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1. „Situation, Untersuchungsanlass, Fragestellung, Untersuchungsbedingungen

2. Kennzeichnung der bisherigen Entwicklungsumstände (Lebenslauf und Umweltdaten, Kurzangabe früherer Untersuchungsergebnisse; jeweils Quellenangabe)

3. Auswahl der diagnostischen Verfahren [M.S.: begründet; Orientierung an der besonderen Problem- oder Fragestellung]

4. Darstellung der Ergebnisse [M.S.: in objektiver Form, ohne Interpretation!]

5. Diskussion und Interpretation der Ergebnisse

6. Zusammenfassung wichtiger Untersuchungsergebnisse

7. Beantwortung der Fragestellung

8. Förderungsvorschläge

9. Beratung, Intervention, Therapie

10. Konkretisierung der Unterstützung sowie der Förderungsvorschläge“

In welcher Form das Gutachten zu erstellen ist, ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich geregelt. Hierzu liegen entsprechende Handreichungen bzw. (elektronische) Formulare vor. Gemeinsam ist diesen verschiedenen Umsetzungsformen

■ ein hypothesengeleitetes Vorgehen gemäß der Fragestellung mit formulierten, überprüfbaren Hypothesen,

■ die Angabe der Quellen der in den anamnestischen Angaben zusammengestellten Informationen,

■ eine begründete Auswahl eingesetzter diagnostischer Methoden und Verfahren,

■ eine Trennung zwischen Ergebnisdarstellung und der sich anschließenden Interpretation.

Ausführungen zur Erstellung eines sprachheilpädagogischen Gutachtens sind in der Literatur kaum zu finden. Bei Schoor (2009) sowie Kany/Schöler (2009) sind Angaben zu formalen Aspekten sowie zur inhaltlichen Struktur aufgeführt.

Von Knebel (2015, 382) argumentiert, dass, wenn im Hinblick auf die inklusive Schule die notwendigen Ressourcen bereitstünden, die Erstellung eines sonderpädagogischen Gutachtens und die damit verbundene Verwaltungsentscheidung durch einen differenzierten Förderplan ersetzt werden könnte. „Die sonderpädagogische Fachkraft könnte sich auf der Basis qualitativer Analyseverfahren ganz einer diagnostikbasierten Förderplanung widmen und herausarbeiten, wer von den Beteiligten auf der Grundlage welcher Kompetenzen welchen Beitrag zur Förderung leisten kann“ (von Knebel 2015, 382). Gegenwärtig sind die Ressourcenzuweisungen jedoch häufig noch an das entsprechende Gutachten gebunden.

2.3 Diagnostik in der sprachtherapeutischen Praxis

Flossmann/Tockuss stellten 1994 ein Ablaufschema zur logopädischen Befunderhebung bei Sprach- und Sprechstörungen vor, dass in seinen zentralen Bestandteilen auch noch bei Schrey-Dern (2006) zu finden ist:

1. Anamnese

2. Freie Spiel- und/oder Gesprächssituation

3. Spontansprachanalyse

4. Einsatz standardisierter/informeller Prüfverfahren zur Einschätzung des (nicht) sprachlichen Entwicklungsstandes sowie Analyse der Eltern-Kind-Interaktion

5. Zusammenfassung der Ergebnisse im logopädischen Befund (Flossmann/ Tockuss 1994, 4; Schrey-Dern 2006, 22)

In Analogie dazu formuliert auch der Deutsche Bundesverband für Logopädie e.V. (dbl) in seinem „Logopädischen Diagnostikstandard bei Kindern (logopädisches Störungsbild in einem oder mehreren Bereichen)“ folgenden Algorithmus:

„Verordnung durch den Kinderarzt und Klärung der spezifischen Fragestellung (z.B. Stottern, Heiserkeit, schlecht zu verstehende Sprache, Ernährung ...) ergibt einen Verdacht auf ein logopädisches Störungsbild

→ Anamnese mit Bezugspersonen/Eltern, ggf. sozialem Umfeld, Kindergarten, Schule. Das Gespräch baut auf den bereits vorliegenden Befunden auf Beobachtungen im Kontakt mit dem Patienten

→ Klinische Beobachtungen des Kindes (in einer natürlichen, lautsprachanregenden Spielsituation); Analyse der Spontansprache unter Berücksichtigung der jeweiligen Fragestellung

→ Bei entsprechender Indikation folgt eine störungsspezifische Diagnostik in einem oder mehreren Bereichen mit standardisierten und/oder informellen Prüfverfahren

→Nach Abschluss der logopädischen Befunderhebung inkl. Auswertung der Ergebnisse folgen:

■ Dokumentation der Befundergebnisse

■ ggf. Aufstellung einer logopädischen Diagnose

■ Rückmeldung der logopädischen Diagnose an den verordnenden (behandelnden) Arzt bzw. weitere Berufsgruppen

■ ggf. Aufklärungs- bzw. Beratungsgespräch mit den Bezugspersonen/Eltern

■ Klärung des weiteren Procedere (z.B. Therapieindikation, weitere interdisziplinäre Diagnostik etc.)“ (dbl 2014, 1).

Die konkrete Umsetzung dessen ist jedoch häufig abhängig von den gegebenen Rahmenbedingungen, z.B.:

■ Liegen bereits Befunde/Gutachten vor und besteht eine entsprechende Schweigepflichtsentbindung für die diagnostizierende Person?

■ Welche Unterlagen liegen bereits vor dem ersten Anamnesegespräch vor bzw. sind erst noch einzuholen?

■ In welcher Form ist es möglich, mit anderen Kooperationspartnern Rücksprache zu halten (SPZ, Ergotherapie, etc.)?

■ Welcher Zeitraum steht für diagnostische Fragen zur Verfügung?

■ Welche diagnostischen Materialien sind der diagnostizierenden Person zugänglich und inwiefern ist sie mit den Materialien vertraut?

In einer multizentrischen Studie, in der die sprachtherapeutische Dokumentation von 502 Kindern retrospektiv analysiert wurde, konnten de Langen-Müller/ Hielscher-Fastabend (2007) Daten zur Diagnostik im Rahmen der Sprachtherapie vorlegen (die Informationen beziehen sich auf Kinder von 0 bis 16 Jahren und auf einen Behandlungsbeginn zwischen 2000 und 2005). So verwendeten die Sprachtherapeuten durchschnittlich 3,45 Behandlungseinheiten für ihre Diagnosestellung (SD=2,53). Die hohe Variation der Dauer (0,5 Einheiten bis zu 17 Einheiten je Kind) wurde über die spezifische therapiebegleitende Diagnostik begründet. 43,4 % aller Kinder wurden mit einer oder zwei Einheiten diagnostiziert. Nach den Diagnosekategorien aufgeschlüsselt zeigt sich, dass eher weniger Sitzungen bei leichten Aussprachestörungen (in Verbindung mit myofunktionellen Störungen) oder Redeflussstörungen verwendet werden (de Langen-Müller/ Hielscher-Fastabend 2007). Die verwendeten Methoden decken die Bandbreite des Möglichen ab und reichen von Tests über standardisierte Screenings bis hin zu informellen Beobachtungen. Für die Eingangsdiagnostik werden bei 44,4 % der Kinder häufig zwei unterschiedliche Quellen verwendet, häufig auch noch mehr. Natürlich muss man darauf hinweisen, dass die Quantität der eingesetzten Methoden/Verfahren kein Qualitätsmerkmal per se ist, sondern Methoden je nach Datenlage hypothesengeleitet ausgewählt werden sollten.

2.4 Ethische und rechtliche Aspekte

Das diagnostische Handeln ist an grundlegende ethische Prinzipien und im Kontext der jeweiligen Aufgabenstellung und der betreffenden Berufsgruppe(n) an rechtliche Rahmenbedingungen gebunden.

Ethik der Diagnostik

Jegliches pädagogisches Handeln hat auf der Basis ethischer Grundsätze zu erfolgen – dies gilt auch für das Handlungsfeld der sprachheilpädagogischen/sprachtherapeutischen Diagnostik (Lüdtke/Stitzinger 2015). Die Autoren sehen in Deutschland hinsichtlich einer expliziten ethischen Grundlegung unseres Faches jedoch „noch viel Handlungsbedarf“ (Lüdtke/Stitzinger 2015, 78) und verweisen auf den „Code of Ethics“ der American Speech-Language-Hearing Association (ASHA 2016) als Instrument zur Selbstreflexion der Speech Language Pathologists.

In einer der wenigen deutschsprachigen Publikationen zu diesem Thema formuliert Schulz (2011, 148f.) ethische Aspekte der sprachtherapeutischen Diagnostik und mögliche ethisch-moralische Konflikte:

1. Beachtung des Unterschieds zwischen der „alltäglichen Diagnostik“, dem gegenseitigen Einschätzen von Menschen anhand weniger beobachtbarer Merkmale und einer „wissenschaftlichen Diagnose“, die einen Objektivitätsanspruch erhebt

2. Die durch sprachtherapeutische Experten präsentierten Diagnosen werden für wahr und wichtig gehalten (Schulz 2011, 148). Die testtheoretischen Hintergründe eingesetzter Verfahren (sowie die theorieimmanenten Hintergrundannahmen zur Konstruktion der Verfahren) bleiben dabei aber häufig ebenso wenig reflektiert wie das Verhältnis zwischen Diagnostizierten und Diagnostizierenden.

3. Der Normwert als Vergleichsmaßstab in Diagnostikverfahren dokumentiert für das jeweilige Kind die Abweichung von der Vergleichsgruppe (i.d.R. die Gruppe der Gleichaltrigen) in einem Fähigkeitsbereich. „Hier schleicht sich unter dem Deckmantel vermeintlich deskriptiver, statistisch-quantitativer Objektivität das Normative, das Präskriptive, Werthafte unbemerkt ein“ (Schulz 2011, 149).

„Die Therapeutin nimmt die Diagnostik und die daraus folgende Diagnose als eine ethisch relevante Situation wahr, in der verschiedene Interessen und Normen aufeinanderstoßen. Weil sie über genügend reflektiertes Wissen (Fachkompetenz) bezüglich der Diagnoseverfahren verfügt, kann sie den Nutzen gegen die Problematiken abwägen“ (Schulz 2011, 150).

Rechtliche Grundlagen der Diagnostik

Die Intervention – beispielsweise bei Kindern mit Sprachstörungen – findet aktuell in unterschiedlichen Systemen statt: dem Bildungssystem, dem Gesundheitssystem und im Rahmen von Komplexleistungen nach den Sozialgesetzbüchern SGB IX (neu)/Bundesteilhabegesetz (BTHG) und SGB XII (Sallat/Siegmüller 2016). Die ärztliche Diagnostik bei Stimm-, Sprech-, Sprach- und Schluckstörungen und somit die Voraussetzung für das Erbringen des Heilmittels Sprachtherapie ist in der Heilmittel-Richtlinie (HeilM-RL) (GBA 2011b) geregelt.

Das diagnostische Handeln geschieht stets im jeweiligen rechtlichen Rahmen. So regelt die Gesetzgebung eines jeden Bundeslandes beispielsweise, ob und in welcher Form eine sprachheilpädagogische Diagnostik im Kontext Schule durchgeführt wird und ggf. auch, welche Methoden und Verfahren dabei von wem eingesetzt werden. Weiterhin wird der Einbezug weiterer Professionen, des Kindes und der Eltern geregelt. Die jeweiligen rechtlichen Rahmenbedingungen legen dabei auch die Zuständigkeiten für das diagnostische Handeln fest. Bei der Dokumentation personenbezogener Daten sind jeweils sozial-, straf- und datenschutzrechtliche Vorgaben zu beachten. Insbesondere dem Datenschutz ist Rechnung zu tragen. Bei Audio- und Videoaufnahmen des Kindes muss grundsätzlich eine schriftliche Einwilligung der Personensorgeberechtigten vorliegen. Im Kontext der (interdisziplinären) diagnostischen Tätigkeit spielt vor allem die Schweigepflichtsentbindung eine große Rolle, die für die entsprechenden Professionen/ Personen einzuholen ist.

3 Diagnostische Methoden für die Erfassung sprachlicher Fähigkeiten

Von Steffi Sachse und Markus Spreer

Jede Diagnostik beginnt mit einer spezifischen Fragestellung, die im Rahmen eines diagnostischen Prozesses zu beantworten ist (vgl. Kap. 2). Dafür stehen drei übergeordnete Gruppen von diagnostischen Methoden zur Verfügung, die im Rahmen der Beantwortung einer diagnostischen Fragestellung in der Regel alle zum Einsatz kommen: Methoden der Befragung, der Beobachtung sowie Elizitationsmethoden, die überwiegend in den Bereich der Testdiagnostik fallen.

Im Folgenden wird nach einigen allgemeinen diagnostischen Vorüberlegungen und Grundlagen ein Überblick über diese drei Methodengruppen für die Erfassung sprachlicher Leistungen gegeben (im Kapitel zur Beobachtung finden sich dabei auch differenzierte Informationen zur Analyse von Spontansprachdaten). Dabei beschränken wir uns auf eine grobe Einführung in diese Methoden, die v.a. Bezüge zur Sprachdiagnostik herstellen soll, und verweisen für eine allgemeine Einführung in Grundkonzepte der Diagnostik auf einschlägige Basisliteratur (Krohne/ Hock 2015; Ziegler/Bühner 2012).

Spezielle, methodische Untersetzungen zur Beantwortung diagnostischer Fragestellungen, die sich auf bestimmte Störungsbilder oder die einzelnen sprachlichen Ebenen beziehen, werden in den einzelnen Kapiteln gesondert dargestellt.

3.1 Grundlagen

3.1.1 Messung von Eigenschaften

Indirekte Messungen

Psychische Eigenschaften, zu denen auch sprachliche Fähigkeiten gehören, lassen sich nicht direkt messen, sondern werden indirekt erfasst. Dabei werden bestimmten Merkmalsausprägungen Wertausprägungen zugeordnet. Dies kann im Rahmen von Beobachtungen, Testverfahren oder auch bei Befragungsmethoden (z.B. Interviews) der Fall sein. Die in einem diagnostischen Prozess vorgenommenen Messungen erfolgen dabei auf unterschiedlichen Skalenniveaus, deren Kenntnis wichtig ist, um Ergebnisse angemessen interpretieren zu können.

Skalenniveaus

Nominalskala:Werden Merkmale anhand einer Nominalskala gemessen, so handelt es sich um Daten, die in keine natürliche Reihenfolge gebracht werden können. Hierbei lässt sich lediglich feststellen, ob zwei Einheiten die gleiche Merkmalsausprägung aufweisen (z.B. Geschlecht „männlich“ oder „weiblich“; Redeunflüssigkeit „vorhanden“ oder „nicht vorhanden“; Kind wächst mehrsprachig auf „ja“ oder „nein“). Als Maß der zentralen Tendenz lässt sich der Modalwert (häufigster Wert) ermitteln.

Ordinalskala/Rangskala: Ordinalskalierte Daten hingegen lassen sich hierarchisch ordnen, allerdings sind die Abstände zwischen den einzelnen Werten nicht quantifizierbar. Die Daten lassen sich jedoch anhand der Relationen „größer/kleiner“ ordnen. Das Maß der zentralen Tendenz ordinalskalierter Daten ist der Median. Beispiele für diese Skala sind Schulnoten, Ratings von z. B. sprachlichen Verhaltensweisen („Kind hält Blickkontakt“ mit den Ausprägungen „nie“ „selten“ „meistens“ „immer“) oder auch Prozentränge, die in normierten Testverfahren angegeben werden.

Intervallskala: Bei intervallskalierten Daten findet man über das ordinalskalierte Niveau hinaus nicht nur die „größer/kleiner“-Relation, sondern auch die Gleichheit von Differenzen zwischen den Messwerten. Somit lässt sich für diese Werte als Maß der zentralen Tendenz das arithmetische Mittel (mathematischer Durchschnitt) berechnen, beispielsweise für Intelligenzquotienten oder T-Werte von (Sprach-)Testverfahren.

Verhältnisskala: Über die intervallskalierten Daten hinausgehend weisen verhältnisskalierte Daten nicht nur die Gleichheit von Differenzen, sondern auch die Gleichheit von Verhältnissen auf. Die Verhältnisskala hat einen natürlichen Nullpunkt. Das wiederum ermittelbare arithmetische Mittel kommt so beispielsweise für Längen- oder Gewichtsmaße zum Einsatz (Hesse/Latzko 2017, 69).

3.1.2 Normorientierung – Normierung

Bezugsnormen

„Diagnostizieren heißt Vergleichen“ (Kany/Schöler 2009, 49). Im Rahmen einer jeden Diagnostik erfolgen Vergleiche auf unterschiedlichen Ebenen. Für die Interpretation der gewonnenen diagnostischen Informationen ist dabei immer eine Orientierung an Normen notwendig. Diese „Bezugsnormen“ erlauben z. B. die Einordnung einer gemessenen Fähigkeit als über- oder unterdurchschnittlich, das Einstufen eines bestimmten beobachteten Verhaltens als altersgerecht oder nicht altersgerecht, die Beurteilung eines Lernfortschritts eines Kindes in einem bestimmten Bereich oder Aussagen über das Erreichen eines definierten Ziels. Dabei geht es zunächst nicht um die Bewertung eines bestimmten Verhaltens (was der Alltagsbegriff von Norm oder Normalität nahelegen könnte), sondern um eine möglichst neutrale Zustandsbeschreibung.

Folgende drei Gruppen von Bezugsnormen können unterschieden werden:

■ Soziale Bezugsnorm

■ Kriteriale/sachliche Bezugsnorm

■ Individuelle Bezugsnorm

Erfolgt ein Vergleich mit einer sozialen Bezugsnorm wird das Ergebnis des Einzelfalls (also des zu begutachtenden Kindes) in Relation zu einer bestimmten Bezugsgruppe gesetzt. Je nach Fragestellung oder Verfahren ist dies z.B. die Gruppe aller fünfjährigen Kinder oder die Gruppe aller Drittklässler.

Die kriteriale Norm bezieht sich auf den Vergleich eines individuellen Ergebnisses mit einem von außen gesetzten Kriterium. Dies wäre z.B. im schulischen Kontext ein bestimmtes, definiertes Lernziel oder ein bestimmtes Sprachniveau, das eine Person erreichen muss, um z.B. zu einer Ausbildung zugelassen zu werden.

Die individuelle Bezugsnorm vergleicht die Leistungen einer Person mit den früheren Leistungen derselben Person. Im Rahmen einer Verlaufsdiagnostik (innerhalb eines therapeutischen Vorgehens) wäre dies z.B. der Vergleich mit bestimmten morphologischen Leistungen zu einem oder mehreren Zeitpunkten vor Beginn und während der Therapie.

Das Bereitstellen geeigneter Normen ist nicht immer einfach und bleibt in manchen Bereichen eine große Herausforderung. So ist es z. B. immer wieder Gegenstand von Diskussionen, welche Bezugsgruppen geeignete soziale Vergleichsgruppen für mehrsprachige Kinder sind.

Im Rahmen der Diagnostik ist es abhängig von der Fragestellung, welche Bezugsnorm verwendet wird. Es kann auch sinnvoll sein, unterschiedliche Normen anzuwenden und diese Vergleiche dann entsprechend zu interpretieren. So ist beispielsweise eine alleinige Fokussierung auf eine individuelle Bezugsnorm ohne den Bezug zur sozialen Norm an irgendeiner Stelle des diagnostischen Prozesses wenig zielführend.

Normorientierung von Verfahren

Um die Einordnung des Ergebnisses eines Testverfahrens oder auch eines Beobachtungsverfahrens vorzunehmen, ist eine sogenannte Normierung des Verfahrens notwendig. Dabei wird ein individuelles Testergebnis mit denen einer sozialen Bezugsgruppe verglichen. Benennt ein Kind beispielsweise in einem aktiven Wortschatztest 35 von 60 Wörtern richtig, sagt dieser sogenannte Rohwert allein nichts aus. Bei einem dreijährigen Kind könnte dieser Wert z. B. auf ein überdurchschnittliches Ergebnis hindeuten, während er bei einem vierjährigen gerade noch als altersgerecht einzustufen wäre. Die Rohwerte müssen also in Werte transformiert werden, die eine Einordnung des individuellen Testergebnisses in Bezug auf eine Vergleichsgruppe (z. B. die Gruppe der vierjährigen Kinder) ermöglichen. Damit werden auch Vergleiche von Testergebnissen unterschiedlicher Testverfahren oder einzelner Untertests möglich.

Um solche Vergleichswerte zu erhalten, wird ein Verfahren (das zunächst den im nächsten Abschnitt beschriebenen Gütekriterien genügen muss) normiert. In den meisten Fällen bedeutet dies, dass die Aufgaben (sog. „Items“) eines Tests einer repräsentativen Gruppe (z.B. von dreijährigen Kindern) vorgelegt werden. Stellt man die erzielten Ergebnisse dieser Gruppe von Kindern als Häufigkeitsverteilung dar, summiert man also auf, welche Rohwerte wie oft von den Kindern erzielt wurden, ähnelt diese Verteilung für die Messung unterschiedlicher (sprachlicher) Merkmale einer sogenannten „Normalverteilung“.

Normalverteilung

Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die meisten Werte um einen Mittelwert herum verteilen. Der mittlere Wert kommt dabei am häufigsten vor. Etwa zwei Drittel aller erzielten Werte liegen innerhalb einer Standardabweichung (engl. standard deviation, SD) um den Mittelwert herum. In Abbildung 4 wird dies deutlich: 68 % der Messwerte befinden sich in diesem Bereich, der deshalb auch als engerer Durchschnittsbereich bezeichnet wird. Werte oberhalb der Grenze von einer Standardabweichung werden als überdurchschnittlich, Werte unterhalb als unterdurchschnittlich beschrieben. Liegt ein Kind mit seiner erzielten Leistung beispielsweise in einem Wortschatztest eine Standardabweichung unterhalb des Mittelwertes, so bedeutet dies, dass 16 % aller Kinder der Normgruppe (z. B. der vierjährigen Kinder) schlechter als dieses Kind, insgesamt 84 % aller Kinder besser als das Kind abschneiden. Liegt der Wert eines Kindes zwei Standardabweichungen unter dem Durchschnitt, so sind nur noch 2 % aller Kinder schlechter beim Bewältigen der Anforderungen des jeweiligen Tests.


Abb. 4: Normalverteilung

Normskalen

Um die Leistung eines Kindes in einem Test beschreiben und einordnen zu können, werden die Rohwerte anhand von Tabellen im Manual eines Testverfahrens oder mit Hilfe eines Auswertungsprogramms in allgemein gebräuchliche Normwerte umgewandelt. Die gebräuchlichsten Normskalen sind die T-Wert-Skala (mit einem Mittelwert von 50 und einer Standardabweichung von 10) sowie die IQ-Skala (mit einem Mittelwert von 100 und einer Standardabweichung von 15). Diese Normwerte können bei Bedarf (wenn z.B. das Ergebnis eines Sprachtests mit dem eines Intelligenztests verglichen werden soll) problemlos ineinander überführt werden. In Bezug auf die T-Wert-Skala bedeutet beispielsweise ein Wert von 60, dass dieser eine Standardabweichung oberhalb des Mittelwertes liegt und nur noch ca. 16 % der Kinder der Vergleichsgruppe noch bessere Werte erzielen. Für eine Einordnung dahingehend, welcher Prozentsatz der Kinder in einem speziellen Test besser oder schlechter als das individuelle Kind abschneidet, können außerdem Prozentränge genutzt werden: ein Prozentrang von 7 bedeutet dabei, dass 7 % der Kinder schlechter als dieses, bzw. 93 % der Kinder der Bezugsgruppe die Anforderungen des jeweiligen Tests besser bewältigen konnten. Entspricht die Verteilung der Testwerte in der Normierungsstichprobe keiner Normalverteilung, können ausschließlich Prozentränge angegeben werden.

Welche Werte im Rahmen einer Diagnostik als „auffällig“ bewertet werden, ist abhängig von Definitionen für bestimmte Störungen, immer aber das Ergebnis von sozialen Übereinkünften. Im Rahmen einer medizinischen Diagnostik werden beispielsweise nur sehr seltene Werte als auffällig gewertet – befindet sich die Körpergröße eines Kindes z.B. im Bereich von mehr als zwei Standardabweichungen unterhalb des Mittelwertes, würde dies als ernst zu nehmende Abweichung bezeichnet. Viele Testverfahren im Rahmen der Sprachdiagnostik sprechen schon von auffälligen Werten, wenn diese eine Standardabweichung unterhalb des Durchschnittswertes liegen. Dabei sollte man sich allerdings gewahr sein, dass dies auf 16 % und damit auf einen relativ großen Anteil aller Kinder zutrifft. Die diagnostische Leitlinie zur Diagnostik von umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen (AWMF 2011) schlägt ein Abweichungskriterium von eineinhalb Standardabweichungen vor: Liegt die Leistung in einem Sprachtest unterhalb von eineinhalb Standardabweichungen unter dem Mittelwert (also z.B. unterhalb von einem T-Wert von 35) spricht man von bedeutsam abweichenden sprachlichen Minderleistungen in diesem Bereich, was zusammen mit anderen Ein- und Ausschlusskriterien zur Diagnose einer umschriebenen Sprachentwicklungsstörung führen kann (s. Kap. 4).

Die Rekrutierung einer geeigneten Normierungsgruppe sowie das Bereitstellen entsprechender Normwerte ist nicht banal und stellt oftmals große Herausforderungen dar:

Normen sind nichts Unumstößliches, sie sind z.B. gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen. Sich verändernde Lebensgewohnheiten von Menschen, beispielsweise Leseverhalten im Zusammenhang mit elektronischen Medien, ein gestiegener Lebensstandard etc. können zu einer Veränderung der mittleren sprachlichen Leistungen der Bezugsgruppe führen. Was vor 10 Jahren im statistischen Sinne „normal“ war, könnte heute als leicht auffällig gelten. Im sprachlichen Bereich sind Syntax, Morphologie oder Phonologie weniger Schwankungen unterworfen als Wortschatz oder bestimmte pragmatische Fähigkeiten. In der Konsequenz bedeutet dies, das Testverfahren immer wieder neu normiert werden müssen bzw. die Gültigkeit der bestehenden Normen überprüft werden muss.

Normgruppen müssen ausreichend groß und repräsentativ sein (keine spezielle soziale Auswahl, keine ausschließlich regionale Sprechergruppe, etc.).

Normen für mehrsprachig aufwachsende Kinder

Eine besondere Herausforderung an die Auswahl geeigneter Normierungsgruppen stellt Mehrsprachigkeit dar. Es wurde und wird viel darüber diskutiert, welche Bezugsgruppe hier angemessen wäre (Rinker/Sachse 2009). Derzeit zur Verfügung stehende Testverfahren gehen sehr unterschiedlich mit dem Phänomen Mehrsprachigkeit um: So argumentiert Petermann (2016) im SET 3 –5, dass ein bestimmter Prozentsatz (bis zu 30 %) der Kinder in Deutschland derzeit mit mehr als einer Sprache aufwächst und deshalb dieser Fall als „normal“ zu betrachten ist. Dementsprechend sind mehrsprachige Kinder in der Normierungsgruppe enthalten. Andere Verfahren stellen Normen ausschließlich für einsprachig deutsche Kinder dar. Dies erlaubt den Vergleich der Leistung und v. a. der Leistungsentwicklung eines mehrsprachigen Kindes im Vergleich zu monolingual deutsch aufwachsenden Kindern. Wiederum andere Verfahren versuchen Normwerte speziell für die Gruppe der mehrsprachigen Kinder zur Verfügung zu stellen. Dabei soll die Leistung eines Kindes verglichen werden mit einer Gruppe von Kindern, die z. B. seit einem ähnlich langen Zeitraum Kontakt mit der deutschen Sprache hatte. Streng genommen müssten dann aber Normwerte für alle Sprechergruppen und alle Konstellationen von Mehrsprachigkeit aufgestellt werden. Insgesamt erfordert Sprachdiagnostik mit mehrsprachigen Kindern demnach einen sehr reflektierten Umgang mit möglichen Vergleichsgruppen und der Interpretation der Normwerte im Einzelfall. Ausführliche Überlegungen dazu finden sich in Kap. 11.

3.1.3 Gütekriterien

Eine indirekte Messung von Eigenschaften, im vorliegenden Fall also die Messung sprachlicher Leistungen, gelingt nur, wenn ein Verfahren bestimmten Kriterien, den sogenannten „Gütekriterien“ genügt. Man unterscheidet die Hauptgütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität sowie Nebengütekriterien wie Ökonomie, Testfairness oder die Normierung.

Objektivität

Die Objektivität eines Testverfahrens beschreibt die Unabhängigkeit eines Testergebnisses vom Testleiter und äußeren Umgebungsbedingungen. Diese Unabhängigkeit vom Beobachter bezieht sich auf verschiedene Bereiche – die Durchführung, die Auswertung und die Interpretation. Berichtet werden sollte die Durchführungsobjektivität, die über eine exakte Beschreibung der Testdurchführung (u.a. genaue, eindeutige Formulierung der Aufgabenstellung, Angabe erlaubter Nachfragen) erreicht wird. Zum anderen ist die Auswertungsobjektivität sicherzustellen. Dafür ist beispielsweise bei einem Wortschatztest sehr detailliert anzugeben, welche Antworten des Kindes auf welche Art und Weise zu werten sind (wenn z.B. Synonyme für Wörter genannt werden). Die Auswertungsobjektivität kann auch berechnet werden, indem beispielsweise unterschiedliche Personen Testprotokolle einer Stichprobe auswerten und mit einem statistischen Maß der Grad der Übereinstimmung zwischen den beiden Auswertern ermittelt wird. Für die Interpretationsobjektivität sollte ein Test angeben, ab welchen Testwerten bspw. von einer sprachlichen Auffälligkeit oder Störung auszugehen ist.

Damit soll sichergestellt werden, dass unterschiedliche Diagnostiker das gleiche Testergebnis auch in gleicher Weise werten und interpretieren.

Reliabilität

Die Reliabilität eines Verfahrens bezieht sich auf dessen Zuverlässigkeit. Ein hoch reliabler Test würde ein und dieselbe Leistung (z.B. die grammatischen Fähigkeiten eines speziellen Kindes) an zwei aufeinander folgenden Tagen exakt gleich quantifizieren. Reliabilität beschreibt also, inwieweit es gelingt, die zu messende Eigenschaft stabil und z.B. unabhängig von der jeweiligen Tagesform etc. zu messen. Obwohl ein gewisser Messfehler bei der Erfassung sprachlicher Fähigkeiten (wie auch aller anderen psychischen Funktionen) nicht zu vermeiden ist, ist eine möglichst hohe Reliabilität für ein Messverfahren unabdingbar und Voraussetzung für dessen Validität. Als Maßzahl für die Reliabilität dient im statistischen Sinn eine Korrelation, die sich zwischen 0 und 1 bewegen kann, wobei eine Reliabilität von 1 eine (nicht zu erreichende) perfekte Zuverlässigkeit wäre.

Man unterscheidet unterschiedliche Formen zum Nachweis der Reliabilität:

Retest-Reliabilität: Dafür wird der statistische Zusammenhang (Korrelation) zwischen zwei aufeinander folgenden Messungen mit dem gleichen Verfahren bestimmt.

Paralleltest-Reliabilität: Hierfür werden aus einem Pool von insgesamt geeigneten Testaufgaben zwei vergleichbare Testversionen zusammengestellt und der identischen Stichprobe zur Bearbeitung gegeben. Anhand der Übereinstimmung der Testergebnisse lässt sich der Reliabilitätskoeffizient berechnen.

Split-Half-Reliabilität: In diesem Fall werden nicht unterschiedliche Testversionen erstellt, sondern das Verfahren (z. B. die 70 Items eines Wortschatztests) wird zufällig in zwei Gruppen mit ähnlich schwierigen Aufgaben aufgeteilt. Der statistische Zusammenhang dieser beiden Testhälften entspricht dem Reliabilitätskoeffizienten.

Interne Konsistenz: Zur Ermittlung der internen Konsistenz wird ähnlich vorgegangen wie bei der Ermittlung der Split-Half-Reliabilität. Hierbei wird der Zusammenhang aller möglichen Testhalbierungen ermittelt und häufig über den Alpha-Koeffizienten (Cronbachs Alpha) angegeben.

Konfidenzintervall

Dem Umstand, dass die Messung psychischer Eigenschaften niemals perfekt und 100 %ig reliabel erfolgen kann, wird dadurch Rechnung getragen, dass ein sog. Konfidenzintervall angegeben wird. Die sich aus der Reliabilität eines Verfahrens ergebenden Konfidenzintervalle beschreiben einen Bereich, innerhalb dessen das „wahre Testergebnis“ einer Person mit hoher Sicherheit liegt. So kann z.B. bei einem erhaltenen T-Wert von 45 nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass dies der wahre Wert der Leistung der Person ist, da die Reliabilität des Verfahrens nicht 1 sein wird. Liest man das übliche Konfidenzintervall (95 %-Intervall) ab, kommt man z. B. zu dem Schluss, dass der wahre Wert der Person mit einer Sicherheit von 95 % innerhalb des T-Wert-Bereiches 40 – 50 liegt. Es handelt sich hierbei also mit hoher Sicherheit um einen völlig unauffälligen Wert.

Validität

Unter Validität versteht man die inhaltliche Gültigkeit eines Testverfahrens: Misst der Test das, was er messen will und was er zu messen vorgibt? Werden beispielsweise mit dem Test wirklich grammatische Fähigkeiten und nicht Wortschatzleistungen gemessen? Werden mit den Items eines Fragebogens wirklich pragmatische Fähigkeiten erfasst oder doch eher allgemeine kognitive Leistungen? Kann man mit dem Test wirklich Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen identifizieren?

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9783846349465
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