgendsmann«, grüßte er zurück und streckte mir seine Hand zum Schütteln entgegen.

»G-geht's gut?«

»Ja, wenig aufregend, und selbst?«

»Gut.« Ich sah hoch zur großen schwarzen Tafel, die über den Getränken hinter der Bar angebracht war und alle Blicke auf sich zog, als ob Moses höchstpersönlich sie angefertigt hätte. Zehn Namen waren dort zu lesen, weiße Kreidestriche, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Es handelte sich um die aktuellen Fassbiere.

Ein oder zwei waren immer gleich, Plörre für das geschmackliche Gesocks, das sich in diese Bierbar verirrte, die nicht weniger wollte, als ihrer Kundschaft die besten Biere der Welt zu präsentieren. Die anderen Hähne hatten stets etwas Neues für den experimentierfreudigen Craft Beer-Gaumen zu bieten.

»Heute habe ich Lust auf e-e-etwas Fruchtiges und gleichzeitig Bit-t-teres für den Anfang. Kannst du mir da was empfehlen? Ein New England IPA oder ein T-t-tropical vielleicht?«

»Lass mal überlegen …« Er sah ebenfalls hoch zur Tafel. »Vom Fass eher nicht, sorry. Aber als Dose …«, er griff zielsicher in einen kleinen Kühlschrank mit durchsichtigen Wänden neben dem mir unbekannten Phantom an der Bar, »… haben wir ein neues Tropical von BrewDog. Ist eher mittelmäßig.«

Ich nahm die Dose in die Hand und sah sie mir kurz an, um höflich zu sein und winkte ab. Das Wort mittelmäßig passte nicht zu Bier, schon gar nicht im Labyrinth.

»Weißt du was, ich glaube, heute brauche ich etwas, d-das mich fröhlich s-s-stimmt. Welche Barley Wines habt ihr momentan?« Ich schämte mich für mein Stottern, das mich erst seit wenigen Wochen vereinzelt attackierte.

Was ist das nur?

Jens sog die Luft deutlich hörbar und demonstrativ angestrengt durch seine Zähne ein. »Uiuiui, da ist's auch dünn. Lass mich schauen.« Er begann, in einem der hüfthohen Kühlschränke unter der Ablage hinter der Theke herumzukramen, um schließlich mit zwei 0,33-Liter-Flaschen aus der Versenkung aufzutauchen.

»Immerhin, zwei habe ich gefunden. Beide sehr gut. Der Erste von De Molen, ein standardmäßiger Barley Wine, also ohnehin fantastisch und vom Preis her ganz okay. Der Zweite von Põhjala, in einem Bourbon-Fass gereift, ist ein Erlebnis. Ich habe ihn selbst noch nicht getrunken, aber nur Gutes gehört.«

»Scheiße«, bemerkte ich, »ein Barley Wine von Põhjala. Den muss ich probieren! Und b-bitte, tue mir einen Gefallen, sag mir nicht den Preis, okay?«

Jens grinste. »Wirklich?«

»Ja, ehrlich. Gib mir die Flasche, gib mir ein G-Glas, tipp den Betrag ein, lass mich die Karte drüberziehen und wir vergessen die g-g-ganze Sache.«

»Du bist der Kunde, du bist der Boss.«

Nach getaner Transaktion prostete ich Jens und dem Eck-Gespenst, das unserem Fachsimpeln aufmerksam zugehört hatte, symbolisch aus der Ferne zu. Ich bekam zwei erhobene Gläser als anerkennenden wohl-bekomms-Gruß zurück und verkrümelte mich an einen der Tische bei der Tür auf der anderen Seite des Raumes, um ebenfalls zu einem Eck-Gespenst zu werden.

Von dort aus, meinem Lieblingsplatz, überblickte ich einen großen Teil des Labyrinths, darunter die Theke und die Toiletten, was im Verlauf eines Abends sehr nützlich sein konnte. Das unscheinbare Plätzchen neben der Tür war mir auch deshalb sympathisch, weil ich mit meinem Stuhl gegen die Wand gelehnt niemanden mehr hinter mir hatte und jederzeit nach draußen spähen konnte, indem ich den Vorhang neben mir ein paar Zentimeter beiseiteschob.

In wohlig warme Vorfreude gebettet goss ich etwa 0,1 Liter aus der 0,33-Liter-Flasche in das kelchförmige Bierglas, hielt es gegen das spärliche Licht einer Kerze und begutachtete das rötliche, für Bier-Verhältnisse dickflüssige Getränk, das Nonplusultra unter den Bieren, ein sechzehnprozentiges Meisterwerk aus den Händen eines Künstlers. Um zu wissen, dass ich einen außergewöhnlichen Tropfen in der Hand hielt, musste ich ihn nicht einmal kosten. Das Aussehen und der fruchtig hopfige Geruch, den ich genussvoll auf mich einwirken ließ, bevor ich einen ersten vorsichtigen Schluck nahm, sagten alles. Der Akt des Trinkens diente, außer dem Genuss, nur mehr einer fortwährenden Bestätigung meines ersten Eindrucks.

»Ja, zufallsverdammt, ja! Fantastisch«, murmelte ich, fühlte mich schlagartig gut, nicht mehr fehl am Platz, wieder in der Spur, ähnlich, wie ich mich gefühlt hatte, als ich eine Stunde zuvor aus dem Haus getreten war.

*

Das Labyrinth füllte sich, ich hatte die Hälfte meines Barley Wines ausgetrunken und meine Stimmung blühte vom Hopfen in meinem Bauch beflügelt auf. Ich sah abwechselnd runter, blätterte in meinem Siddhartha, den ich von Anastasia geschenkt bekommen hatte, und hoch zu den Menschen und ihren Kinkerlitzchen. An einem der Nachbartische buhlten zwei Jungs um die Gunst eines Mädchens. Am zweiten Nachbartisch saßen drei junge Frauen und sprachen über das, was ihnen an diesem Tag wiederfahren war.

Wertlos, so schien es ihm, wertlos und sinnlos hatte er sein Leben dahingeführt; nichts Lebendiges, nichts irgendwie Köstliches oder Behaltenswertes war ihm in Händen geblieben. Allein stand er und leer, wie ein Schiffbrüchiger am Ufer.1

An einem Tisch auf der anderen Seite des Raumes spielten vier Freunde Karten.

Nicht steht mir zu, über eines andern Leben zu urteilen! Für mich allein muss ich urteilen, muss ich wählen, muss ich ablehnen.2*

An der Theke angelehnt führten zwei Typen ein Fachgespräch über Bier.

Schreiben ist gut, Denken ist besser. Klugheit ist gut, Geduld ist besser.3*

Und jedes Mal, wenn ich hochsah, stellte ich mir vor, was ich zu den Menschen sagen wollte für den Fall, dass ich mich aufraffen und zu ihnen gehen würde, um sie kennenzulernen. Insgeheim wollte ich nichts mehr als das, aber ich wusste auch, dass es nicht passieren würde. Dazu war ich zu lange Geist gewesen.

Aber in meiner Vorstellung, da war ich äußerst eloquent, viel eloquenter, als ich es tatsächlich hätte sein können.

»Einen schönen guten Abend, ich habe mich gefragt, ob Sie ein paar Minuten entbehren könnten?«, würde ich zuerst sagen, dachte ich. Dieser charmanten Einleitung könnte ein geistreiches »Ich weiß, das ist viel verlangt. Immerhin haben wir 2018 und Ihr Leben wird nicht weniger ausgelastet sein als meines.« folgen. Ja, wunderbar! Garniert mit einem »Sie werden vermutlich ebenso wie ich in der Verpflichtung stehen, möglichst zeitnah wieder auf eine Nachricht zu antworten, vielleicht auf die eines Arbeitskollegen, Freundes, Familienmitgliedes oder der Beziehung, oder nachzusehen, ob es Neuigkeiten in irgendeiner Form gibt, im sozialen Netzwerk ihres Vertrauens oder derjenigen Nachrichtenseite im Internet, die ihrer Gesinnung am nächsten steht …«.

Zufall, was für ein Gelaber!

Zum Glück sagte ich nichts, stand nicht auf, sondern blieb sitzen, genoss weiterhin mein Getränk und beobachtete. Das war okay so. Ich war es gewöhnt, nur zu beobachten. Darin war ich gut. Außerdem konnte ich nicht einfach aufstehen und die armen Menschen belästigen. Sie wollten wahrscheinlich unter sich sein. Hätten sie plötzlich einen Geist gesehen, hätten sie sich erschrocken. Das wollte ich nicht. Geister sollten unsichtbar bleiben, denn Geister wurden missverstanden.

Als ich den letzten Schluck Bier aus der Flasche ins Glas goss, war ich in bester Laune und lächelte unwillkürlich in die Menge. Alles ist gut, dachte ich, mehr als das, perfekt. Nicht einmal die Hyänen störten mich noch.

Man soll sich nicht immer so viele unnötige Sorgen machen und einfach das Leben seinen Lauf nehmen lassen. Wie's kommt, so kommt's, nicht? Es geht um den Moment, richtig? Angeregt sprach ich im Geiste mit mir selbst und war keineswegs betrübt darüber, allein zu sitzen, obwohl die Bar, es war mittlerweile zwanzig nach neun, aus allen Nähten platzte.

Бесплатный фрагмент закончился.

865,41 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
237 стр. 13 иллюстраций
ISBN:
9783754170984
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают