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Rostocker Heide

Heilmeyer und seine Leute waren auf demselben Weg wie kurz zuvor das Ehepaar, allerdings ging es mit dem Auto deutlich flotter. „Erstaunlich, dass der Mann trotz seines wirren Eindrucks den Weg so gut beschreiben konnte. Ab Holzschild geradeaus fahren, sagte er oder? Nicht nach rechts.“ Olli redete nervös auf Jens ein.

Der auf beiden Seiten des Weges hochwachsende Farn ließ kaum eine Sicht in den Wald zu. „Hast du den beiden nicht richtig zugehört? Bis zur Schneise, dann an der nächsten Gabelung nach rechts“, korrigierte Jens bereits zum zweiten Mal seinen Kollegen.

Heilmeyer war längst in das allseits bekannte Schweigen gefallen. Das schien seine spezielle Art zu sein, mit schwierigen Situationen umzugehen. Packte ihn eine Vorahnung, musste er mit seinen Gedanken allein bleiben. Er zog sich tief ins Innerste zurück, bis er endlich das aussprach, was ihm logisch erschien. Auch dieses Mal schien er sicher zu sein. Nach einigen Minuten meldete er sich endlich zu Wort: „Dieser Mord wird einen verdammt langen Atem von uns brauchen. Die Beschreibung hörte sich jedenfalls mysteriös an. Erstaunlich, dass die Eheleute sich durch den dichten Farn gewühlt haben. Durch den hohen Farn fühlte sich der Täter garantiert sicher, nicht entdeckt zu werden. Ein ausgeklügeltes Versteck, in dem niemand die Frau schnell finden sollte. Normalerweise bleiben Spaziergänger meist auf ausgewiesenen Wegen. Bleibt nur zu hoffen, dass die Eheleute nicht zu viel Spuren hinterlassen haben.“

Peter Heilmeyer dachte an die Sisyphusarbeit, die ihnen bevorstand. Er wusste, dass er sich auf seine Mitarbeiter verlassen konnte. Alle im Team arbeiteten genauso präzise und pingelig wie er selbst. Eigenschaften, die Heilmeyer voraussetzte. Die meisten ihrer Fälle aus den letzten Jahren waren unberechenbarer geworden und erforderten von allen die höchste Disziplin. Die Maschen junger, krimineller Banden nahmen ständig zu. Sie kamen vor allem aus dem osteuropäischem Raum. Kaum hatten sie eine Straftat durchschaut, gab es neue Tricks. Dabei schnappten sie meist nur kleine Lichter aus der Fraktion Mitläufer. Die festgenommenen Täter wurden sofort nach der Festnahme von anderen ersetzt. Die Drahtzieher selbst blieben im Hintergrund und waren in kürzester Zeit wieder aktiv. Selten genug, meist nur durch Zufall, wurden sie entlarvt. Für Heilmeyer und sein Team wurden die Aufklärungen komplizierter, weil die Verbrecher abgebrühter wurden und kein Unrechtsbewusstsein mehr kannten. Den Sitz der Banden vermutete man meist in der Karibik, Libyen, Rumänien oder in anderen osteuropäischen Ländern. Selbst in ländlichen Gebieten nahm die Cyberkriminalität extrem zu. Der sogenannte Enkeltrick klappte im Norden immer noch, obwohl in den Medien regelmäßig davor gewarnt wurde. Anrufer gaben sich als nahe Verwandte von älteren Personen aus. Nach dem Anruf kam prompt die Bitte um Geld. Sie schickten allerdings einen Vertreter, der die alten Leutchen um größere Geldsummen erleichterten. Hinzu kamen Ausschreitungen und Überfälle im Zusammenhang mit Asylbewerbern. Das waren zwar Arbeiten, die nicht zu seinem Ressort gehörten, aber wenn Not am Mann war, halfen sie da auch schon mal mit.

Der Hauptkommissar wusste aus seiner langen Erfahrung, dass diese Geschichte im Wald etwas anderes, nichts Alltägliches bedeutete. Das hatte auch nichts mit dem zu tun, womit sie sich in letzter Zeit rumzuschlagen hatten. Der Tod eines Menschen gehörte in eine ganz andere Liga. Seine Anspannung merkten ihm seine Mitarbeiter nun auch deutlich an. Wie immer, wenn es um die Suche nach Vermissten ging. Die Fahndung warf mehr Fragen als Antworten auf. Nach außen wirkte der Chef dennoch cool. Meist, so auch jetzt, blieb er in der Lage, seine Gefühle bestmöglich zu verbergen. Sein Vollbart kam ihm dabei zur Hilfe und nur seine blassblauen Augen verrieten ihn. Seit er vor zwei Jahren geschieden wurde, hatte nur noch sein Job oberste Priorität. Die vielen Überstunden waren der Grund für die Trennung von seiner Frau, trotzdem machte er genauso weiter. Der Job war das Einzige, das ihm geblieben ist.

Jens stoppte plötzlich den Wagen. Sie waren da. Der vom Ehepaar beschriebene Fundort passte genau zu dem, was sie sahen. Eine kleine Schneise wies den Weg zwischen etwa zwei Meter hohem Farn. Von hier aus war es schwierig mit dem Auto weiterzufahren.

Sie ließen mich damals schon nicht los, die Dämonen von früher. Ich versuchte sie zu verdrängen, aber in all den Jahren ist mir das nie geglückt. Im Gegenteil, die fiesen Gesichter sind inzwischen selbst ein Teil von mir geworden. Auch wenn sie sich ständig verändern. Beim ersten Mal bekam ich einen heftigen Druck im Kopf und starke Schmerzen setzten ein. Anschließend erschienen diese fratzenhaften Gesichter, ohne Ankündigung machten sie sich vor meinen Augen breit. Es sind so viele. Dazwischen immer Bilder aus meiner Kindheit. Meine Vergangenheit werde ich nie mehr loswerden. Vergessen, wie sollte ich? Das ist der Teil von dir, das Böse.

Seit einiger Zeit sind sie wieder da, die grausamen Bilder von damals, ganz nah schleichen sie sich an mich heran. Wie ein Geschwür, das wächst und sich vermehrt. Ich habe Angst, dass ich daran ersticke. Meine Erinnerungen lassen sich nicht einfach verdrängen. Einfach vergessen? Nein, die Erinnerung an diese Zeit wird bleiben, nicht einmal verblassen wird sie. Das ist deine dunkle Seite Vater, die in mir fortlebt.

Ich weiß, dass du mein Leben zerstört hast. Damals war ich naiv, hatte gar nichts verstanden. Je öfter ich daran zurückdenke, desto deutlicher begreife ich, was du mir angetan hast, ich fühle mich so elend dabei. Deine widerlichen Intimitäten, dein Streicheln. Gern würde ich die Erinnerung an deine Berührungen und deine Worte aus dem Gedächtnis reißen. Aber der Film läuft wieder und wieder vor meinen Augen ab. Bilder mit monsterartigen Wesen. Sogar mein Gesicht schwillt an und verschwimmt zu einer dieser Masken. Eine Maske, vor der ich mich selbst fürchte. Schreckliche Gestalten erscheinen, wenn ich die Augen geschlossen halte. Unter den furchteinlösenden Gestalten bist immer auch du. Du zerrst mich aus meinem Bett. Du tust mir weh. Ich weiß nicht mehr, bist du es oder ein anderer. Eine dürre Gestalt mit verzerrter Visage greift nach mir.

Immer derselbe Alptraum! Immer wieder dieser Alptraum. Danach wälze ich mich von einer auf die andere Seite und finde keinen Schlaf.

Salzige Tränen laufen über mein Gesicht, ich kann nicht mehr aufhören zu weinen. Ein Traum? Ich kann Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. Zu oft sind sie da, selbst am Tag kommen sie. Was wollen sie mir sagen?

Rostock, Polizeirevier – Am Hafen

Lisa wartete voller Spannung darauf, endlich eine Antwort auf ihre Fragen zu erhalten. Ihr Chef im Polizeirevier am Hafen hielt sich noch immer bedeckt. Bis jetzt wusste sie noch nicht, ob die vermisste Frau tatsächlich ihre ehemalige Freundin ist. Offenbar verheimlichte der Chef ihr etwas, das konnte sie genau an seinen unruhigen Bewegungen erkennen. Immerhin kannten sie sich viele Jahre. In diesem Moment surrte erneut im Nebenraum ein Faxgerät. Wenig später reichte die Sekretärin ein Schreiben an den Chef rein. Der las sofort und Lisa entging nicht, dass sein Gesicht ernster wurde. Er wollte seine Kollegin nicht länger zappeln lassen und fasste die neuen Informationen kurz zusammen: „Hier steht es schwarz auf weiß, eben wurde eine Frau in der Rostocker Heide tot gefunden. Alles deutet darauf hin, dass Sarah Niemann die Tote ist. Damit stellen wir in unserer Dienststelle die Suche nach der Frau ein.“

Lisa sackte mit jedem Wort ihres Vorgesetzten in sich zusammen. Sie kämpfte gegen ihre Tränen an. Nur mit Mühe konnte sie den Worten ihres Chefs noch folgen.

„Eins noch, es ist erwiesen, dass die Frau tatsächlich die Sarah ist, die Sie kennen. Jeder Irrtum ist ausgeschlossen.“ Der Chef schaute auf seine Mitarbeiterin, ehe er weitere Details preisgab: „Ein Ehepaar fand die Vermisste heute Morgen in einem Waldstück. Hauptkommissar Heilmeyer und sein Trupp sind am Fundort, um den Fall zu untersuchen. Damit ist unsere Beteiligung erledigt und Sie können Ihre restlichen freien Tage nutzen, um sich von dem Schrecken erst einmal zu erholen.“

„Wie? Freie Tage?“ In ihrem Gesicht war jeglicher Ausdruck erloschen. Ratlos schaute sie auf ihren Chef.

Der senkte verlegen den Blick und sprach mehr zu sich selbst: „Ich kann mir vorstellen, wie es in Ihnen aussieht. Oft merken wir erst, wenn es zu spät ist, wie wichtig eine Person für uns war.“ Der Chef hatte Lisas wunden Punkt getroffen.

„Was kann ich tun?“, fragte sie hilflos.

„Am besten sprechen. Wenn es Ihnen hilft, vertrauen Sie mir Ihre Gedanken an.“

Lisa konnte ihrem Vorgesetzten gar nicht mehr richtig zuhören, sondern fing automatisch an zu erzählen. Während ihre Tränen sich nicht mehr aufhalten ließen. Flüsternd kamen nur leise Worte aus ihr heraus: „Sarah kenne ich ja bereits seit der frühen Schulzeit. Damals waren wir fast jeden Tag nach der Schule zusammen. Wir waren uns nah. Na ja, so nah wie Kinder sich eben sein konnten, wenn sie sich bereits in der Buddelkiste kennengelernt hatten. In den letzten Jahren hatten wir uns aus den Augen verloren. Eine Freundschaft, die so lange bestand, vergisst man aber nicht einfach. Die Erinnerung wird wohl ewig bleiben. Jetzt aber muss ich unbedingt wissen, was wirklich im Wald passierte.“ Intensiv überlegte sie in diesem Moment, wie sie ihren Chef dazu bewegen konnte, ihr zuzustimmen, um am Sucheinsatz bei der Kripo dabei sein zu können. Trotz ihrer Nähe zu Sarah musste er verstehen, dass sie gerade deshalb bei der Suche nach ihrer ehemaligen Freundin dabei sein musste.

„Die Suche nach dem Täter ist jetzt das Letzte, was ich für Sarah tun kann. Verstehen Sie das?“

Der Mann schaute auf Lisa und meinte verlegen: „Hm, ja, doch. Klar, versteh ich Sie.“ So aufgewühlt hatte er seine Kollegin noch nie erlebt. Und er wiederholte: „Natürlich kann ich das verstehen. Ihre Reaktion ist völlig natürlich! Aber nicht zu schnell! Wir können nicht den zweiten vor dem ersten Schritt machen. Sie wissen wie bei uns die Uhren ticken. Wir haben hier unsere speziellen Aufgaben und die Kripo eben ganz andere. Denken Sie beispielsweise an die ungeklärten Wohnungseinbrüche, die hier auf dem Tisch liegen! 1413 Wohnungseinbrüche allein in unserem Bundesland und das in einem Jahr. Das bedeutet allein in Rostock, eine Zunahme von 10 %. Unsere Aufklärungsquote liegt gerade mal bei 50 %. Wir sollten dort anpacken, wo unsere Kompetenzen liegen.“

Lisa, die sich einigermaßen beruhigt hatte, hörte ihrem Chef aufgewühlt zu, hüllte sich aber weiter in Schweigen. Auf einmal sprach sie ganz sachlich: „Ihren Äußerungen gibt es rational nichts entgegenzusetzen. Schließlich arbeite ich seit vielen Jahren hier und kenne die Problematik. Wenig Leute, keine modernen Arbeitsmittel und ein hoher Krankenstand.“

„Nicht nur das! Sie wissen, die neueste Zivilisationskrankheit Burnout macht auch vor unseren Beamten nicht halt. Mit anderen Worten, es fehlt an allen Ecken und Kanten. Ihnen dürfte klar sein, dass Sie mit der Nähe zum Opfer sowieso als befangen gelten. Eine Mitarbeit an diesem Fall kann allein aus diesem Grund schwierig werden. Im Augenblick ist ja nicht einmal klar, ob es tatsächlich Mord war. Vielleicht war es ein Freitod?“

Die junge Frau ließ sich nicht von den Worten ihres Chefs abschrecken. Stattdessen suchte sie nach noch mehr Gründen, die ihn überzeugen sollten. „Sie sagten Hauptkommissar Heilmeyer leitet den Fall? Das ist der Chef von der Kripo, in dessen Kommissariat ich zum Praktikum angemeldet bin. Ich würde gern mein Praktikum um zwei Wochen vorziehen. Wenn Sie einwilligen, könnte ich praktisch sofort mit dem Praktikum bei der Kripo beginnen.“ Es sprudelte wieder aus Lisa raus und sie nannte gleich weitere Gründe: „Das macht ja auch Sinn vor meinem Studium an einem richtigen Fall mitzuarbeiten. Unterstützen Sie mich bitte! Ich kannte Sarah gut. Vielleicht kann mein Wissen nützlich sein.“

Ihr Chef schaute vom Terminkalender auf Lisa und wieder auf seinen Plan. Er ließ sich Zeit. Endlich löste sich sein Blick von den Daten. Zu Lisas Erleichterung sagte er schließlich: „Meinetwegen. Die paar Tage, die sie nur noch hier wären, werden wir auf Sie verzichten können. Ich telefoniere gleich mit Heilmeyer und kündige Ihren Besuch schon mal an.“

„Danke! Das vergesse ich Ihnen nie!“

„Freuen Sie sich aber nicht zu früh. Natürlich weiß ich nicht, ob Heilmeyer Sie schon jetzt dabeihaben will. Das ist eben was anderes als ein Taschendiebstahl! Aber das entscheidet allein der Hauptkommissar. Am besten klären Sie das direkt vor Ort.“

„Okay, ich werde ihn sofort aufsuchen.“

„Was Sie mit Ihrem Urlaub tun, ist Ihre Sache. Aber eines verrate ich schon mal. Auch Heilmeyer kann Alleingänge nicht ausstehen. Denken Sie daran, falls es klappen sollte. Wie ich Heilmeyer kenne, hat er gegen eine gute Spürnase nichts einzuwenden. Und die haben Sie, das bescheinige ich Ihnen schon mal.“

Lisa gewann ihre Fassung zurück. So viel Verständnis hatte sie von ihrem Vorgesetzten gar nicht erwartet. Sein Lob? Das war überhaupt nicht seine Art. Plötzlich hatte es Lisa eilig. Sie drehte sich an der Tür kurz um und sagte: „Ich halte Sie auf dem Laufenden, versprochen. Und bevor es zum Studium geht, melde ich mich noch einmal. Dann gebe ich meinen Ausstand. Stellen Sie schon mal den Prosecco kalt. Nach Feierabend, versteht sich! Danke noch einmal für alles!“

Unter dem Vorwand mir vorlesen zu wollen, suchtest du mich jeden Abend mit einem Buch in der Hand auf. Die ersten Male freute ich mich, lauschte gespannt deinen Geschichten. Schon bald hattest du gar kein Buch mehr dabei und sagtest nur noch, dass du mir richtige Geschichten erzählen willst. Ich wusste bald, dass es nicht mehr um die Geschichten ging. Stattdessen wurde ich mit deinen seltsamen Spielen konfrontiert. Das Ganze führte später immer mehr zum Gegenteil eins Spieles. Wie konnte ich als Kind wissen, was das zu bedeuten hatte? Ich schämte mich immer häufiger dafür, und wäre am liebsten vor Abscheu im Boden versunken.

Einmal in der Woche musste ich deine Hände auf meinem Körper ertragen und jedes Mal bist du ein Stück weitergegangen. Meine stillen Tränen hielten dich nicht ab, hast einfach meine Gefühle ignoriert. Irgendwann hatte ich keine Tränen mehr.

Am Anfang wollte ich den Schmerz laut rausschreien. Aber das schaffte ich nicht mehr. Deine aufgerissenen Augen flößten mir viel zu viel Furcht ein, selbst wenn du mich nur streicheln wolltest. Widerlich wurde es, wenn dein Körper meinen berührte. So stark, dass es mir weh tat. Wie habe ich mich vor dir geekelt und blieb meist nur verwirrt zurück. Irgendwie gewöhnte ich mich später daran. Ich hätte ja nichts ändern können. Du meintest, dass sei der besondere Ausdruck deiner Liebe zu mir.

In all den Jahren blieben Scham und Ekel bei mir zurück. Anfangs dachte ich wirklich, das muss stimmen! Die besondere Nähe zu mir kann nur der Ausdruck deiner besonderen Liebe zu mir sein. Aber warum hattest du mir denn wehgetan? Mit starker Stimme mahntest du mich oft: „Sprich mit niemanden. Nur, wenn ich ganz sicher sein kann, dir zu vertrauen, weihe ich dich in ein noch größeres Geheimnis ein.“

Alles begann an meinem achten Geburtstag. Ich erinnere mich, wie stolz du warst. Du zeigtest mir jeden Winkel in deinem Versteck. Offenbar hattest du schon lange auf diesen Moment gewartet. Und ich lernte eine ganz andere neue Seite von dir kennen. „Das hier wird uns ewig verbinden“, sagtest du damals stolz und fast feierlich. Ich merkte sofort, wie wichtig es dir war, mich in dein Geheimnis einzuführen. Doch diese Welt blieb mir noch lange Zeit fremd.

Rostocker Heide

Heilmeyer erreichte mit seinen Leuten den bereits ausgetretenen Trampelpfad, der zum Fundort führte. „Das Ehepaar hat ganze Arbeit geleistet, die Stelle wäre ansonsten noch schlechter einsehbar. Jens, fahre den Wagen möglichst dicht an den Weg heran.“

Der junge Kripobeamte überlegte, wie er mit dem Auto möglichst nah den Fundort erreichen konnte. Er schnaufte hörbar: „Der Weg ist schließlich nicht für Autos gemacht. Normalerweise fährt hier nicht mal der Förster vorbei.“

„Passt nachher lieber auf die Zecken auf, die Viecher lieben Farne ja regelrecht“, kommentierte Olli die Situation.

„Das kann jetzt wirklich nicht unsere Sorge sein, Olli.“

Peter Heilmeyer hörte zwar nur mit halbem Ohr den Gesprächen seiner Leute zu, duldete aber keine banalen Ablenkungen während der Arbeit. Noch bevor Jens das Auto abstellte, stieg der Kommissar aus. Er wollte sich lieber ganz allein den ersten Überblick verschaffen. Das war eines seiner Rituale bei den Ermittlungen. Mit seinem erfahrenen Blick schaute er sich meist allein und in aller Ruhe die Tatorte an. So manches Mal hatte ihm das bei der Suche nach dem Mörder weitergeholfen. Auf einmal fielen ihm die Spurenschutzanzüge ein. Er ging zügig zurück zum Auto, öffnete den Kofferraum und da lagen sie.

„Dachte schon, wir hätten die Teile in der Hektik vergessen“, rief er seinen Leuten zu.

„Du solltest uns besser kennen“, griente Olli.

Rasch holte Peter Heilmeyer einen Anzug aus dem Kofferraum und zog ihn an, dann streifte er sich noch die dünnen Handschuhe über. Aufmerksam schaute er sich in der Gegend um, und sah überall die dicht stehenden Eichen und Buchen. Ihm fiel auf, dass der Täter wahrscheinlich lange suchen musste, um diese relativ große freie Fläche zu finden. Es war der einzige Platz, wo die Bäume nicht so dicht standen. Er ging weiter und was er dann erblickte übertraf all das, was er sich zuvor vorgestellt hatte. Selbst die Beschreibung der Eheleute erfasste nicht im Geringsten die Realität. Obwohl sie ja auch von der grabähnlichen Stelle sprachen, auf der eine Frau lag. Er stand jetzt direkt vor der Frau und ging ganz nah an sie heran. Er berührte sie. Pro Stunde nahm die Körpertemperatur etwa ein Grad Celsius ab, also konnte die Frau noch nicht so lange tot sein. Er sah sich weiter um. Tatsächlich das von den Eheleuten beschriebene Grab war komplett mit Farn bedeckt. Er suchte nach weiteren Details. Die Stille des Waldes ließ den Anblick beinah unwirklich erscheinen.

Inzwischen erreichten auch Olli und Jens den Fundort, entsetzt starrten auch sie jetzt auf die Frau. Ab jetzt musste der Hauptkommissar keine Anweisungen mehr geben, jeder seiner Leute wusste, was zu tun war. Einen Mord hatten sie selten aufzuklären, desto präziser gingen sie jetzt vor. Wenige Meter von der grabähnlichen Stelle entfernt, entdeckte Olli einen Frauenschuh. „Wir müssen überprüfen, ob der überhaupt von der Frau stammt. Vielleicht lässt sich ja der andere auch noch finden?“

„Das wäre für den Anfang gar nicht schlecht“, rief Heilmeyer seinen Leuten zu. „Denkt an die Fußabdrücke, die von den Eheleuten sind sicher auch überall zu finden.“

Heilmeyer trat noch einmal ganz dicht an die Frau heran und jetzt fiel ihm deutlich auf, dass die Tote anstatt von Kleidungsstücken ein schlichtes weißes Hemd aus Baumwolle trug.

„Ein Totenkleid?“, fragte Jens.

„Kann gut sein“, meinte Heilmeyer, „… und die abgelegte weiße Calla unterstreicht diese Inszenierung auch noch. Tatsächlich eine kranke Form der Liebesbezeugung. Haltet die Augen auf, wir können sicherlich noch mehr finden. Selbst, wenn Täter oft einige Dinge als Relikt gern zur Erinnerung selbst behalten. Irgendwas bleibt immer am Tatort liegen.“

„Vielleicht wurde die Frau gar nicht hier ausgezogen und das Ganze gehörte zu seinem perfiden Spiel.“ Olli sprach meist spontan aus, was die anderen dachten.

Der Frauenschuh blieb vorerst das Einzige was sie fanden.

„Ich sehe mich weiter um“, meinte der Hauptkommissar, bevor er verschwand. Er lief allein den Fundort ab, Schritt für Schritt und niemand würde es wagen, ihn jetzt zu stören. Alle kannten seine spezielle Art, sich mit der Umgebung eines Fundortes vertraut zu machen. Während er hochkonzentriert herumlief, kamen ihm viele Fragen. Wieso dieser Platz? Der ist viel zu schwer einsehbar, dabei sprach alles dafür, dass die Frau gefunden werden sollte. Was war das Motiv des Täters? War irgendein Muster zu erkennen? Es gab sichtbare Spuren, die andeuteten, dass die Frau hierher verschleppt wurde. War sie da bereits tot? Das muss die Rechtsmedizin klären. Aber wie sie hingelegt wurde? Der Typ musste den Mord aus langer Hand geplant haben. Gab es vielleicht Komplizen? Im Moment ist nichts auszuschließen. Fakt ist, dass der Täter sich hundertprozentig sicher gefühlt hatte und er kennt die Gegend gut. Ja, wir sollten von einem Insider ausgehen.

Während Heilmeyer seine Beobachtungen stichpunktartig ins Diktiergerät, das er immer in solchen Fällen dabeihatte, sprach, kamen ihm die abenteuerlichsten Gedanken. Die Frau wurde aufgebahrt, um sie regelrecht zur Schau zu stellen. Das ist ein klarer Widerspruch zu diesem Versteck. Für uns war es ein Zufall, dass wir sie so schnell finden konnten. Der Hauptkommissar stand plötzlich still und überlegte. Moment mal! Die Szenerie kam ihm irgendwie bekannt vor. Genau! Die Lage der Frau und auch das Symbol der weißen Calla. Alte Erinnerungen wurden in ihm geweckt. Heilmeyer dachte an die Anfänge seiner Arbeit in Rostock zurück. Das war zu der Zeit, als die Mauer der DDR fiel, er seinen ersten Fall in Mecklenburg-Vorpommern übernommen hatte. Den Fall hatten sie nie lösen können. Die Tote damals wurde genau wie diese auf Farn gelegt! Die Blume sahen sie damals ebenso als ein besonderes Zeichen an. Gut, Zeichen bei Toten gab es immer mal, vor allem bei Serientätern. Auch wissen wir, dass Serientäter exakt planen. Und das hier könnte genauso gut das Merkmal für einen Serientäter sein.

Der Hauptkommissar wurde aus seinen Überlegungen gerissen. Olli war der Einzige, der sich traute, ihn in seiner Beobachtungsphase zu stören. „Der Täter hat sich ein gutes Versteck ausgesucht. Es gibt jede Menge Zeichen, die Symbolcharakter tragen. Das Ganze macht auf mich einen makabren Eindruck. Die Hände der Frau liegen verschlungen auf dem Bauch und darauf diese seltsame Blume“, fasste er seine ersten Eindrücke zusammen.

„Diese seltsame Blume ist eine weiße Calla“, griff Heilmeyer den Faden auf, „Früher galt sie als Zeichen für Unsterblichkeit.“

„Merkwürdig, habe ich nie gehört, aber interessant, was Pflanzen zu sagen haben.“ Olli drängte weiter, denn er hatte noch mehr festgestellt: „Es gibt weitere Indizien. Zum Beispiel die Fesseln an den Handgelenken und den Füßen der Frau haben jede Menge tiefe Abschürfungen. Sicher wurde sie mit dicken Seilen gefesselt. Ach ja, der eine Schuh, den ich gefunden habe, können wir nicht der Frau zuordnen. Es ist schon äusserlich zu erkennen, dass der viel zu groß ist. Aber Faserspuren vom Seil konnten wir sicherstellen. Sie muss betäubt und anschließend erstickt worden sein.“

„Gut Olli, sonst noch was?“

„Einiges! Aber wir sind nicht sicher, ob die Frau noch lebte, bevor sie hierher verschleppt wurde. Den meterhohen Farn hat er an anderer Stelle herausgerissen. Wahrscheinlich wollte er hier nicht noch mehr Spuren hinterlassen.“

„So ein krankes Hirn, eine Grabstätte auf Farn mitten im Wald?“

„Das wird wohl sein ganz spezielles Geheimnis bleiben.“

„Vielleicht wollte er sie weich lagern?“

„Das macht doch keinen Sinn, wenn die Frau längst tot war? Oder sie war eben noch nicht tot, als er sie herbrachte?“

„Die Erklärung könnte auch völlig simpel sein, der Täter nahm den Farn, weil jede Menge davon hier rumliegt. Wäre naheliegend, oder?“

„Ich denke in eine ganz andere Richtung, Olli. An einen Fall von früher. Genau dazu passen ein paar Details, die wir auch hier vorgefunden haben. Du bist zu jung, um dich daran zu erinnern. Die Tat geschah während der Wendezeit. Damals gab es auch eine Frauenleiche. Einige Details erinnerten mich sofort daran. Vor allem, wie die Frau hingelegt wurde. Das war mir nicht gleich aufgefallen, aber auf dem zweiten Blick waren die Erinnerungen plötzlich da. Jedenfalls sollten wir die Akten von damals in unsere Untersuchungen einbeziehen. Einiges kommt mir zwar bekannt vor, aber genauso viel bleibt im Dunklen. Naja, einige Jahrzehnte liegen schon dazwischen. Die Blume und das Totenkleid, das waren die Zeichen des Täters, an die ich mich besonders stark erinnere. Die Tote fanden wir auch in der Rostocker Heide. Wir müssen prüfen, ob es in Deutschland weitere Morde mit ähnlichem Muster gab.“

„Wird gemacht Chef. Oh Mann, jede Menge Rätsel.“ Olli strich sich über seinen kahlen Kopf, als ob er Haare, die nicht vorhanden waren, wegstreichen wollte. Das tat er meist, wenn es brenzlig wurde. Er war immer derjenige, der genau das aussprach, was Heilmeyer gerade dachte. Aber auch die anderen wussten mit dem Chef umzugehen. In dieser Besetzung arbeiteten die Männer seit etlichen Jahren zusammen. Ein perfekt eingespieltes Team, nie ließ sich jemand etwaige Gefühle anmerken. Im Gegenteil, eher reagierte der eine oder andere bereits abgestumpft.

„Im schmutzigen Sumpf krimineller Machenschaften zu stochern, macht resistent für Emotionen“, das war einer von Heilmeyers Lieblingssätzen. „In der täglichen Arbeit wird uns ein Spiegel vorgehalten, der zeigt, dass wir mit Gefühlen nicht weiterkommen.“ Genau das war es, was Heilmeyer von jedem Einzelnen erwartete. Seine Leute sollten so lange suchen, bis der letzte Baustein im Gerüst der Straftat gefunden wurde. Von höchster Stelle wurden sie mehrmals für die besten Aufklärungsquoten im Land ausgezeichnet.

Inzwischen war auch das Team der Spurensicherung eingetroffen. Jetzt waren die Leute am Fundort damit beschäftigt, alle gefundenen Gegenstände mit einer Nummer zu versehen und in Plastikbehälter sicherzustellen. „Gut, dass die Kollegen von der Rechtsmedizin personell gut aufgestellt sind. Habe die Kollegen eben mit meinem Anruf neugierig gemacht und jetzt warten sie auf unser Material“, mischte sich jetzt auch Jens in das Gespräch von Heilmeyer und Olli ein.

Heilmeyer lächelte ihm zu. „Hoffentlich landen wir mit den DNA-Spuren einen Treffer in der Datei, das wäre ein guter Anfang für unsere Ermittlungen.“ In seiner Stimme klang Zuversicht mit.

Die Rostocker Rechtsmedizin war auf dem neuesten kriminaltechnischen Stand. Anhand genetischer Spuren konnten bereits viele Straftäter überführt werden. Mit einer relativ jungen Methode beschäftigten sie sich seit geraumer Zeit, der Fragmentlängenanalyse. Damit ließen sich Fingerabdrücke noch Jahrzehnte später feststellen. Das hatte den Vorteil, längst vergangene Straftaten neu aufzurollen.

„Ich hoffe, dass wir Glück haben, wenn wir diesen Mord mit dem Früheren vergleichen, und anhand der Analyse einen Volltreffer landen.“ Heilmeyers Erregung stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Ihm war anzumerken, dass ein Doppelschlag das Größte in seiner bisherigen Laufbahn wäre. „Was wir brauchen sind ausreichende Beweise, hoffentlich haben wir nichts übersehen.“

Ein Doppelerfolg wäre aber nicht nur ein Glücksgriff für ihn, auch für seine Leute. Der Erfolg würde sie weiter überdurchschnittlich motivieren.

„Wir können uns nicht allein auf die DNA-Tests verlassen, ein Fingerabdruck entscheidet längst noch nicht über Schuld oder Nichtschuld. Das ist zwar ein wichtiges Indiz, aber zur Lösung gehören weit mehr Puzzleteile. Falls die Verdächtigen kein Geständnis ablegen, können wir sie nur mit eindeutigen Beweisen konfrontieren. Die müssen hundert Prozent überzeugen.“ Da kam wieder der Techniker bei Jens durch. Nicht nur Heilmeyer, sondern auch ihm waren hundertprozentige Beweise besonders wichtig. Lieber einen Schritt mehr untersuchen, als einen zu wenig, das war seine Devise.

Benno von der Spusi lief neben der Absperrung, zwei andere stellten in der Nähe der Toten Spuren sicher. Er rief Heilmeyer zu: „Da drüben am Baum sind Fußabdrücke, die könnten aber auch vom Ehepaar stammen?“

„Okay, wenn ihr fertig seid, kann das Material sofort zur Gerichtsmedizin. Die Abdrücke gleichen die in der zentralen Datei ab.“

Olli half mit, die Sachen einzupacken. Beim Räumen wurde sein Blick auf einen unscheinbaren Schnipsel gelenkt.

„Was ist das?“, fragte er erstaunt. Mit seinen Handschuhen hob er das winzige Papierstück auf. „Da steht was drauf. Der Stift hatte anscheinend seinen Geist aufgegeben. Sollen das Buchstaben sein? Im Labor kriegen die das raus. Ein Fetzen Papier, wenn das nicht voll mit Spuren ist, nehme ich meinen Hut.“ Heilmeyer klopfte Olli anerkennend auf die Schulter, als der ihm vom Fund berichtete.

„Das wird gleich mit den anderen Sachen weggeschickt. Der Täter musste unter Dampf gestanden haben, jedenfalls hat der mehr hinterlassen als ihm lieb sein dürfte.“

„Vielleicht ja doch ein blutiger Anfänger, der das zum ersten Mal getan hat, so nachlässig wie der vorging.“

„Denkt an die Zigarettenkippen vom letzten Fall, die dem Kerl letztlich das Genick brachen.“

Heilmeyer griente und meinte zufrieden: „Stichwort Kippe! Macht erst mal eine Zigarettenpause, bevor wir hier endgültig die Zelte abbrechen. Ich weiß zwar Olli, du hast eine Papierallergie, aber du musst trotzdem heute noch die Dokumentation fertigstellen.“

Olli war dankbar für die Zigarettenpause. Die lockere Art des Chefs erleichterte selbst in den schwierigsten Situationen allen die Arbeit. „Sollten wir den Täter genauso flott finden wie sein Opfer, wäre unsere Arbeit fast zu perfekt.“

Im selben Augenblick musste Heilmeyer an den Exmann von Sarah Niemann denken. „Der Journalist muss die Nachricht erhalten, der hatte ja schließlich die Vermisstenanzeige gemacht.“

„Gibt es sonst noch Verwandte?“, fragte Jens.

„Ja, eine Mutter“, sagte der Kommissar laut in die Runde. Das hatte er im Protokoll gelesen. Am liebsten würde er diesen Gang mit der Mutter delegieren, aber das blieb für ihn Chefsache. Noch einmal lief er den Fundort ab und blieb vor der toten Frau stehen. Er starrte sie förmlich an und wusste gar nicht, warum er den Blick kaum lösen konnte. Sie erinnert mich irgendwie an Klara, dachte er. Klara war seine jüngste Schwester.

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