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Für mich war es wie ein Spiel, die Kunden digitale Avatare, meine Gegner, wenn man so wollte, und meine Arbeit notwendig, um das nächste Level zu erreichen. Denn je mehr Arbeiten man geschrieben hatte, desto mehr Aufträge konnte man annehmen. Hinzu kam, dass die Kunden einen bewerteten.

Schon am ersten Tag erhielt ich den Zuschlag für drei Hausarbeiten mit jeweils 10 bis 15 Seiten. Eine Pädagogische, eine Wirtschaftliche und eine aus dem Fachbereich Geschichte. Ich hatte gute Preise gemacht, und die Kunden, die mit dieser neuen Internetseite genauso unvertraut waren wie ich, hatten meinem Profil vertraut. Kein Wunder, denn laut Profil, das man nach Belieben bearbeiten konnte, hatte ich bereits zwei Studiengänge abgeschlossen, Philosophie und Wirtschaft, sprach mehrere Sprachen fließend und war Mitte dreißig. So einem hätte ich auch vertraut.

So weit, so gut. Mit diesen drei Arbeiten alleine konnte ich ein paar hundert Euro verdienen, genug für einen ganzen Monat Berlin-Spaß. Jetzt galt es nur noch, eine letzte Hürde zu meistern, nämlich herauszufinden, wie man akademische Arbeiten schrieb. Ich hatte keinen blassen Schimmer.

*

In den kommenden Tagen ließ mich das Gefühl nicht los, dass mein Start in mein neues Leben viel zu einfach gewesen war. Da musste es doch einen Haken geben. Kam ich wirklich so einfach davon? Konnte es sein, dass mir ISDA die Schmach ersparte, in mein kleines Dorf am Meer zurückzukehren, wo ich mich erst wenige Tage zuvor viel zu großspurig von meinen Freunden verabschiedet hatte?

»Hinaus muss man«, hatte ich gesagt, »die Welt sehen, wachsen, sonst kann man es doch nie weit bringen.«

Zunächst dachte ich noch, dass ich etwas Unrechtes machte, doch diese Sorgen wurden mir rasch genommen. ISDA versicherte mir, dass an meiner neuen Tätigkeit nichts verkehrt war. »Wir stellen nur Vorlagen bereit«, hieß es. »Was die Kunden mit den Arbeiten machen, ist nicht unsere Sache.«

Ich war kein kompletter Trottel und wusste schon damals, dass die ganze Sache stank und die bei ISDA auch nur auf die 20 Prozent Provision scharf waren, die sie von jedem Ghostwriter für jeden vermittelten Auftrag bekamen.

Aber es schien alles legal abzulaufen, nicht versteckt, höchstens unmoralisch. Wie es sein konnte, dass es kein Gesetz gegen das Schreiben akademischer Arbeiten für andere gab, war mir schleierhaft. Der Gesetzgeber sah weg, aber wieso? Dass hiermit das Bildungssystem der Hochschulen zu einer Farce degradiert wurde, war klar, ebenso, dass jährlich tausende Studenten ihren Bachelor, Master und Doktor machten, ohne wirklich etwas zu leisten. Diese gingen dann in Berufe, von denen sie keine Ahnung hatten.

Doch damals, als ich mit dem Schreiben anfing, schob ich derartige Gedanken weg von mir, sobald sie auftauchten. Ich wollte Geld verdienen, wollte in Berlin bleiben, wollte nicht für einen Hungerlohn arbeiten, wollte auch mal was übrighaben, um auszugehen, wollte ein Mädchen auch mal auf ein Bier einladen können, wollte Teil der Gesellschaft sein und wollte tun, was mir Spaß machte. Diese Bedürfnisse ließen jegliche Bedenken endgültig verstummen, für eine Zeit lang zumindest. Sieben Jahre, um genau zu sein.

Also lernte ich, wie man wissenschaftliche Arbeiten schrieb, las mich in die jeweilige Materie ein und gab das Gelesene mit eigenen Worten wieder. Die ersten Wochen verließ ich mein staubiges Paradies kaum, ging nur zum Späti oder zum Aldi runter, um mir Essen und Whiskey zu holen. Die Stadt musste warten, auch wenn ich sehr gespannt war, was sie für mich bereithielt. Aber zuerst musste ich das eine Spiel spielen, um beim anderen mitmachen zu dürfen. Ich recherchierte, aß, paukte, trank, schrieb, machte Nickerchen und wurde schnell gut in dem, was ich tat, mit dem schniefenden Jörg im Rücken und der belebten Oranienstraße vor mir.

V

Wir Menschen sind hochgradig wandelbare Wesen, die zwischen Geburt und Tod mehrere Metamorphosen erleben. Erst sind wir Säuglinge, dann Kinder, Teenager, junge Erwachsene, gereifte Erwachsene und schlussendlich Greise, wenn alles glattgeht. Wie eine Raupe, die einem Schmetterling nicht im Geringsten ähnelt, so ist es auch mit den Entwicklungsstufen eines Menschen. Das Baby ist dem Kind fern, so wie das Kind dem Teenager, dieser dem jungen Erwachsenen und so weiter. Während das Baby und das Kind noch etwaige Ähnlichkeiten aufweisen können, ist die Transformation zwischen einem Baby und einem Greis derart fortgeschritten, dass der Vergleich mit der Raupe und dem Schmetterling leicht verständlich wird. Es ist fast so, als ob sich mehrere Menschen denselben Namen teilen würden, der wie der Stock im Staffellauf, den es über die Ziellinie zu tragen gilt, weitergegeben wird.

Die Persönlichkeit eines Homo sapiens ist nichts Festes, nichts, woran man sich festhalten kann, jedoch gibt es einen anderen Anker, falls Halt etwas ist, wofür man sich interessiert, und zwar der Teil von uns, der sich nicht verändert, der vielleicht weniger ein Teil ist, sondern die gewisse Couleur eines Menschen, die Art und Weise, wie er sich verändert, wie er auf seine Umwelt reagiert und wie er seine Persönlichkeiten wechselt. Diese Couleur macht den Hans Meiser zum Hans Meiser, die Karolin Bauer zur Karolin Bauer und den Tom Schulz zum Tom Schulz.

Für mich war die Couleur seit jeher das eigentlich Interessante am Menschsein, ein Funke unzerstörbarer Individualität, eine Art Entschuldigung des Universums für die Bürde des Wissens um den eigenen Tod.

Ähnlich wie mit unseren Persönlichkeiten verhält es sich mit unseren Körpern. Auch sie erneuern sich im Laufe des Lebens, tauschen sich aus und sind zum Schluss nicht mehr dieselben wie am Anfang. Dem Mythos vom siebenjährigen Zyklus nach, erneuert sich während dieses Zeitraumes jede einzelne Zelle im Körper, physisch entsteht also ein vollkommen neuer Mensch, und ähnlich wie bei der Persönlichkeit bleibt nur der Name gleich. Auch wenn es sich um einen Mythos handelt, ganz falsch ist er nicht. Beinahe unser ganzer Körper erneuert sich, manche Körperteile schneller, manche langsamer. Die Leber, zum Beispiel, erneuert sich schon innerhalb von zwei Jahren, das Herz wiederum bleibt zu einem großen Teil das ganze Leben lang dasselbe, die Linsen in den Augen verändern sich als Einzige nie, sie bleiben uns Zelle für Zelle erhalten.

Wir Menschen sind äußerst interessante Wunder, die weder physisch noch psychisch gesehen am Ende unserer Reise dieselben sind wie am Anfang. Nichtsdestotrotz, die meisten werden sich ihr Leben lang als der- oder dieselbe fühlen. Selbst ein Greis wird in den allermeisten Fällen von sich als einem Kind sprechen und Erinnerungen an das erste bewusst genossene Eis, den ersten Sommerurlaub am Strand, die erste kindliche Verliebtheit und den ersten gröberen physischen Schmerz beschreiben können.

Bei mir war es ein Meloneneis an einem heißen Sommertag vom Italiener an der staubigen Hauptstraße, der sandige Weg durch einen Birkenwald, das baltische Meer war schon zu hören und wenige Schritte später in all seiner Pracht hinter einer Anhöhe zu sehen, Pia in der Dritten, ein schüchternes Mädchen aus der Parallelklasse mit schulterlangen schwarzen Haaren und gerade geschnittenen Stirnfransen, und aufgescheuerte Knie und Handflächen, nachdem ich in einem Park einige Stufen mit dem Fahrrad hinunterfahren wollte und es nicht geschafft hatte, die Balance zu halten.

Dieser letzten Erinnerung haftete seit meiner Kindheit ein Beweis an, und zwar eine kleine Narbe auf der rechten Handfläche. Manchmal begutachtete ich diese Narbe ungläubig, so wie auch an jenem 2018er Septemberabend, nachdem ich meinen Laptop zugeklappt hatte und drauf und dran war, hinauszugehen, um frische Luft zu schnappen.

VI

Wie kann das nur sein?, fragte ich mich. Ich war 32 und es fiel mir schwer zu verstehen, dass ich einmal der Säugling, das Kind, der Teenager oder der Mittzwanzigjährige gewesen war. Was ich jetzt dachte, sprach und tat, war so grundlegend anders als früher. Doch da, vor meinen Augen, auf meiner Hand, hatte ich den Beweis.

Mir begann es schwindlig zu werden.

Zu viel Nachdenken tut dir nicht gut, das weißt du doch. Hör auf damit!

Für diesen Tag war meine Arbeit getan und ich konnte endlich hinaus auf die Straßen, wo ich mich am wohlsten fühlte. Nicht, dass es mir in meiner Wohnung an irgendetwas gefehlt hätte, ganz im Gegenteil, ich mochte meine zwei Zimmer sehr, doch sie waren nicht die Straßen. Nur sie vermochten mich von den seelischen Wunden des vergehenden Lebens zu heilen, wenn ich ziellos herumwanderte, die Geschäfte links liegen ließ und die Menschen beobachtete; miteinander vernetzte, nach unten sehende User, die ab und an gegen Laternenpfähle oder Häuserwände prallten. Hier fühlte ich mich wie ein Geist, der zusah, aber nicht gesehen wurde. Und hätte es mich nicht gegeben, wäre rein gar nichts auf der Erde anders gewesen, dessen war ich mir sicher.

Von der Arbeit und den verwirrenden Gedanken aufgescheucht, machte ich mich in der Diele ein bisschen zu hektisch gehfertig, um schnellstmöglich auf die gut belebten Straßen zu gelangen, die auch an diesem warmen und leicht nieseligen Abend im Spätsommer unaufdringlich mit ihrer Lebhaftigkeit lockten.

Während ich auf dem Hocker saß und mir die Schuhe zuband, beobachtete mich mein Spiegelbild missmutig. Ich weiß nicht, was mit ihm los war, aber es sah mich auf eine beängstigend musternde Art an. Ich fühlte, wie seine Blicke an mir hochwanderten. Es begutachtete meine braunen Lederschuhe, die noch gut in Schuss waren, auch wenn sie mich schon weit getragen hatten, und es dachte, dass es bald Zeit für neue war. Dann inspizierte es meinen Anzug: einen Zweiteiler, Hose und Sakko, beide in einem schwarzweißen Bildrauschmuster. Wem willst du hier etwas beweisen?, fragte es mich. Der schicke Anzug, das existenzialistisch anmutende schwarze T-Shirt mit dem V-Ausschnitt, die braune Leder-Umhängetasche und die auffällige Retrobrille mit dem dünnen Gestell und den großen Gläsern. Willst wohl allen zeigen, wie intellektuell du bist, hä?

Mein Spiegelbild konnte sehr gehässig werden, aber da musste ich durch. Ich schaffte es nie, mich von ihm loszureißen, wenn es mir eine Standpauke hielt.

Ein Mann, der auf der Straße nicht sonderlich auffällt, der weder eine extrovertierte Ader besitzt, wie sie heutzutage en vogue ist, noch finanzielle Argumente sein Eigen nennen kann, die einen Mann schon seit jeher interessant erscheinen ließen. Dafür siehst du ganz schön schick aus, viel schicker, als du es bist.

Da musste ich ihm recht geben. Aber was sollte ich tun? Es war 2018 und alles, was es teuer gab, gab es auch billig. Natürlich wollte ich gut aussehen, also kaufte ich, was mir in meiner niedrigen Preiskategorie gefiel. Das tat jeder. Man wusste zwar genau, dass irgendwer anderer dafür zahlen musste, mit Arbeit, Schweiß, Blut und manchmal auch dem Leben, aber es kaufte trotzdem jeder die billigen Sachen.

Es begann, mein Gesicht zu inspizieren.

Nicht mehr jung, noch nicht alt. Kurze blonde Haare, eine andere Frisur geht bei diesen Geheimratsecken ohnehin nicht. Ein Wochenbart, weil du ohne wie ein Milchbubi aussiehst. Kleine Augen, große Zähne, eine Hakennase – was für eine Visage!

Ich fing an zu lachen. Mein Spiegelbild mochte es, mich zu foppen, was lustig war, wenn es derart übertrieb.

»Halt's Maul!«, sagte ich, zeigte meinem Kontrahenten den Mittelfinger und ging hinaus.

VII

Während ich das Treppenhaus hinunterlief, war ich ungeduldig, wollte endlich draußen sein, schmutzige Straßenluft atmen und mich erfrischt fühlen. Das Haus war ein in der Nachkriegszeit erbautes, städtisches Mietshaus. Dieser Zeit entsprechend war auch der Flur farblos und nur darauf ausgerichtet, seine Funktion ordnungsgemäß zu erfüllen. Ein Jammer, bedachte man, was davor für ein Prachtbau an dieser Stelle gestanden hatte. In der Torstraße war '45 ja gar nicht einmal so viel kaputtgegangen, mit wenigen Ausnahmen, so wie hier, wo kein Stein mehr auf dem anderen gelegen hatte; zwar nicht durch die Nazis, aber wegen ihnen. Wie es hier vor Hitler ausgesehen hatte, zeigte eine im Erdgeschoss an die Wand genagelte schwarzweiß Fotographie. Auf ihr war ein geräumiger Eingangsbereich mit hoher Decke, Stuck, handbemalten Berlin-Motiven an den Wänden und einer in der Eingangstür eingefassten Glasmalerei, die einen brüllenden Braunbären abbildete, zu sehen. Und jetzt? Beton, Spanplatten, Gräue.

Dumme Nazis!, überkam mich eine richtige und gleichzeitig recht stumpfe Emotion, bevor sie von einer anderen Empfindung verdrängt wurde, nämlich einer unangenehmen Trockenheit in meiner Kehle und auf meinen Lippen.

Ein Bier musste her, so wie an fast jedem Tag, früher oder später, meistens aber in etwa um diese Zeit, gegen sieben Uhr abends das erste.

Ein wenig übermotiviert stieß ich die Eingangstüre mit beiden Händen und dem Außenrist meines Schuhs auf. In Gedanken versunken vergaß ich, dass ihr Schloss vor Kurzem aufgebrochen worden war und sie keinerlei dämpfenden Mechanismus besaß. Hinzu kam, dass diese Tür nach außen aufging und nicht nach innen, wie es eigentlich sein sollte; womöglich der Streich eines gelangweilten Bauarbeiters, vielleicht auch nur ein Versehen, aber in jedem Fall brandgefährlich für vorbeilaufende Passanten. Wie man sich erzählte, hatte es in den vergangenen Jahrzehnten mehrmals handfeste Rangeleien, Veilchen und allerlei Tränen gegeben, weil Hunde- oder Menschennasen zertrümmert worden waren, Fahrradfahrer beinahe ihre Leben verloren hätten oder Omas vor Schreck das Gebiss aus dem Mund gefallen war. Mit einem geräuschlosen und doch bedrohlichen Ruck öffnete sich die hohle Holztüre auch dieses Mal in die falsche Richtung, doch an diesem Abend war glücklicherweise keiner da, um Schaden zu kassieren.

Es war soweit. Ich musste nur noch hinaustreten, durch die 0,9 x 2 Quadratmeter, die mir nicht weniger präsentierten als pure Freiheit, a.k.a. die Straßen der Stadt, a.k.a. ein verheißungsvolles Versprechen.

Ich machte einen Schritt nach vorne und nahm einen Atemzug, der sich für mich anfühlte wie ein Schuss Heroin für den Herrn Junkie. Es war, als wäre mir mit einem Ruck ein Klumpen aus der Luftröhre gesaugt worden, der mich zuvor stundenlang am freien Atmen gehindert hatte.

Jetzt ging es rasch. Vitalisierender Sauerstoff drang in meine Lunge, von dort aus in die Blutbahn, ritt auf den Blutkörperchen durch Venen, schien sie in alle Regenbogenfarben einzufärben und füllte meine Gliedmaßen bis in die Enden der Finger- und Zehennägel mit Energie.

Zugegeben, dafür, dass ich derart high wurde, passierte noch nicht viel. Nur wenige Passanten dackelten über die abendliche Torstraße. Ein hippes Pärchen hier, ein Hip-Hop-Junge mit Kopfhörern da, eine stark verbrauchte, Zigarette rauchende Fünfzigjährige mit zur Hälfte rosa eingefärbten Haaren dort, doch alleine die Möglichkeit, dass irgendetwas passieren könnte, machte für mich den Unterschied zwischen drinnen und draußen, zwischen Wohnzimmercouch und der Straße aus.

Aber da die Welt kurzlebig geworden war, ließ schon der zweite Schritt meinen Puls wieder sinken. Ein Blick nach rechts, einer nach links, ach ja, ein Bier.

Ohne gleich zu verstehen, woher es kam, ob es sich um einen Menschen, ein Tier oder ein Fahrzeug handelte, vernahm ich ein Geräusch.

Wououououou. Ich erschrak, weil es so nahe war.

Die schwer zu definierenden Laute kamen von Olli, meinem Nachbarn aus dem Erdgeschoss, der auf seiner Fensterbank saß und seinerseits erschrocken dreinblickte, weil er aufgrund meines wuchtigen Auftrittes offensichtlich aus seinen Tagträumereien gerissen worden war.

»Sorry, Mann«, sagte ich.

»Kein Ding«, erwiderte er, mit dem Po auf dem Brett, dem Rücken gegen den Drehflügel gelehnt und die Füße am gegenüberliegenden Gemäuer abgestützt. Im Inneren seiner Wohnung brannte kein Licht, trotzdem erkannte ich Raudis Umrisse auf dem Sofa, Ollis Hund, ein junger Schäferhund-Mischling, der nur kurz den Kopf hob, um mich anzusehen und dann weiterzudösen. Sein Herrchen hielt eine Rotweinflasche in der einen Hand, in der anderen ein Stofftaschentuch, mit dem er sich alle paar Minuten Tränen von einer Wange wischte, denn Olli hatte ein chronisch erkranktes, tränendes Auge.

Im Fenster zu sitzen und den Passanten beim Vorbeigehen zuzusehen, war eines seiner Hobbys. Es befriedigte seine sadistische Ader, wenn die Fußgänger ihn im letzten Moment entdeckten und einen Schreck bekamen, obwohl er nichts tat, nichts sagte, sich nicht rührte, sie lediglich beobachtete, von Dunkelheit umhüllt. Das unsichere Wegschauen der Menschen bereitete ihm große Genugtuung, denn dann fühlte sich Olli zur Abwechslung auch mal überlegen.

Die dunkelblonden Haare wuchsen dem – seiner Aussage nach – enddreißigjährigen Urberliner, der älter aussah, nur dünn um das Gesicht herum. Ein hübsches Antlitz hatte er noch nie gehabt, nicht einmal als junger Knabe. Der Dreitagebart, die spitze Nase und die tiefen Falten auf der Stirn und um die Augen ließen ihn wie ein Wiesel aussehen.

Das T-Shirt, das Olli anhatte und auf dem Slayer, Diabolus in Musica World Tour 1998 stand, war ihm ein paar Nummern zu groß. Im Gegensatz zum Shirt lagen seine Jeansjacke und -hose derart eng an seinen dürren Gliedmaßen an, dass sie ihn wiederum wie eine Spinne aussehen ließen, wenn er sich bewegte, was nicht so häufig geschah, denn die Wieselspinne Olli war ein Slacker.

Er rauchte gerne die Bong, trank gerne Alkohol und arbeitete so wenig, wie es ging, indem er sich sporadisch etwas dazuverdiente, entweder als Barkeeper in der Rockkneipe um die Ecke oder bei einem seiner Singer-Songwriter-Gigs in den vielen kleinen Cafés, Kneipen und Restaurants der Stadt, in denen es Kleingeld im Gitarrenkoffer und flüssige Bezahlung gab.

Hatte er die Kohle für sein tägliches Gras, Bier und Fast Food beisammen, konnte er sich ungestört seiner eigentlichen Leidenschaft zuwenden, nämlich dem Hören von Grunge-, Punk-, Rock- und Metal-Alben aus den Achtzigern und Neunzigern, was ihn glücklicher als sonst etwas auf der Welt machte.

Das Wohnen war in Ollis Leben inklusive, wie er zu sagen pflegte. Damit meinte er die abbezahlte Eigentumswohnung, in der er die meiste Zeit rumlungerte, seit sie im Alter von sechzehn Jahren auf ihn überschrieben worden war, nachdem seine Mutter das Zeitliche gesegnet hatte.

Mit den Worten War 'ne scheiß Kindheit jewesn, umschrieb Olli seit jeher die Zustände um seinen stets abwesenden Vater und seine krebskranke Mutter. Mehr wollte er dazu nicht sagen. Er konnte es auch nicht, denn was auch immer Nachbar Olli in den letzten beiden Jahrzehnten hätte aufarbeiten können, war zusammen mit dem nach teerigen Ablagerungen riechenden Schmand am Glasboden seiner Bong klebengeblieben.

»Wohin so zackig?«, fragte mich die Wieselspinne und wischte sich eine hinunterkullernde Träne weg. Ich trat zu ihr ans Fenster, obwohl mich mein Bedürfnis nach einem kühlen Bier zu malträtieren begann. Für ein kurzes Schwätzchen am Fensterbrett war immer Zeit und ich mochte meinen Nachbarn, meinen Bekannten, denn um Olli einen Freund nennen zu können, dafür waren unsere gar nicht mal so seltenen Begegnungen zu ungeplant.

»Nur s-s-spazieren, nichts Besonderes. W-wie geht's denn so?« Verflixtes stottern. Das hatte ich, wenn es frühabends und meine selten benutzte Zunge noch nicht warm war.

»Same ol' same ol'«, erwiderte Olli tiefenentspannt, offensichtlich gut sediert, in einem unangenehmen, weil berlinerisch angehauchtem Englisch (ssemol ssemol), und streckte mir seine Flasche entgegen, die ich dankbar nickend ablehnte. Der erste Schluck, der mir die Trockenheit aus dem Mund vertreiben sollte, durfte kein Fusel sein, kein billiger Rotwein, an dem mein Nachbar schon den ganzen Abend genuckelt hatte und der mit Sicherheit schon aus einem inakzeptabel hohen Prozentsatz Olli-Speichel bestand.

»Suit yourself«, sagte er, erneut mit grässlicher Aussprache (ssut jorsjelf), die mich innerlich zusammenzucken ließ. »Hab mir schon eenen anjedudelt und wär' startklar«, stellte der Mann im Fenster fest, der fälschlicherweise eine Einladung vernommen hatte. Sein hoffnungsvoller Blick, an den ungewaschenen Strähnen vorbei, und sein halb aufgerichteter Oberkörper unterstrichen das.

»A-alleine«, brach es aus mir heraus. Olli sah mich verwundert an. Ein wenig zu spät schob ich einen weiteren Satzteil hinterher, den ich mir fix ausdenken musste, um den ersten, etwas unhöflichen Impuls zu verdecken. »… muss ich sein, um nachzudenken.«

Enttäuscht lehnte sich die Wieselspinne wieder gegen das geöffnete Fenster und begann schweigend, über meinen Kopf hinweg, nach irgendetwas Ausschau zu halten. Olli konnte sehr schnell beleidigt sein, schlimmer als ein kleines Kind, und dann schmollte er, was seine Visage noch mehr entstellte, weil sich dann seine feuchten Rotweinlippen nach vorne stülpten wie glitschige Regenwürmer.

Aufgrund meiner nicht selbst verschuldeten und doch unbezweifelbar vorhandenen Unhöflichkeit fühlte ich mich dazu verpflichtet, noch etwas hinterherzuschieben, obwohl ich nichts anderes wollte, als alleine zu sein und ein kühles Bier zu trinken. »Wenn du magst, v-v-vielleicht bin ich später im Labyrinth, so in einer Stunde. Also vielleicht sehen wir uns dann dort?«

»Ja, klar, mach mal.« Gleichgültigkeit mimend winkte Olli mit einer Hand ab und sah noch demonstrativer weg von mir, nach oben, an der Hauswand vorbei, wo sich einige wenige rosa Wolken vor hellblauem Hintergrund auflösten.

Eine kurze Weile blieb ich noch stehen, betrachtete meinen Nachbarn ungläubig und fragte mich, wie alt er wohl wirklich war. Dann war es an der Zeit zu gehen, also tat ich das, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, in Richtung nächstgelegener belebter Kreuzung: dem Rosa-Luxemburg-Platz.

865,41 ₽
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9783754170984
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