Читать книгу: «Tübinger Fieberwahn», страница 3

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3. Der Absturz

»Brauche dich dringend für meinen Bilderzyklus ›Vollmond‹ auf der Burg Hohenneuffen! Um 22.00 Uhr an der Baustelle! A.«

Auf einer Vernissage von Ackermanns Fotozyklus »Licht und Schatten« im Tübinger Schloss war ihm die Idee für seinen teuflischen Plan gekommen. Die SMS war der erste Teil davon.

Werner Wüst würde A. mit dem Namen Ambrosius Ackermann gleichsetzen. Da der Hobbyfotograf zu außergewöhnlichen Zeiten an außergewöhnlichen Orten fotografierte, verwunderte ihn nichts.

Die SMS war aber nicht von Ambrosius Ackermann, obwohl seine Nummer angezeigt wurde. Sie war von ihm! Man würde das aber nicht zurückverfolgen können. Zacharias, ein Mitglied des Chaos Computer Klubs und der Sohn seines Freundes Dieter, hatte das für ihn erledigt.

Dazu kam, dass er bei einem Ausflug Wüsts Namen auf dem Baustellenschild gelesen hatte, das am Eingang zum Burghof von Hohenneuffen stand. Hier war Werner Wüst noch als technischer Bauberater tätig, obwohl er schon im Ruhestand war. Auch Ackermann wusste das.

Sie hatten die beiden, Werner Wüst und seinen früheren Geschäftspartner Ambrosius Ackermann, schon lange im Visier. Jetzt hatten er und seine Freundin Silja wegen ihrer immer akuter werdenden Lungenfibrose aber keine Zeit mehr, länger mit ihren Plänen zu warten.

Wie er ihn einschätzte, würde Werner Wüst zwar seinen exzentrischen Freund verfluchen, sich aber dann arglos auf den Weg in seinen eigenen Untergang machen.

Jetzt kauerte der nächtliche Verschwörer neben der Garage auf Wüsts Grundstück. Der leichte Nieselregen hatte die Schulterpartie seines dunkelgrünen Parkas durchweicht.

Auch durch die schwarzen Jeans fühlte er schon die Nässe kriechen. Nur seine Gore-Tex Stiefel hielten ihn noch warm.

Er warf einen Blick auf die Natursteinplatten vor der Garage. Wenigstens hinterließ er keine Fußspuren im durchweichten Rasen. Das Gartentor hatte offen gestanden und ihm problemlos Zutritt zum parkartigen Grundstück gewährt. Die kugelig gestutzten Buchsbüsche gaben ihm Sichtschutz. Er hasste ihren moderig bitteren Geruch. Sie erinnerten ihn an die Friedhofbesuche, die er jeden Sonntagnachmittag an der Hand seiner Mutter machen musste. Aber jetzt war keine Zeit für Sentimentalitäten.

Wo blieb das Arschloch? Er warf einen Blick auf seine falsche Rolex, die er von einem Türkeiurlaub mitgebracht hatte. Der Typ ließ sich Zeit.

Dann gingen im Bungalow die Lichter aus und das Garagentor schob sich wie von Geisterhand nach oben. Er ließ sein Messer aufschnappen, sprang auf und schlüpfte gebückt durch den Spalt unter dem Tor. Gleichzeitig ging die Garagenbeleuchtung an.

Wüst, der durch eine Verbindungstür zum Haus in die Garage trat, konnte auf den Überraschungsangriff nicht mehr reagieren. Der Angreifer, der sich neben der Tür postiert hatte, sprang auf ihn zu, packte den fülligen Mann von hinten und hielt ihm das Messer an den Hals.

Sein Opfer war für den Nachtausflug auf Burg Hohenneuffen passend gekleidet. Er trug eine gelbe Regenjacke und blaue Jeans. Gegen die Kälte hatte er einen blauen Kaschmirschal um den Hals gebunden. Nur seine weißen Schuhe passten nicht recht zu dem Outfit.

»Jetzt keinen Mucks!«, zischte ihm der Eindringling ins Ohr und schubste ihn in Richtung Kofferraum des Autos von Wüst. Der überrumpelte Mann gehorchte ihm widerspruchslos. Er riss ihm den Autoschlüssel aus der Hand und drückte das Kofferraumsymbol. Der öffnete sich automatisch. Das kam ihm sehr gelegen.

»Was?«, krächzte Wüst.

»Rein da!«, kommandierte er und gab Wüst einen Stoß. Der Dicke kippte nach vorne und fiel fast wie von selbst in den Kofferraum. Er verstaute noch die Beine seines Opfers, schlug den Deckel zu, setzte sich ans Steuer und ließ den Motor an. Das alles hatte keine Minute gedauert. Langsam rollte er aus der Garage. Das Tor schloss sich hinter ihm lautlos und das Grundstück lag wieder in nächtlicher Ruhe. Niemand hatte etwas von der Entführung bemerkt.

20 Minuten später bog er mit der Luxuslimousine auf den Parkplatz unterhalb der Burg Hohenneuffen ein. Er schaltete die Scheinwerfer aus.

Zwei Mastleuchten verbreiteten ein milchiges Licht. Ansonsten lag die Umgebung im Dunkeln. Er stieg aus und näherte sich dem Kofferraum. Seit zehn Minuten hatte das Klopfen und Schreien im Kofferraum aufgehört. Welche Taktik verfolgte sein Opfer? Entweder es war bewusstlos geworden oder plante einen Angriff. Er musste vorsichtig sein.

Er trat einen Schritt zurück und öffnete mit der Fernbedienung den Kofferraum. Tatsächlich, eine hervorschnellende Faust suchte ein Ziel außerhalb des Autos.

Geistesgegenwärtig machte er einen Schritt nach vorne und griff sich den dazugehörigen Arm. Er bog ihn auf den Rücken des liegenden Mannes, wie er es beim Kickboxen geübt hatte.

»Saukerl! Willst du das zu spüren bekommen? Aussteigen!«, sagte er übertrieben laut.

Dabei klappte er sein Schnappmesser auf. Angesichts der Drohungen kletterte Wüst ächzend aus dem Kofferraum. Er bot einen erbärmlichen Anblick. Der Schal hing ihm schief um den Hals und der Reißverschluss der Regenjacke war fast aufgegangen. Trotzdem hätte er am liebsten auf ihn eingeprügelt. Aber er beherrschte sich. Um seinen Plan ausführen zu können, musste Wüst erst einmal oben auf der Burg sein.

Mit dem Messer in der Hand dirigierte er den Überrumpelten die gepflasterte Auffahrt zum Burghof hinauf. Vorher drückte er ihm eine Stretchtaschenlampe in die Hand, die dieser wie ein Laternchen der sieben Zwerge vor sich hertrug.

Der kleine Dicke schnaufte auf dem steilen Weg schon nach den ersten Schritten. Wenigstens hatte es zu regnen aufgehört. Erbarmungslos trieb er ihn den Berg hoch. Das hatte er verdient!

»Das gefällt dir nicht, du Betrüger!«, presste er hervor und lachte bitter auf. Die Schritte hallten in der Dunkelheit und die beiden Gestalten warfen lange Schatten auf das unebene Pflaster. Er forcierte das Tempo.

»Was wollen … Sie … von mir?«, fragte Wüst atem- und tonlos.

»Das ist meine kleine Überraschung!«, antwortete der Entführer. Sein Grinsen konnte man nur erahnen.

Die Umrisse des Burgfrieds tauchten im Dunkel über ihnen auf. Der Vollmond stand am Himmel und beleuchtete die Szene. Irgendwo bellte ein Hund und in der Ferne knatterte ein Motorrad.

Dann standen sie im Burghof zwischen den maroden Burgmauern. Überall lagen Schutt und Baumaterialien. Neben einem Bauwagen waren Gerüststangen und Zementsäcke gestapelt. Aus der Burgmauer war ein Stück herausgebrochen, das wohl saniert werden sollte.

»Da vor zur Kante!«, befahl er. Der steile Abhang dahinter war nur mit Flatterband gesichert. Ob das den Bauvorschriften entsprach, schoss es ihm durch den Kopf.

Das ungleiche Paar blieb einen Meter vor dem Abgrund stehen. Er holte das sorgfältig verwahrte Holzstück aus der Innentasche seiner Jacke.

»Zieh Schuhe und Strümpfe aus und stell sie dorthin!« Er deutete auf eine imaginäre Stelle am Boden.

Mit einem verständnislosen Blick legte Wüst die Taschenlampe auf den Mauerresten ab und öffnete den Mund zu einer Frage. Der Entführer hob drohend sein Messer. Wüst schloss resigniert den Mund und folgte dann im Zeitlupentempo dem Befehl seines Peinigers. Er stellte die weißen Mokassins ordentlich nebeneinander auf den Kies, faltete die blaugestreiften Armanisocken akkurat und legte sie daneben. Nervös nahm er seinen dunkelblauen Kaschmirschal ab und band ihn dann wieder sorgfältig um den Hals. Er zerrte die Jeans über den massigen Bauch nach oben und zog den Reißverschluss der gelben Regenjacke bis unters Kinn.

»Was …«, setzte er an.

»Dreh dich um und quatsch keine Opern! Sag mir lieber, wo die Akten sind!«, kommandierte der Mann hinter ihm. Die Geisel glotzte ihn verständnislos an.

»Welche Akten?«, krächzte er und zuckte ratlos mit den Schultern. So ein Heuchler, so ein kaltschnäuziger Schauspieler! Eine Welle des mühsam unterdrückten Zorns schwappte jetzt in dem Entführer hoch.

Wie von selbst öffnete sich sein Mund und er brüllte sein Anklagepamphlet lautstark in die Nacht. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, sein ganzer Körper bebte.

Das Holz in seiner Hand zitterte. Als Kind hatte er in den langen Sommerferien, den Feragosto, bei zio Massimo, seinem Onkel, das Töten gelernt. Mit einem Kantholz bewaffnet stand er damals neben dem Hackstock. Er hatte die Aufgabe, dem in Todesangst gackernden und scheißenden Huhn einen Betäubungsschlag zu verpassen. Mit einem gezielten Beilhieb trennte Massimo dann den Kopf ab.

»Umdrehen!«, befahl er am Ende seiner Tirade mit vor Wut zitternder Stimme.

Wüst starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er hatte von dem Geschrei nur die Hälfte verstanden. Dann drehte er sich widerstrebend zum Abgrund.

Die Frage nach den Akten blieb unbeantwortet.

Im nächsten Moment krachte der Schlag auf Wüsts Hinterkopf. Der Dicke wankte und kippte dann nach vorne. Jetzt hatte der Angreifer leichtes Spiel. Wie in Trance packte er die Füße seines Opfers und gab dem Körper einen Stoß. Der Leblose fiel den Abhang hinunter und schlug unten mit einem dumpfen, knackenden Geräusch auf.

Keuchend sammelte der Täter herumliegendes Geröll und schleuderte die Steine hinterher. Dann folgten Balken und Baumaterial. Er schuftete wie ein Berserker. Er griff nach der Taschenlampe und leuchtete nach unten. Schwer atmend stand er an der Kante und betrachtete sein Werk.

Der plumpe Körper von Werner Wüst lag unnatürlich verrenkt im leise plätschernden Bach am Fuße des Hanges. Bauschutt bedeckte ihn zur Hälfte wie ein bleiches Leichentuch. Der Angreifer wischte sich über das schweißbedeckte Gesicht, als wolle er die dunklen Gedanken vertreiben. Er holte sein Smartphone aus der Hosentasche und machte ein Foto.

»Das war Nummer eins!«, tippte er in die App und schickte die Nachricht mit Bild ab. Dann machte er sich an den Abstieg zum Parkplatz. Er warf einen gehetzten Blick zum Mond, der den Weg so weit erhellte, dass er ihn schemenhaft erkennen konnte. Bald stand er vor Wüsts Porsche Cayenne S, der silbermetallicfarben im Mondlicht glänzte.

Er würde den Wagen irgendwo im Wald abstellen und anzünden. Für einen kurzen Moment war der schwere Druck des Verlustes von ihm gewichen. Er fühlte sich leicht ums Herz und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

4. Die Leiche auf der Burg

»Ba Ba Banküberfall, das Böse ist immer und überall!«, rockte es durch die nächtliche Stille der Wohnung. Als Klingelton war der Hit der »EAV« eher ungewöhnlich.

Die Schnarchgeräusche verstummten mit einem letzten Seufzer. Wotan drehte sich auf dem aufblasbaren Gästebett ächzend von der Seite auf den Rücken. Verschwommen sah er, dass der Projektionswecker mit roten Ziffern 4.31 Uhr auf die Zimmerdecke warf.

Die »EAV« sang mit voller Lautstärke weiter.

»Alexa, mach das Licht an!«, befahl er mit schlaftrunkener Stimme.

»In diesem Raum befindet sich noch kein Endgerät, das ich einschalten kann. Soll ich die Lampe im Nebenraum einschalten?«, fragte die digitale Sprachassistentin monoton. »Alexa, einschalten!« Wotan war angesäuert. Die Deckenbeleuchtung im Flur ging an und ein Lichtstrahl fiel durch die halb geöffnete Tür.

Wotan Wilde gähnte, räkelte sich und blinzelte ins Licht. Er überlegte einen Augenblick, orientierte sich und kam zu dem Schluss, dass heute Donnerstag sein müsste und er in seiner neuen Wohnung war.

Er entdeckte das Smartphone auf dem Umzugskarton, der seit gestern als Nachttisch diente. »Küche«, stand mit dickem Filzer auf der Seite. Die Nachtkästchen hatte seine Frau mit dem Bett in den Container nach Kapstadt gepackt. Wilde stöhnte. Hier herrschte noch Chaos pur.

Er rollte sich zur Seite, stützte sich auf den linken Ellenbogen und griff nach dem vibrierenden Gerät.

»Ja!«, bellte er in den Hörer.

»Guten Morgen, Wotan. Hier ist Bernadette!«, flötete seine Assistentin gut gelaunt.

»Mensch, Bernadette, weißt du, welche Uhrzeit wir haben?«, stöhnte Wotan.

»4.30 Uhr!«, sagte die und lachte. »Hier ist die Zeitansage! Ich hätte eine schöne Leiche für dich! Haben Jogger beim Frühlauf entdeckt.«

»Die hätte auch noch ein paar Stunden warten können. Termine hat die Leiche ja nicht mehr!«, stellte Wotan grummelnd fest. Er setzte sich ganz auf und hielt nach seinen Hausschuhen Ausschau.

»Wer weiß! Ich konnte noch nicht mit ihr reden!«, scherzte Bernadette.

»Na gut! Kannst du mich abholen? Am Alten Güterbahnhof 17, seit gestern«, informierte er Bernadette.

»Was hast du denn geträumt?«, fragte Bernadette.

»Spinnst du?«, fragte er sie. »Was soll die Frage?«

»Du weißt doch, dass das in Erfüllung geht, was man in der ersten Nacht in einer neuen Wohnung träumt!«, teilte Bernadette mit.

»So ein Quatsch! Ich bin doch nicht mehr vier! Hol mich lieber ab! Ich komm runter, kann eine halbe Stunde dauern. Bring Kaffee mit! Und tschüss!« Wilde warf das Smartphone auf die Bettdecke und ließ sich noch einmal kurz aufs Kopfkissen zurückfallen.

Er hatte nichts geträumt. Allein die Begegnung gestern Abend mit seinem Hausgenossen, Ambrosius Ackermann, der in der Wohnung über ihm residierte, war Albtraum genug gewesen. Er hätte sich für das erste Zusammentreffen auch einen netteren Anlass gewünscht.

Er hatte gestern Abend um 18.00 Uhr auch einen Engpass gehabt, als er sein großes Geschäft nicht mehr zurückhalten konnte. Aber dieser verfluchte Kümmerle, der Sanitärfritze, hatte die Kloschüsseln noch immer nicht installiert. Lieferengpässe!

In seiner Not schnappte er sich einen Piccolo und klingelte bei Saskia Klaschke unten im zweiten Stock.

Nachdem sich in der Wohnung nichts gerührt hatte, war er in den fünften Stock gefahren und hatte bei Ackermann Sturm geläutet. Sofort wurde die Tür aufgerissen.

Aber anstelle einer Begrüßung sah er nur noch den Rücken eines schwergewichtigen Mannes. Er trug ein blütenweißes Unterhemd und eine golden gestreifte Boxershorts.

»Wird aber auch Zeit, dass der Anzug kommt. Das war das letzte Mal, dass ich in der City Reinigung war. Hängen Sie den Anzug an die Garderobe!«, blaffte der Dicke und verschwand im Bad. Jetzt pressierte es aber wirklich!

Wilde orientierte sich kurz. Neben dem Bad, das musste das Gästeklo sein. Er stürmte hinein und erleichterte sich. Schöne Kloschüssel, dachte er. Dann spülte er ausgiebig und trat frohgemut in den Gang. Im Bad hörte er den Fön.

Wilde überlegte kurz. Sollte er noch etwas sagen? Aber so unfreundlich, wie der Mann gewesen war, hielt er das nicht für nötig. Er öffnete die Wohnungstür, schlich in den Hausflur, zog die Tür vorsichtig ins Schloss und lief leichtfüßig die Treppe hinunter. Den Sekt nahm er wieder mit.

Würde später mal eine Anekdote wert sein. Mein Toilettengang beim Herrn Ackermann. Hoffentlich funktionierte die Lüftung im Gästeklo, dachte er.

Der Kommissar hatte bei der Erinnerung an dieses kleine Abenteuer sofort gute Laune bekommen und musste grinsen.

Er fuhr sich durch seinen verstrubbelten dunklen Haarschopf. Jetzt musste er aber Gas geben. Er schwang die Beine von der Matratze und blickte an sich hinunter. Er hatte im Jogginganzug geschlafen. Sogar seine Socken hatte er anbehalten.

Das war gestern aber auch ein anstrengender Tag gewesen. Außerdem war es kalt in der Wohnung. Das lag wohl an der blöden Balkontür, die nicht richtig schloss. Er musste sich auf seinem improvisierten Nachtkästchen abstützen, um von der niedrigen Matratze hochzukommen. Er war doch nicht mehr der junge Hupfer, für den er sich immer hielt.

»Merde!«, fluchte er, ganz seinem französischen Großvater geschuldet. Alle Knochen taten ihm von der gestrigen Schlepperei weh.

»Alexa, mach das Rollo im Schlafzimmer auf!« Wie von Geisterhand fuhr das Rollo des raumhohen Schlafzimmerfensters nach oben.

Draußen erkannte man einen fahlen Mond über der Skyline des Neubauviertels. Es begann leicht zu dämmern. Ein paar dunkle Wolkenfetzen zogen über den Himmel. Zwei Kräne ragten dunkel empor. Nur in wenigen Fenstern der Nebenhäuser brannte schon Licht.

Wilde gab die Suche nach seinen Hausschuhen auf. Barfuß tappte er durch den Flur. Er fühlte sich komisch und fremd an, der erste Morgen in der neuen Wohnung.

Im Flur grüßte ein buntgefiederter Tukan aus einem farbenprächtigen Blütendschungel. Riesige Schmetterlinge saßen auf Fantasieblüten und Kolibris flatterten dazwischen. Die Tapete hatte Siegrun noch ausgesucht. Er hätte japanische Schwertkämpfer bevorzugt, konnte sich aber nicht durchsetzen. Im Endeffekt war es ihm auch egal gewesen.

Wilde schlängelte sich an den Umzugskisten vorbei ins Bad, erleichterte sich ins Bidet und starrte auf die leere Stelle, die für die Kloschüssel vorgesehen war. Zusammengeknülltes Zeitungspapier ragte aus dem Loch im Boden.

»Merde!« Wilde drehte den Wasserhahn auf. Wie ein kleiner Wasserfall plätscherte das kalte Wasser in eines der beiden ovalen Granitbecken. Das zweite war für seine Frau gedacht gewesen. Aber das Kapitel Ehe war ja jetzt vorbei. Momentan hatte er weder Lust noch Gelegenheit auf eine neue Beziehung.

Er vermied es, in den Spiegel zu sehen. Auf das bleiche Gesicht mit dem Dreitagebart und den dunklen Rändern unter den Augen konnte er verzichten. Ihm war kalt, das Schlucken tat ihm weh. Er nahm einen Schluck aus der Flasche mit dem Mundwasser, legte den Kopf in den Nacken und gurgelte lautstark. Siegrun hatte das Geräusch gehasst.

»Du klingst wie ein Walross«, hatte sie immer genörgelt. Wilde nahm einen weiteren Schluck und gurgelte nochmals laut und ausgiebig. Jetzt war er ein freier Mann!

Langsam kamen seine Lebensgeister zurück. Er erinnerte sich dunkel, dass er gestern Abend mit sich selbst und einem Sixpack Tannenzäpfle auf das neue Leben angestoßen hatte. Sein Kopf schmerzte. Jetzt wäre ein Aspirin das Richtige, aber der Inhalt der Hausapotheke war noch irgendwo eingepackt.

Bernadette hatte bestimmt eine Tablette in ihrer unergründlichen Gucci Handtasche. Ihm wurde leicht schwindelig, als er sich hinunterbeugte, um die Jeans anzuziehen. Den dunkelblauen Rolli, der vom Vortag auf dem Badewannenrand lag, zog er sich über.

Dann trat er ins Wohn-Esszimmer und blieb unschlüssig vor der Arbeitsplatte der Küchenzeile stehen. Traurig starrte er auf die Kaffeemaschine. Wo sich wohl die zugehörigen Pads versteckten? Für eine ausgiebige Suche hatte er jetzt keine Zeit.

Er drehte sich um und betrachtete seine Schätze auf dem Küchentisch.

Zärtlich fuhr er mit dem Daumen über die messerscharfe Klinge des wertvollen Katana Schwerts, das er gestern ausgepackt hatte. Der Umzugscrew hatte er begeistert von seiner Schwertsammlung berichtet. Besonders Ben, der Rasta­man, schien schwer beeindruckt von seinen Erzählungen.

Sein Geldbeutel lag neben dem Schwertbeutel mit dem eingestickten Muster aus japanischen Schriftzeichen. »Hüter des Lichts«, stand da angeblich.

Den drei Männern der Firma »Umzüge Federleicht« hatte er ein fürstliches Trinkgeld gegeben. Er steckte das Portemonnaie in seine Gesäßtasche. Dann schlüpfte er in seine Lederjacke und seine schwarzen Budapester. Die handgefertigten Halbschuhe standen am Boden neben den leeren Pizzakartons und Bierflaschen des letzten Abends.

Wilde seufzte, als er über das Chaos blickte.

»Alles der Reihe nach, Wotan! Jetzt hat erst mal eine Leiche nach dir verlangt!«, sagte er halblaut.

»Alexa, mach das Licht aus!«, ergänzte er lauter.

Er warf die Wohnungstür ins Schloss und drückte den Schalter für das Flurlicht. Zufällig erwischte er erst einmal seine eigene Wohnungsklingel. Der Lichtschalter war genau darüber angebracht. So hörte er das erste Mal den Ton seiner Glocke. Sie hatte einen schrecklichen Klang. Sie schrillte wie eine Sirene. Er wollte den Hausmeister fragen, ob man das umstellen konnte. Wie hieß der schnell noch wieder? Er tröstete sich damit, dass der Name unten am Briefkasten stand.

Dann lief er aus alter Gewohnheit die Treppe hinunter. Im ersten Stock fiel ihm ein, dass es ja einen Aufzug gab.

Im Treppenhaus stieg ihm ein widerlicher Geruch in die Nase. Er hielt die Luft an und stürmte weiter. Kam das noch vom Abendessen der anderen Anwohner? Kochten die alte Wollsocken?

Im Erdgeschoss angekommen, stand das Bobbycar mit dem Anhänger noch immer unter den Briefkästen. Die Tiere im Hänger waren mit dem kleinen König über Nacht in der Wohnung verschwunden. Aus den Briefkästen hingen Werbeprospekte eines Supermarktes. Er musste einen Keine-Werbung-Sticker auf seinen Kasten kleben, fügte er seiner imaginären Merkliste hinzu. Einen kurzen Augenblick überflog er die Namen an den Kästen. Kostka, Holger Kostka hieß der Mann mit der Gartenfirma und Teilzeithausmeister.

Bestens informiert, trat Wotan Wilde aus der Haustür. Der schwarze 5er BMW der Polizei parkte direkt vor dem Haus. Er erkannte Bernadettes schmale Silhouette auf dem Fahrersitz. Sie nippte an einem Kaffeebecher und nickte mit dem Kopf rhythmisch zur Musik. Ihr Pferdeschwanz wippte unternehmungslustig.

Hoffentlich hatte seine Kollegin ihm auch einen Kaffee mitgebracht. Wilde öffnete die Beifahrertür und ließ sich ächzend auf den Sitz fallen.

Sofort schaltete Bernadette die Musik aus. Sie wusste, dass ihr Chef Musical-Musik verabscheute.

»Morgen, Prinzesschen!«, brummte er. Seine Assistentin sog hörbar die Luft ein. Sie mochte es nicht, wenn er sie so nannte. Natürlich war sie ein Prinzesschen, das musste sie zugeben, aber nur in ihren Kreisen und nicht im Job. Sie konnte ja nichts dafür, dass sie eine von Hohenstein war. Aber das würden ihre Kollegen wahrscheinlich nie kapieren. Jetzt war sie die stahlharte Ermittlerin an Wotans Seite. Sie grinste innerlich.

»Na, wie du aussiehst, hast du wieder mal durchgemacht«, holte Bernadette zum verbalen Schlagabtausch aus.

»Umzugsparty mit DJ Chaos und seinem Bruder Tannenzäpfle. Hast du ’ne Tablette für mich?«, erwiderte Wilde, ohne auf die Frotzelei einzugehen. Bernadette hielt ihm einen Kaffeebecher hin.

»Wilde Krönung von McDo«, sagte sie.

Wilde nahm einen Schluck und verzog das Gesicht: »Zucker fehlt!«

Bernadette kramte unbeeindruckt in ihrer Tasche, drückte eine Tablette aus einem schmalen Blisterstreifen und reichte sie Wilde.

»Und?«, Wilde spülte die Tablette mit einem kräftigen Schluck Kaffee hinunter, wobei er wieder leidend den Mund verzog.

»Was und?«, antwortete Bernadette und drückte auf den Starter des Autos.

»Tatort, Opfer, Verdächtige, Täter, Hund, Katze, Maus«, leierte der Kommissar mit monotoner Stimme herunter.

»Burg Hohenneuffen, männliche Leiche, vermutlich kein natürlicher Tod, Täter unbekannt!«, antwortete Bernadette mechanisch und steuerte das Auto mit quietschenden Reifen auf die B28.

»Mit Bernie on the road!«, murmelte Wotan und tastete demonstrativ nach dem Haltegriff.

Den Spitznamen »Bernie« hatte sie nicht von ungefähr. Sie fuhr zwar nicht sehr gerne Auto, dafür aber schnell. Bernie Ecclestone, der frühere Sportfunktionär der Formel 1, war daher ihr Namenspate.

Wilde klickte den Sicherheitsgurt zu und blickte aufs Navi.

»Aha, 26,9 km und 28 Minuten. Dann sind wir um 5.30 Uhr da. Über Riedlingen und Pfullingen.« Seine Fahrerin schaltete SWR 3 ein und raste schweigend durch die Dämmerung.

»Vorsicht, auf der Uracher Straße stehen zwei Blitzer!«, warnte der Verkehrsfunk. Der Regen trommelte auf das Autodach, als sie durch die menschenleeren Ortschaften fuhren. Die Straßenlampen spiegelten sich in der regennass glänzenden Straße. Erste Busse und Autos waren unterwegs.

Nach 25 Minuten bog der Wagen auf den Besucherparkplatz unterhalb der Burg ein. Kies spritzte, als er neben dem weißen Bus der Spurensicherung und zwei blauen Polizeiautos zu stehen kamen. Aus einem Lastwagen der Bereitschaftspolizei luden Beamte in grünen Einteilern Gestänge und Scheinwerfer.

Auch der graue Volvo Kombi des Pathologen Julius Burmeister stand schon da. Bernadette wunderte sich, dass ein Junggeselle mit gutem Gehalt so eine Familienschüssel fuhr. Aber ihr Kollege Robert Altmann hatte ihr erklärt, dass es sich um ein R-Design Modell mit über 300 PS handelte, also ein echtes Sportgerät.

Wotan ließ seinen Blick über den ausgedehnten Parkplatz schweifen. Der Größe nach schien Burg Hohenneuffen ein beliebtes Ausflugsziel zu sein. Wann war er das letzte Mal hier gewesen? Es musste ein Maiausflug nach ihren Flitterwochen in Südfrankreich gewesen sein. Das waren noch glückliche Zeiten!

»Wotan, nicht einschlafen!«, riss ihn Bernadette aus seinen Erinnerungen.

Wilde stieg aus und blickte zur Burganlage, die hoch über ihnen thronte. Er ahnte Schreckliches.

»Müssen wir da rauf?«, fragte er mit leidender Stimme. Es hatte aufgehört zu regnen. Wilde machte einen scharfen Schlenker um eine riesige Pfütze und blieb interessiert vor einer Infotafel stehen.

Die Wanderungen am Albtrauf waren farbig markiert und mit kurzen Beschreibungen versehen.

»Hohenneuffen Tour 1«, las er mit erhobener Stimme, »Rundwanderung, kurzer Weg durch den Wald mit toller Aussicht, 4,8 km, 230 Höhenmeter.« Bernadette hörte gar nicht zu. Sie lief ums Auto und tauschte ihre hellen Sneaker gegen ein Paar dunkelgrüne Gummistiefel aus dem Kofferraum.

»Keine verfrühte Panik! Da müssen wir gar nicht hoch! Jedenfalls nicht gleich jetzt! Wir müssen runter zum Bach.« Sie deutete den steilen Abhang hinunter, der mit Gebüsch, kleinen Bäumen und bemoosten Steinen bedeckt war. Ein schmaler Pfad schlängelte sich in einen Tobel. Unten plätscherte ein Bächlein. Wilde zog seine Jacke enger um sich. Ein kalter Ostwind blies an diesem Morgen.

Er blickte auf seine blank gewichsten Halbschuhe. Das war hier nicht das geeignete Schuhwerk, stellte er fest und beneidete Bernadette um ihre Gummistiefel. Sie hätte aber auch ein Wort sagen können, obwohl er nicht aus dem Stand gewusst hätte, in welchem Karton seine Stiefel waren.

»Du hättest mich auch vorwarnen können, dann hätte ich meine Gummistiefel mitgenommen!«, Wotan konnte sich die Spitze nicht verkneifen.

»Frisch ans Werk!«, rief seine Assistentin, die schon den halben Weg nach unten bewältigt hatte.

»Merde!«, fluchte Wilde laut. Er hangelte sich an den Bäumchen entlang nach unten und versuchte, nicht auf die Schnauze zu fallen. Immer wieder rutschte er mit seinen glatten Sohlen weg.

»Dass ihr auch schon da seid!«, begrüßte sie Wolfgang Schickenrieder. Er nieste mehrmals und schnäuzte sich ausgiebig in ein kariertes Taschentuch.

»Hier gibt es jede Menge von dem Birkenzeugs«, beschwerte er sich und zog den Wollschal enger um den Hals.

»Dann nimm halt dein Nasenspray gegen die Allergie«, empfahl Wilde automatisch. Er betrachtete neidisch die Gummistiefel seines Kollegen.

Der Tatort war mit einem rot-weiß gestreiften Flatterband abgesperrt. Vier Polizisten in Uniform standen um den Tatort und sicherten ihn. Sie wirkten übernächtigt und durchgefroren.

»Heute nur kleine Besetzung?«, fragte Wilde einen Polizisten.

»Penny Schönblick von der KTU und weitere Beamte sind seit Mitternacht in der Kunsthalle«, sagte der.

»Wertvolles Gemälde vom Dingsda, ich komm jetzt nicht drauf, ist weg«, mischte sich Wolfgang ein, »bin kein Kunstkenner.« Er rieb sich seine geröteten Augen und nieste wieder.

Armer Kerl, dachte Wilde und fragte: »Wer hat ihn gefunden?«

Wolfgang Schickenrieder zog einen kleinen Notizblock aus der Jackentasche, blätterte darin herum und las: »Ein Oliver Grimm hat um 4.00 Uhr auf der Dienststelle angerufen. Er war hier joggen. Er hat mit seinem Bruder Eugen für den Zugspitz Ultra Trail im Juni trainiert. Sie haben die Leiche hier unten liegen sehen. Waren beide total durch den Wind.« Wolfgang ging um den Toten herum.

»Und?«, fragte Wilde, hielt sich an Wolfgang fest und putzte mit einem Papiertaschentuch den Matsch vom linken Schuh.

»Wir haben den beiden ein Taxi bestellt und sie nach Hause geschickt. Sie kommen morgen aufs Revier«, sagte Wolfgang. Wilde nickte.

Der Pathologe Julius Burmeister, in einen weißen Ganzkörperanzug gekleidet, streifte gerade seine Kapuze ab und klappte einen silberfarbenen Metallkoffer zu. Wilde balancierte über die Steine, um näher an das Opfer heranzukommen.

Der Mann lag seltsam verkrümmt mitten im Bachbett. Wilde sah zunächst nur die nackten Füße, die unter einem Gewirr aus Balken und Bauschutt herausragten. Die Hosenbeine waren bis zu den Kniekehlen hochgeschoben.

Die Leiche lag auf dem Bauch, den Kopf nach links gewandt. Das Wasser des Baches suchte sich einen Weg zwischen dem Balkenchaos und abgerissenen Ästen. Wilde konnte erkennen, dass der Mann eine gelbe Regenjacke trug. Der Hinterkopf wies eine tiefe Wunde auf und die Haare waren vom Blut verklebt.

Das Gesicht lag im Wasser. Die Hände hatten sich in den schlammigen Boden gekrallt. Daneben lag eine schwarze Stretchtaschenlampe. Wie durch ein Wunder war sie unversehrt geblieben und leuchtete immer noch vor sich hin.

»Ist der vom Himmel gefallen?«, fragte Wotan Julius Burmeister. Beide sahen zur Burgruine hinauf. Bernadette stand auf der anderen Seite des Baches.

»Das glaube ich nicht!«, sie beugte sich über den Toten und versuchte, das Gesicht zu erkennen. Unter den dunklen Haaren sah man nur leichenblasse Haut. Wolfgang hockte auf einem Stein und starrte Burmeister erwartungsvoll an.

»Sturz aus großer Höhe.« Der Pathologe deutete zur Burgmauer empor, die teilweise von einem Baugerüst verdeckt wurde. »Todeszeitpunkt kann ich dank diesem kalten Rinnsal nicht genau sagen. Vielleicht so um Mitternacht. Todesursache, na ja, ihr seht ja die Mauersteine und massiven Balken. Die Wunde am Hinterkopf ist natürlich auch auffällig. Mehr nach der Obduktion. Dann frohes Schaffen, meine Herren! Die Dame!«

Er zog einen nicht vorhandenen Hut und bog vergnügt pfeifend in einen gepflasterten Weg mit gelber Beschilderung ein.

Wilde sah Julius erleichtert hinterher. Es gab also auch einen begehbaren Weg nach oben, der nicht nur für Bergziegen geeignet war. Ihm war klar, dass sie der Burg wohl oder übel einen Besuch abstatten mussten.

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22 декабря 2023
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9783839269985
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