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2. Der Einzug von Wotan Wilde

Schwer atmend, aber mit zufriedenem Gesichtsausdruck stieg Wotan Wilde vom Rad. Er trug eine rote Outdoorjacke über einem schwarzes Funktionshemd und schwarze Radlerhosen mit den drei Streifen auf der Seite.

Seine grünen Kniestrümpfe, die etwas altbacken wirkten, steckten in schwarzen Shimano Bikerschuhen. Der drahtige Mann lehnte sein Fahrrad gegen einen Laternenpfahl vor dem vierstöckigen blauen Gebäude Am Alten Güterbahnhof 17. Die schwarze Eingangstür stand offen und war mit einem Türkeil fixiert. Der Radfahrer nahm den neongelben Fahrradhelm ab und hängte ihn an den Lenker.

Ein böiger Windstoß traf ihn von hinten und ließ seinen schweißbedeckten Körper kurz erschaudern. Für Mai war es ungemütlich kalt, fuhr es ihm durch den Kopf.

In sieben Minuten war er von der Linsenbergstraße 45, seiner alten Wohnung, bis hierher zu seiner neuen Adresse in dem Mehrfamilienhaus geradelt. Das war sein persönlicher Rekord. Er lächelte zufrieden, für seine 46 Jahre war er immer noch ganz gut in Form.

Wotan Wilde fuhr kein E-Bike. Er setzte auf Muskelkraft und benutzte immer noch das alte Rennrad aus Studentenzeiten. Es war zwar schon etwas ramponiert, hatte ihn aber bis jetzt überall hingebracht.

Wilde blickte auf die letzte Strecke des Weges zurück, den er gerade gekommen war. Der Radweg führte an dem neuen Wohnviertel entlang, das in den letzten Jahren neben der Bahnlinie Tübingen-Stuttgart entstanden war. Er verschwand in der Unterführung der Blauen Brücke, die über die Bahngleise führte.

Auf der Brücke glaubte er den Umzugswagen mit der Aufschrift »Umzüge Federleicht – Ihr regionales Umzugsunternehmen in Tübingen« zu sehen. Er stand hinter einem Stadtbus im Stau. War das nicht Panagiotis Treggelidis, der Inhaber, mit seiner karierten Schirmmütze, der am Steuer saß?

Der Fuhrunternehmer mit griechischen Wurzeln sprach reinstes Schwäbisch und wurde von seinem Bruder Aristos Treggelidis und einem Studenten mit Dreadlocks unterstützt.

»Heilix Blechle, am 9. Mai wollet Se umziehe? Des isch aber scho in drei Wocha. Ob i da no a Terminle frei hab, wois i it. Warum habet Se si ned eher gmeldet?«, hatte der Umzugsunternehmer auf Wotans telefonische Anfrage gesagt.

Der hat guad schwätze, der Panagiotis Treggelidingsda, hatte Wilde damals leicht verzweifelt gedacht. Wie hätte er denn ahnen können, dass seine Angetraute, die liebe Siegrun, ihn einfach so verlassen würde.

Sie betrieb bei Instagram einen Reiseblog, während er sich die Nächte im Kommissariat um die Ohren schlug, und führte seiner Meinung nach ein ruhiges, sorgloses Leben.

Er konnte es noch immer nicht glauben. Der Schmerz saß tief. Ihre »Handgschabten« und den »Ofenschlupfer« würde er vermissen. Sie weniger, wie er sich nach kurzer Trauerphase eingestehen musste.

Siegrun wollte damals etwas Eigenes, etwas Schönes mit Stil, eine Eigentumswohnung. Das sei eine »sichere Geldanlage in Zeiten der Wohnungsnot und der steigenden Immobilienpreise in Tübingen«, betonte sie. Wotan unterschrieb schließlich mit ihr den Kaufvertrag für die Wohnung zwischen zwei Fällen im Kommissariat und ohne ihn richtig durchgelesen zu haben.

Während der zweijährigen Planungs- und Bauzeit für das Objekt Am Alten Güterbahnhof fand sie in dem Innenarchitekten Gunter Sprühnagel einen Berater und Seelenverwandten.

Hinter Wotans Rücken, wahrscheinlich in ihren unzähligen Meetings, waren sich die beiden nähergekommen und hatten ihre Auswanderung nach Südafrika geplant, um dort eine Lodge zu eröffnen. Seit wann wollte Sigrun nach Afrika? Davon hatte sie nie geredet. Er konnte das nicht nachvollziehen. Sollte er sich so in ihr getäuscht haben? Es war ihm schlichtweg schleierhaft.

Wotan hatte sich unwohl und deplatziert gefühlt, als ihn die beiden nach einer Baubesprechung vor vollendete Tatsachen stellten.

»Das wirst du doch sicher verstehen, Wotan! Aber so konnten wir nicht weitermachen. Du bist mit dem Kommissariat verheiratet. Da ist Gunter ganz anders. Der geht wenigstens auf mich ein!«, hatte Sigrun gesagt und Gunter hatte zustimmend genickt, der blöde Kerl. Er hätte ihn in diesem Moment umbringen können. Aber dann hätte er ja gegen sich ermitteln müssen, und das wollte er dann doch nicht. Erschöpft hatte er resigniert.

Die Möbel waren schon aufgeteilt und im Container verstaut und Siegrun war bis zum Abflug nach Johannesburg zu Gunter nach Bebenhausen gezogen.

Wilde war mit Leib und Seele Hauptkommissar bei der Mordkommission in Tübingen und versuchte, die knappe Personaldecke mit Überstunden auszugleichen.

Die Wohnungsplanung hatte er nur am Rande wahrgenommen, was sich im Nachhinein als Fehler herausgestellt hatte. Ihm hatte ihre gemütliche Dreizimmerwohnung im Altbau mit Blick auf den Österberg gereicht.

Die Schlüsselübergabe und Wohnungsabnahme der neuen Wohnung erledigte er mit Siegrun zusammen, da sie als Miteigentümerin eingetragen war.

Siegrun hastete an diesem Tag von einem Raum in den anderen. Sie wollte die Veranstaltung so schnell wie möglich hinter sich bringen.

»Reisende soll man nicht aufhalten.« Das waren seine letzten Worte gewesen, als die Tür hinter seiner Ex zufiel.

Dass die Kloschüsseln im Bad und im Gästeklo wegen Lieferengpässen fehlten, nahm er nur am Rand wahr. Bad- und Sanitärhändler Bernd Kümmerle würde auf jeden Fall bis zum Einzug liefern, wurde ihm versichert.

Als er mutterseelenallein in der leeren Wohnung stand, wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, ob seine Frau ein Umzugsunternehmen beauftragt hatte, geschweige denn, wer das sein konnte. Und sie zu fragen, dazu hatte er wirklich keine Lust mehr.

Am selben Abend öffnete er in seiner alten Wohnung die Flasche Barolo, die ihnen die Schwiegereltern, jetzt Ex-Schwiegereltern, zur Hochzeit geschenkt hatten, und goss sich ein Glas ein. Es sollte nicht bei einem Glas bleiben.

Dazu ließ er die Playlist aller alten Songs der »EAV«, der österreichischen Band »Erste Allgemeine Verunsicherung«, in Dauerschleife laufen. Er gehörte zur Fangemeinde der ersten Stunde und hatte sie schon mehrfach live gesehen.

So gerüstet, durchforstete er das Internet nach Umzugsunternehmen in Tübingen. »Umzüge Federleicht« fiel ihm ins Auge. Nomen est omen, dachte er, schon leicht angeheitert. Vor seinem geistigen Auge sah er Sofas, Stühle, Tische und Betten durch magische Kräfte leicht wie Federn in seine neue Wohnung im 4. Stock schweben. Die würde er anfragen!

Er wachte am nächsten Morgen mit einem dicken Kopf auf und rief trotzdem sofort bei der Firma an.

»Was wollet Se, Herr Wilde, Standard- oder Komfortumzug?«, hatte ihn der schwäbische Grieche bei einem Ortstermin zwei Tage später in seiner alten Wohnung gefragt. Dabei hielt er ein Klemmbrett mit einem Formular in der Hand, auf dem er sich Notizen machte.

Panagiotis glich mit seinem grau melierten Haar und dem dunklen Teint dem griechischen Reeder Aristoteles Onassis, bis er den Mund aufmachte und schwäbisch schwätzte. Vielleicht hörte Panagiotis die Panik in Wotan Wildes Stimme und hatte Mitleid oder er war geschmeichelt, weil ein echter Kommissar der Mordermittlung seine Firma ausgesucht hatte. Seine Visitenkarte hatte ihm Wotan gleich zu Anfang ihrer Begegnung in die Hand gedrückt. Wie auch immer.

Die Firma Federleicht schob den Miniumzug zwischen zwei größere Aufträge. Der Kostenvoranschlag inklusive vier Stunden Auf- und Abbau, Wegpauschale und Arbeitslohn betrug 1.200,00 Euro. Wotan war einverstanden. Man vereinbarte einen Termin am nächsten Mittwoch.

Wotan packte die Umzugskisten in schweißtreibender Nachtarbeit selbst und stapelte sie im Wohnzimmer. Jeder Karton war sorgfältig mit den neuen Zielräumen beschriftet. Auch auf den Möbeln klebte so ein knallgelbes Post-it. Es musste alles seine Ordnung haben, dachte er, als er sein Werk am Dienstagabend betrachtete.

Panagiotis, Aristos und ein Student mit Rastalocken namens Ben arbeiteten an jenem Mittwochvormittag organisiert Hand in Hand, während die ganze Zeit griechische Musik und deutsche Schlager aus einem uralten Kofferradio dudelten. »Weiße Rosen aus Athen«, dieser Ohrwurm hatte sich bei Wilde hartnäckig festgesetzt.

Die alte Wohnung war schneller leer als erwartet. Für den Nachmittag hatte er die Reinigungsfirma Tip-Top bestellt.

Dann war er mit dem Fahrrad vorausgefahren, um beim Einzug mitzuhelfen.

Wilde steckte das Kettenschloss durch die Speichen des Vorderrades, schlang den Rest um einen Laternenpfosten und ließ das Schloss einrasten. Er hob den Kopf und sah, dass sich die Autokolonne auf der Brücke in Bewegung setzte.

Skeptisch beobachtete Wotan Wilde die dunkle Wolkenfront, die vom Neckar herüberzog. Der Wind hatte aufgefrischt und im nächsten Augenblick setzte unvermittelt ein heftiger Hagelschauer ein.

Wilde tastete suchend nach der Kapuze an seiner roten Outdoorjacke. Er fühlte nur die Druckknöpfe am Kragen. Die Kapuze steckte abgezippt und trocken in seinem Rucksack. Und der war in irgendeinem Umzugskarton verpackt. Klasse! Eine Erkältung passte jetzt nicht in seinen Zeitplan.

Wilde zog den Kopf ein und den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn. Vergeblich, ein Schwung der kalten Eiskörnchen war schon in seinem Kragen gelandet und ließ ihn erschauern.

»Merde!«, fluchte er halblaut vor sich hin. Die Hagelkörner prasselten gegen seine nackten Knie. Als durchtrainierter Sportler trug er natürlich kurze Radlerhosen. Heute hatte er sich für Kniestrümpfe entschieden. Socken trug er sonst nur beruflich in den braunen Budapestern, den geflochtenen Halbschuhen.

»Herr Wilde, Sie können das Rad im Keller abstellen!«, hörte er jemanden hinter sich sagen. Ein kräftiger Mann in dunkelgrünem Overall stand vor der Haustür. Er hatte eine schwarze Wollmütze mit dem weißen Aufdruck »Shietwetter« tief ins Gesicht gezogen. Neben seinen klobigen Arbeitsschuhen stand ein Plastikeimer, aus dem mehrere Rollen Müllbeutel ragten. Das runde Gesicht war von Sommersprossen übersät, was dem Mann einen kindlichen Ausdruck verlieh. Wilde sprintete über den Fußweg zum Hauseingang.

In diesem Augenblick hörte der Hagelschauer schlagartig auf und zaghafte Sonnenstrahlen blinzelten aus den grauen Wolken. Er versuchte in den paar Sekunden, sich an den Namen dieses freundlichen Zeitgenossen zu erinnern. Er bildete sich viel auf sein Personengedächtnis ein.

Gesichter konnte er sich merken wie kein anderer in seinem Team. Aber bei Namen, da musste er sich Eselsbrücken bauen.

Das ging manchmal nach hinten los, wenn er den als Waldvogel abgespeicherten Herrn Adler Herr Sperling nannte und den als gekröntes Haupt Herrn König als Herr Kaiser ansprach.

Diese partielle Gedächtnisschwäche hatte er von seinem Vater Tristan Wilde geerbt. Der konnte damit umgehen, hatte er doch als Strafverteidiger stets die Akten mit den Namen der Prozessbeteiligten vor sich liegen.

Der Vorname Wotan war auf seinem Mist gewachsen. Seine Mutter wollte ihn Franz nennen. Sie war nicht wie ihr Mann der Wagnerschen Musik verfallen und bevorzugte eher die Komponisten Mozart und Lehár.

Der Spitzname »Wilder Wotan« war im Gymnasium entstanden und hielt sich hartnäckig über die Jahre hinweg. Ursache war die Sage und das Bild von Friedrich Wilhelm Heine »Wotans wilde Jagd«, das sie im Deutschunterricht bei Frau Professor Doktor Schönhaas lesen und interpretieren mussten.

Auch im Kommissariat wurde er hinter seinem Rücken so genannt. Das wusste er, seitdem er zufällig seine Assistentin Bernadette von Hohenstein und Oberkommissar Robert Altmann in der Kantine belauscht hatte. Wie der Name seinen Weg vom Gymnasium ins Kommissariat gefunden hatte, würde er auch noch einmal ermitteln. Das hatte er sich spaßeshalber vorgenommen.

»Den ›Wilden Wotan‹ sollten wir heute nicht ansprechen, der ist mit dem linken Fuß aufgestanden«, teilte Bernadette damals dem dicken Robert, dem Senior bei der Mordermittlung, am Salatbuffet mit. Der brummte wissend und lud sich eine Extraportion Kartoffelsalat auf den Teller. Wilde verfolgte den Gedanken nicht weiter. Er musste sich jetzt auf den Umzug und die neuen Mitbewohner konzentrieren.

Er wusste sicher, dass der Mann im Overall der Hausmeister und Ansprechpartner für kleinere Reparaturen war. Der war schon vor einem Monat im 3. Stock unter ihm eingezogen. Seine Frau, eine resolute Rothaarige, und die zwei halbwüchsigen Kinder hatte er schon einige Male im Treppenhaus getroffen.

Seine grauen Zellen ließen ihn auch diesmal im Stich.

So beschloss er, das Gespräch ohne persönliche Anrede zu beginnen und sich dann auf seine Erfahrung als Ermittler zu verlassen.

»Vielen Dank für den Hinweis! In den Keller stelle ich es später«, keuchte er. »Ich muss später noch mal los, die Pizzas bei ›Da Giovanni‹ abholen. Für die Umzugsleute, die von der Firma ›Federleicht‹.« Wenigstens hatte er den Namen des Umzugsunternehmens noch parat.

»Die Firma kenn ich, den Panagiotis und den Aristos Treggelidis, gutes Team. Da haben Sie sich aber heute schlechtes Wetter ausgesucht. Die Eisheiligen sind in diesem Jahr sehr pünktlich. Mamertus, Pankratius, Servatius, Bonifatius und die kalte Sophie machen ihrem Ruf alle Ehre«, sagte der Mann, ohne einmal zu stocken. Wilde erblasste innerlich vor Neid über so viel Gedächtnisleistung.

»Wenn Sie was brauchen, ich bin rund ums Haus beschäftigt. Ich geb Ihnen meine Karte, falls was sein sollte.« Er griff in seine Gesäßtasche und nahm aus dem Geldbeutel eine grüngestreifte Visitenkarte. Wie ein Ertrinkender griff Wilde nach dem Kärtchen.

»Holger Kostka, Gartenbautechnik«, las er laut. Darunter standen Telefonnummer und E-Mail-Adresse.

»An einer Webseite arbeitet meine Frau noch«, ergänzte Holger Kostka stolz.

»Na dann, Herr Kostka«, antwortete Wotan Wilde schnell, »vielen Dank und frohes Schaffen.«

»Ebenso!«, entgegnete der Gartenbautechniker, tippte an einen imaginären Hutrand und verschwand mit seinem Eimer im Flur.

Wotan zögerte einen Augenblick, war aber dann zu träge, um die Visitenkarte sorgfältig im Geldbeutel zu verstauen. Er öffnete nur den Reißverschluss der Seitentasche seiner Jacke und ließ sie neben sein Smartphone und den Schlüsselbund gleiten.

»Wie soll ich mir nur diesen Namen merken?« Wilde fiel beim besten Willen keine Eselsbrücke dazu ein.

Der Umzugswagen beanspruchte jetzt seine Hauptaufmerksamkeit. Gerade bog er in die noch unbefestigte Straße am Alten Güterbahnhof ein und rumpelte durch die Pfützen.

»Kiri, Kiri, komm her!«, rief eine schrille Stimme im Treppenhaus. Ein braun-weiß gefleckter Hund galoppierte an Wilde vorbei. Er hielt auf den Laternenpfahl zu, hob sein Beinchen und pinkelte in hohem Strahl gegen den Pfahl. Der Hinterreifen von Wotans Rad bekam auch eine Dusche ab.

Der Hund, ein Jack Russell-Mischling, scharrte mit beiden Hinterbeinen, wie es sich für einen anständigen Köter gehörte. Er drehte sich um und stolzierte gelangweilt den Gehweg entlang.

Dann entdeckte er Wotan Wilde und seine bestrumpften Waden. Freudig mit dem Schwanz wedelnd, lief er auf ihn zu und begann, an seinen Beinen zu schnüffeln. Wilde zuckte vor der kalten Schnauze zurück.

»Aus, Kiri! Hierher, Kiri!« Eine hochgewachsene junge Frau in rotgepunkteter Regenjacke und ebensolchen Gummistiefeln trat aus der Tür. Sie hielt eine Leine in der Hand und schob mit der anderen die Träger eines Rucksacks auf den Rücken.

»Kiri liebt Männer im Radlerdress«, wandte sie sich entschuldigend an Wilde.

»Sein früheres Herrchen war Rennradfahrer, aber dann … das Herz … Wir haben Kiri aus dem Tierheim geholt«, erklärte sie. Wilde nickte und wischte sich den Sabber vom Knie. Eigentlich interessierte ihn das gar nicht.

»Tütüt!«, ertönte es gleich darauf hinter ihm. Geistesgegenwärtig trat Wotan einen Schritt beiseite, um nicht von einem Bobbycar samt Anhänger überfahren zu werden. Der Knirps am Lenkrad hatte eine etwas zu große gelbe Regenjacke an. Von den Gummistiefeln grinsten Minimonster. Er trug eine Papierkrone, hatte einen Schnuller und eine Schniefnase und lenkte das Gefährt mit aller Kraft auf den Gehweg.

»Nur bis zur Kurve, dann anhalten, Joel!«, rief die Frau und schob sich die verstrubbelten schulterlangen Haare aus der Stirn. Sie bückte sich und legte dem nun lammfrommen Kiri die Leine an.

»Mama, Mama! Warte doch! Ich will auch mit!«, beschwerte sich ein kleiner Junge, der jetzt im Hausflur auftauchte. Wotan kannte sich mit Kindern nicht so genau aus, aber er schätzte ihn auf Kindergartenalter. Der Zwerg blieb stehen, öffnete den Reißverschluss eines grünen Geldbeutels und schüttete Münzen in seine Hand.

»Jetzt komm schon, Fynn!«, mahnte die Frau ungeduldig, »du darfst dir nachher im Laden eine Brezel kaufen.«

»Lieber eine Süßigkeit, Mama, das ist doch mein Geld«, maulte der blonde Junge.

Dann stampfte er auf, dass die Blinklichter an seinen Stiefeln mit Drachenmotiv rot blinkten.

»Schau mal, ich kann Feuer speien!«, erklärte er Wotan mit einem treuherzigen Blick. Seine Mama wandte sich Wotan zu.

»Hallo, guten Morgen. Ich bin Emily McScott. Wir wohnen seit gestern im Erdgeschoss. Ist alles noch etwas chaotisch«, erklärte sie, lächelte schief und hielt ihm die Hand zur Begrüßung hin. Wotan Wilde setzte ebenfalls zur Begrüßung an.

Bevor er aber ihre Hand nehmen konnte, rief sie erschrocken: »Halt, Joel, nicht auf die Straße!« Die Kuscheltiere im Anhänger purzelten durcheinander, als der Knirps sein Gefährt gefährlich nahe an den Bordstein lenkte.

Mittlerweile hatte der Umzugswagen das Haus Nummer 17 erreicht und bremste. Der Lastwagen kam direkt neben dem kleinen Rennfahrer zum Stehen.

Der erschrak und stimmte ein lautes Geheul an. Er krabbelte vom Bobbycar und rannte zu seiner Mutter. Er umschlang ihre Knie, drückte sein Gesicht gegen den Regenmantel und brüllte weiter. Wotan Wilde zuckte zusammen. Dass ein so kleiner Wicht so laut brüllen konnte, hätte er nicht für möglich gehalten. Nach einigen Streicheleinheiten seiner Mutter und Trost-Gummibärchen beruhigte sich der Minikönig wieder.

Frau McScott lenkte das Bobbycar nebst Anhänger unter die Briefkästen im Flur und stellte es dort ab.

»Das bleibt erst mal hier!«, sagte sie zu seinem Lenker, der diese Tatsache wieder mit Geschrei beantwortete. Frau McScott verabschiedete sich von Wilde mit einem kleinen Lächeln. Dann marschierte die kleine Truppe den Weg entlang und bog am Café »Zur Dampflok« links ab.

»McScott«, dachte Wotan, den Namen konnte er sich gut merken. Von einer gleichnamigen Firma gab es hervorragende Radlerschuhe.

Inzwischen waren neue dunkle Wolken über den Neckar herangezogen. Ein Regenschauer ging nieder.

Warum die Tür so schwarz sein musste wie der Eingang zur Unterwelt, würde er nie begreifen. Aber das korrespondierte ja prima mit den dunkelgrauen Wänden im Treppenhaus. Für das Treppengeländer hatte der Architekt Ewald Fürchtenschied ein optimistisches Steingrau gewählt.

Wilde blieb im Vorraum stehen. Draußen goss es in Strömen. Die Scheibenwischer am Umzugsauto arbeiteten auf Hochtouren.

Panagiotis bedeutete Wilde durch Handzeichen, dass sie den Wagen wenden würden, um so besser ausladen zu können. Er paffte eine imaginäre Zigarette und wollte Wilde so vermitteln, dass er wohl noch schnell eine rauchen wollte. Sollte er tun! Bis sich das Unwetter gelegt hatte, konnte er das Auto sowieso nicht verlassen. Wilde nickte. Die Gebrüder Treggelidis steckten sich Zigaretten an. Der Rastaman starrte aufs Display seines Smartphones.

So ein Zigarettchen hätte Wilde jetzt auch gutgetan.

Er schnupperte nach dem schwachen Rüchlein, das aus dem Spalt des geöffneten Autofensters herüberzog. Die letzte Fluppe hatte er vor zehn Jahren nach der Beerdigung seines Vaters ausgedrückt. Einen zweiten Lungenkrebs in der Familie wollte er seiner Mutter nicht zumuten.

Wotan kramte in der Jackentasche. Er entdeckte ein Salbeibonbon, wickelte es aus dem silbernen Papier und lutschte gierig. Sein Magen meldete sich grollend. Pizza würde es erst später geben, wenn sie fertig waren.

Er drehte sich um und studierte die Namensschilder auf den hellgrauen Briefkästen, die nebeneinander an die Wand geschraubt waren.

»John, Emily, Fynn, Joel, Hedda McScott«, stand in zierlichen Druckbuchstaben auf dem Schild des Briefkastens ganz links. Darunter prangten die schief aufgeklebten Sticker eines neonfarbenen Dinosaurus Rex, eines Benjamin-Blümchen-Elefanten mit Hut und eines rosa Einhorns.

»T. Trost / airbnb«, las er die fetten Druckbuchstaben auf dem nächsten Schild. Wilde rümpfte die Nase. Von dieser Nachbarschaft war er nicht begeistert. Er hatte da schon zu viel von randalierenden und laut feiernden Touristen gelesen.

»Saskia Klaschke«, entzifferte er die verschnörkelten Lettern auf einem pergamentartigen Papier im Schilderhalter daneben. Die Buchstaben waren so ineinander verschlungen, dass Wilde Mühe hatte, sie zu lesen. Die Dame hatte er noch nicht kennengelernt.

»Rowena und Holger Kostka (Gartengestaltung)«, stand auf dem grüngestreiften Papier. Die Kostkas hatten einfach ihre Visitenkarte gefaltet und hinter das Plexiglas des Namensschildes geschoben.

Der nächste Briefkasten war unbeschriftet. Es dauerte einen kurzen Moment, bis Wilde realisierte, dass da sein eigener Name fehlte.

Etwas verwirrt beschloss er, es den Kostkas gleichzutun. Er holte eine Visitenkarte aus dem Geldbeutel, knickte den Zusatz »Hauptkommissar« ab und schob das Kärtchen hinter das Glas. Schön sah es nicht aus, aber fürs Erste würde es genügen.

»Ambrosius Ackermann«, stand auf dem letzten Namensschild, in fetten Goldlettern auf schwarzes Papier gedruckt. Wotan kam sich plötzlich klein und schäbig vor. Das schien ein Mann mit großem Ego zu sein.

»Chef, wir könnten jetzt loslegen.« Die Treggelidis Brüder standen, mit dunkelgrauen Arbeitsmänteln bekleidet, im Flur.

Wilde warf einen Blick ins Freie. Es regnete nicht mehr und die Sonne probierte es wieder mit einigen freundlichen Sonnenstrahlen. Ben, der Rastaman, trug ein rotes T-Shirt über den Jeans. Er hatte sich zwei lange Pakete unter die Arme geklemmt und versuchte, auf den Knopf am Aufzug zu drücken.

»Bitte vorsichtig mit meinen Unikaten!«, ermahnte Wilde ängstlich. Er nahm ihm die beiden Stücke ab und betrat damit die Aufzugkabine. Die Wände waren für die Dauer der Einzüge mit braunem Packpapier abgeklebt worden. Wilde überlegte für einen kurzen Moment, welche Farbe die Kabinenwände darunter wohl hatten. Er wünschte sich jetzt einfach mal ein kräftiges Orange.

Frohsinn verbreitet der Eingangsbereich nicht gerade, dachte Wilde.

Die Brüder Treggelidis schoben jetzt die ersten Umzugskisten auf Rollwagen in den Lift und stiegen dann zu.

Nach drei Stunden Schlepparbeit lagen im Laderaum des Transporters nur noch Packdecken und Transportriemen.

Die Treggelidis Brüder standen auf der Terrasse im vierten Stock und rauchten eine Abschlusszigarette.

Die hatten sie sich verdient. Der Schlafzimmerschrank, die Regale im Wohnzimmer und die Garderobe waren aufgebaut. Sie hatten den massiven Eichentisch für die Küche durchs Treppenhaus gehievt. Der wuchtige Lehnsessel war nicht zerlegbar gewesen und musste in Millimeterarbeit auf demselben Weg nach oben.

Jetzt herrschte in der Wohnung ein großes Durcheinander. Obwohl er alles beschriftet hatte, schienen sich die Leute der Umzugsfirma nur bedingt daran gehalten zu haben und hatten die Kisten irgendwohin gestellt.

Die Wohnung war geräumig und sehr schön aufgeteilt. Obwohl er nie Zeit gehabt hatte, sich um das Wohnungsprojekt zu kümmern, gefiel sie ihm. Gleich an die Eingangstür schloss sich ein geräumiger Flur an. Von dort ging es rechts ins Schlafzimmer, das auch Zugang zum Balkon hatte. Eine weitere Tür links führte ins Bad mit Tageslicht. Daneben lag das Gästeklo und gegenüber die Tür zu seinem geplanten Arbeitszimmer.

Dann öffnete sich der Flur in den großen Raum, das kombinierte Wohnzimmer mit der Küche. Vor der Einbauküche stand sein Eichentisch mit acht Stühlen und die weiße Couch an der Wand. Die raumhohe Fensterfront gab den Blick auf den Balkon und auf das Nachbarhaus frei. Dort waren alle Rollos geschlossen.

Auf dem aufblasbaren Gästebett im Schlafzimmer, Siegrun hatte das Boxspringbett mitgenommen, lagen Berge von Kissen und Decken, Stühle waren übereinandergestapelt, Teppichrollen und mehrere lange Kartons waren gegen die Wand gelehnt und überall standen Umzugskisten.

Ben saß auf einem der Eichenstühle am Tisch und hatte den Essbereich in Besitz genommen. Vor ihm standen vier Flaschen Tannenzäpfle, die er gerade aus dem Kasten neben dem Kühlschrank geholt hatte. An Getränke hatte Wotan gedacht und auch noch einen Kasten Mineralwasser am Tag vor dem Umzug besorgt.

Ben strich sich mit dem Handrücken die Locken aus dem Gesicht. Dann zog er einen Zollstock aus der Hosentasche. Routiniert öffnete er mit vierfachem Plopp die Kronkorken.

Jetzt gab es erst mal die Pizzen, die man essen sollte, solange sie nicht völlig ausgekühlt waren.

Wilde stapelte die Kartons der Pizzeria »Da Giovanni« auf den Küchentisch. Gerade war er von dort zurückgekehrt. Ein Regenschauer hatte ihn erwischt, als er die Bestellung abholte.

»Nach 15.00 Uhr keine Lieferungen mehr, nur noch Selbstabholung!«, hatte ihn Giovanni aufgeklärt. Manchmal wäre so ein Auto schon praktisch, hatte Wotan gedacht. Aber er war bekennender Radfahrer.

Den grasgrünen Fiat Punto fuhr nur seine Frau beziehungsweise ehemalige Frau. Ob sie den Wagen wohl im Container nach Südafrika schippern ließ? Eigentlich war ihm das total egal. Den Tiefgaragenstellplatz in seinem neuen Wohnhaus würde er vermieten.

Der Kommissar rubbelte sich seine Haare mit einem Geschirrtuch trocken, das er wie durch ein Wunder zuoberst in einem Umzugskarton gefunden hatte.

»Chef, das Ding schließt aber nicht richtig«, bemerkte Aristos. Panagiotis und er hatten die Zigarettenpause auf dem Balkon beendet und machten sich an der raumhohen Drehkipptür zu schaffen.

Ächzend ließ Wotan sich auf einem Stuhl nieder und öffnete den obersten Pizzakarton. Wilde fühlte sich für einen Augenblick sehr erschöpft. So ein Umzugstag war anstrengend. Er fühlte ein Kribbeln in der Nase. Hoffentlich hatte er sich keine Erkältung geholt.

Genüsslich sog er den kräftigen Käsegeruch der Pizza Quattro Formaggio ein. Sein Magen knurrte wie der eines hungrigen Löwen.

Wilde nahm ein Stück, biss hinein, kaute mit geschlossenen Augen, genoss den Geschmack der italienischen Kräuter in der Tomatensoße. Er schluckte und biss wieder mit Heißhunger in das Pizzastück.

»Steht ganz oben auf der Mängelliste!«, antwortete Wilde undeutlich und wäre fast an einem Champignon erstickt. Er würgte und hustete. Ben reichte ihm eine Serviette.

Die Brüder schoben Kissen und Decken beiseite und setzten sich auf die verbliebenen Stühle an den Eichentisch. Ben reichte ihnen je ein Bier. Die vier Männer prosteten sich zu und jeder tat einen tiefen Schluck.

Kurze Zeit später saßen sie einträchtig kauend neben den Umzugskartons im Chaos.

»Chef, was ist eigentlich in den heiligen Kisten, die da an der Wand lehnen?«, wollte Ben wissen, nachdem er die Hälfte einer Pizza mit Meeresfrüchten verspeist hatte.

Wotan Wildes Augen begannen zu leuchten. Er erhob sich ganz langsam, fast feierlich. Die drei Männer beobachteten ihn erwartungsvoll.

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22 декабря 2023
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314 стр. 7 иллюстраций
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9783839269985
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