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Blick im Regen nach Köln

Der Regen hörte nicht auf. Nie mehr, dachte Kommissar Michael Fett. Seit Ende Januar regnete es täglich. Der Himmel war grau. 50 Arten von Grau. Tiefes Grau, dunkles Grau, helles Grau. Grau mit Streifen und ohne. Graue Wolkengebirge zogen von Westen heran. Man sollte in Aktien von Regenschirmfabrikanten investieren, dachte Fett.

In Aachen regnete es oft, aber wenig. Den Spruch des Meteorologen von der RWTH Aachen kannte sogar der alte Inhaber des Schuhgeschäftes am Theaterplatz. Fett kaufte dort seine Schuhe mit Gummisohle. Rutschfest. Der Inhaber hinkte aus dem Hintergrund des Geschäftes in den Verkaufsraum. Beredt erklärte er den Stammkundinnen, die um einen Preisnachlass baten, dass er nichts an den Schuhen verdiene, ja quasi Geld drauflege. Im Grunde sei er ein selbstloser Diener am Fuße der Menschheit, ein armer Geschäftsmann, der gerade eben sein täglich Brot erwirtschafte. Als die Kundin erneut nach einem Rabatt fragte, konterte er mit seiner Standardantwort im Aachener Singsang: »Oes, es dat nett ejen Stadt en Marokko. Janz jewiss.« Das Thema erledigte sich damit von selbst.

Die aparte Verkäuferin, ob sie quasi ohne Lohn ihren Dienst verrichtete, blieb unbekannt, half Fett in den Schuh, lobte seinen Geschmack und bemerkte, dass der rechte Fuß größer sei als der linke. Zum Glück nicht umgekehrt, sagte Fett. Sonst sei er ja der Teufel aus Aachen. König Hinkefuß mit Schwefelgeruch. Er tätigte den Kaufakt ohne Anfrage um einen Preisnachlass. Er hatte alle Argumente dagegen mitgehört.

Es regnete in einem fort. Die neuen Schuhe trug er in einer Tüte, zehn Cent wegen der Umwelt. Fast wäre er am Dom zwischen den massiven Steinpollern ausgerutscht. Mitten auf den AIDS-Toten, ging ihm durch den Kopf. Nicht auf Gräbern, sondern auf Namen. In die Pflastersteine waren die Namen von AIDS-Toten eingemeißelt. Wieso, fragte er sich. Warum nicht die Namen von Bergleuten, die an Staublunge elend gestorben waren? Oder von krebskranken Kindern? Ungleiche Tote? War der AIDS-Tod denkmalgeschützt? Er stand im Regen und schaute auf die Namen in den Steinen. Er ärgerte sich über diese Klassifizierung des Todes. Junge Kollegen waren im Einsatz gestorben. Nicht mal im Präsidium eine Gedenkplakette. Aber Stolpersteine für AIDS-Tote. Was war so ehrenvoll an diesem Tod, dass die Opfer nun in Stein gemeißelt hier verewigt wurden? Sein Unverständnis wuchs, der Regen prasselte heftiger.

Mit nassen Füßen machte er sich auf den Weg zu seiner Wohnung am Templergraben. Meditatives Schuhputzen stand auf dem Programm. Die Anleitungen zum richtigen Putzen füllten ganze Webseiten. Schuhfetischisten tummelten sich darauf. Er betrat den Hausflur. Frau Kleinjohann, seine alte Nachbarin, hatte er seit Tagen nicht mehr gesehen. Er klingelte bei ihr.

»Alles in Ordnung, Frau Kleinjohann? Habe Sie lange nicht gesehen.«

»Ach, Herr Fett. Danke. Bei dem Wetter kann doch kein Mensch vor die Tür. Möchten Sie einen Kaffee?«

»Nett von Ihnen. Muss gleich wieder raus. Danke. Ein anderes Mal.«

Sie lebte. Alleine sterben die alten Menschen. Frau Kleinjohann hatte keine Angehörigen. Wer würde sie begraben, sie, die Krieg und Wiederaufbau mitgemacht hatte. Arbeiterin in der Nadelfabrik. Kein Gedenkstein am Dom. Tod durch Altersschwäche, dafür gab es kein Ehrenmal.

Freitagnachmittag. Schuhe gekauft. Cappuccino im Café zum Mohren. Heute Abend »Three Billboards outside Ebbing, Missouri« mit Iska im Programmkino. Im Grunde alles in Ordnung. Fast.

Vorbereitung auf Kurdendemo in Köln. SEK Bonn in Bereitschaft. Schwere Ausschreitungen möglich. Die Absage von Iska, Leiterin des SEK Bonn, kam wie so oft, wenn sie verabredet waren. Die Zahl der Überstunden wuchs ins Unendliche. Reichsbürger, Linksautonome, sogenannte Aktivisten in Hambach, kriminelle Flüchtlinge, darunter Folterknechte verschiedener Regime. Ihm war die Lust vergangen. Spaghetti Bolo, ein Krimi von Takis Würger und danach Aspekte im ZDF. Sein Abendprogramm stand. Oder doch ein rascher Kontrollgang durch die Innenstadt? Besuch bei seinen griechischen Freunden. Es regnete ununterbrochen. Fett blieb zu Hause.

Samstagmorgen. Er las im Feuilleton der ZEIT über die Angriffe auf das Café Mohrenkopf in Ingolstadt. Absurde Vorwürfe. Sprachpolizei, dachte Fett. Danach die Lokalzeitung. Eine Professorin der Aachener Uni sollte entlassen werden, weil sie sich weigerte, in ihren Schriften korrekt zu gendern. Ihre Texte seien mittlerweile ein Zehntel länger und unlesbar, wenn sie jedes »Bürger und Bürgerinnen« einfüge, beklagte sich die Betroffene. Wo lebte er eigentlich? Ein Land im Dauererregungszustand. Er blätterte weiter. Keine Fortschritte im Fall des unbekannten Toten in Köln. Na, da hat Theresa ein Problem, dachte Fett, und fast konnte man meinen, er seufze ein wenig. Er kannte Kommissarin Theresa Rosenthal gut aus dem Verhülsten-Fall. Aachener Verleger, der tot in einer Pferdebox auf der Kölner Rennbahn gefunden wurde. Städteübergreifende Ermittlungen. Sie waren sich nähergekommen. Beidseitig. Er blickte suchend aus seinem Küchenfenster in Richtung Köln. Theresa, sie hatte sich lange nicht gemeldet. Abstand halten. Wie beim Autofahren. Sicherheitsabstand.

Vergangenheit, die nicht vergeht

Monika Münzer saß an ihrem Schreibtisch mit Blick auf die gegenüberliegenden Häuser in der Schillerstraße. Sie hatte Glück gehabt, eine Wohnung in Bayenthal zu finden, ein Eckhaus, ehemals für eine Familie gebaut. Die betagte Besitzerin hatte ihr die zwei oberen Etagen zu einem annehmbaren Preis überlassen. Die Mieten in der Gegend waren in letzter Zeit explodiert, aber Frau Schänzel ging auf die 85 zu und hatte eine zuverlässige, sympathische und hilfsbereite Mitbewohnerin gesucht. Das war Monika Münzer. Sie liebte diese Gegend. Alles fußläufig erreichbar. Aldi, Rewe, Penny, alles um die Ecke. Ihr täglicher Einkauf garantierte Frische und passte problemlos ins Fahrradkörbchen, selbst wenn sie Gäste mit ihrem beliebten Ratatouille an Roastbeef bewirtete. Milch, Butter und Schinken für Frau Schänzel fanden auch noch Platz im Einkaufskorb.

Monika nahm einen Schluck von ihrer frisch gebrühten Latte Macchiato und checkte am Samstagmorgen die Online-Medien: Welt, Spiegel, FAZ – Thema Flüchtlinge, Merkel, wie immer auf Tauchstation; Trump, der Bösewicht; Macron, der Hoffnungsträger. Ferienbilder von Macrons Frau Brigitte an der Cote d’Azur. Motsi Mabuse bekommt ein Kind. Who the hell war Motsi Mabuse? Miss Tagesschau frisch verliebt und irgendwas mit Dieter Bohlen, lebte der überhaupt noch? Bild textete: »Machte Hollywood-Star extra ins Bett? Sie sagt, es war der Hund.« Was für eine Schlagzeile! Mit was für Zeug dröhnten sich die Leute bloß zu? Irgendetwas war in den letzten Jahren geschehen. Das Niveau der Berichterstattung sackte auf der nach unten offenen Skala stetig ab. Danach Kölner Stadtanzeiger, mal gucken, was so los war in ihrer Jeckenstadt. Das Abonnement hatte sie vor Jahren gekündigt. Sie hatte von gutem Journalismus eine andere Vorstellung. Monika Münzer selbst recherchierte akribisch, sauber. Ohne abgesicherte Fakten gab es keine Veröffentlichung. Beim WDR hatte sie gekündigt, mit Verzicht auf eine beamtenartige Lebensstellung mit Pensionsansprüchen. Sie konnte diesen Gesinnungs- und Haltungsjournalismus nicht mehr guten Gewissens vertreten. Besser gesagt – er kotzte sie an. Zuletzt waren ihre Beiträge immer häufiger zensiert oder nicht gesendet worden mit meist fadenscheinigen Argumenten. Keine Karriere ohne eine gewisse Haltung zu Themen. Nun arbeitete sie als Freie. Die Aufgabe eines Journalisten – so wie sie es sah – bestand darin, neugierig zu sein, die Fenster nach allen Seiten zu öffnen, Informationen zu beschaffen, die Leser mit Fakten zu versorgen, ohne eine vorgefasste eigene Meinung zu verwursten. Wie eine Krake hatte der Gesinnungsjournalismus sich im Lande ausgebreitet. Es gab eine Art stillen Konsens zu gewissen Themen, eine Übereinstimmung, was gerade noch politisch korrekt war, und einen Shitstorm, sobald man bestimmte Themen hinterfragte. Migration, Umwelt, Gendergedöns, Ehe für alle, künstliche Befruchtung für alle, Organe für alle, Me-too-Hype. Als aber der Redaktionsleiter beim WDR ihr unter den Rock griff, verlief ihre Beschwerde im Sand. Ein verdienter SPD-Genosse, der Herr Redakteur, mit guten Kontakten in die Parteizentrale. So einer bekam keine Abmahnung.

Als Buße hatte er einen Sonderbericht in Sachen Frauenbewegung ins Programm genommen. »Frauenbewegungen – haha«, witzelten die männlichen Kollegen. »Frauenbewegungen – dagegen haben wir doch nichts.« Blinzeln mit schmierigem Grinsen gewürzt. Idioten.

Egal. Mit solchem Kinderkram verschwendete sie ihre Zeit nicht. Sie kam zurecht mit den Chauvis. Weniger mit der Meinungsdiktatur, der sich die meisten ihrer Journalistenkollegen unterwarfen, um nicht in die rechte Schmuddelecke verbannt zu werden. Münzer hielt die Selbstzensur für gefährlich. Wo endete das? Im Totalitarismus.

Sie hatte versucht, den Dauererregungszustand wegzumeditieren, aber der Ärger kam beim Nachrichten lesen immer wieder mal hoch. Im Kölner Stadtanzeiger stieß sie auf den Bericht über einen Todesfall in der Nacht vom Freitag auf Samstag, ein unbekannter Toter. Täter ebenfalls unbekannt – flüchtig. Der Fundort irritierte sie. Friedrich-Schmidt-Straße, Ecke Vincenz-Statz-Straße. Monika Münzer wusste alles, was am 5. September 1977 dort passiert war, jedes zugängliche Detail, obwohl sie zu dem Zeitpunkt ein Kind war, als Hanns Martin Schleyer an genau dieser Stelle von Mitgliedern der RAF entführt wurde.

Sie blickte auf die Pinnwand in ihrem Arbeitszimmer. Dort hingen die Fahndungsplakate: RAF-Täter der ersten Generation, RAF-Täter der zweiten Generation. Und teils gesuchte RAF-Mitglieder der dritten Generation, einige nicht identifiziert. Ein Mitglied der Gruppe hatte Monika Münzer aufgespürt, in akribischer Kleinarbeit, jahrelangen Recherchen und mit Unterstützung eines Spezialisten.

Wer war der Tote am Stadtwald? Sie las. Keine Angaben über die Identität des Ermordeten. Münzer griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer von Müller. Es meldete sich der Anrufbeantworter: Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht. Monika Münzer überlegte einen Moment, ob sie auflegen sollte, später wieder versuchen. Sie entschied sich für eine kurze Bitte um Rückruf. Für ihr robustes Aussehen hatte Monika Münzer eine überraschend zarte Stimme, fast einschmeichelnd, einnehmend und eindringlich in ihrer sanften Art, mit der sie Menschen zu den erstaunlichsten Dingen überreden konnte.

Monika Münzer griff in ihr schulterlanges blondes Haar, drehte die widerspenstigen Locken zu einem Zopf zusammen und steckte ihn hoch, eine Geste, die sie immer dann gedankenverloren wiederholte, wenn sie nervös war. Sie widerstand dem Impuls, ins Auto zu steigen, um zur Friedrich-Schmidt-Straße zu fahren, eine Strecke von 15 Minuten. No big deal, dachte sie, kurz mal schauen. Stattdessen hockte sie sich auf ihr Sofa, zog die Beine ganz nah an ihren Körper heran und wickelte sich den flauschigen Bademantel eng um den frierenden Leib, sodass sie zu einer kleinen Kugel zusammenschrumpfte. Wie damals.

Zwei Stunden später rief Müller zurück.

»Ich will nur wissen, ob du etwas damit zu tun hast?«, fragte Monika Münzer.

»Er lebte, als ich ihn verließ«, sagte Müller wahrheitsgemäß.

Mehr wollte sie nicht wissen.

Ein Kollege

Theresa Rosenthal und ihr Team steckten weiterhin fest im Fall des unbekannten Toten. Wie hieß es so schön: Recherchen in alle Richtungen. Endeten alle in Sackgassen. Sie überlegte, ihren Aachener Kollegen Michael Fett anzurufen. Michel – französisch ausgesprochen – nannte sie ihn seit einer gemeinsamen Untersuchung in Lüttich. Es tat gut, mit einem klugen Kollegen zu sprechen. Grund genug gab es, denn das Fahrzeug, in dem das Opfer lag, hatte ein belgisches Kennzeichen. Fett war oft grenzübergreifend tätig, hatte gute Kontakte zu belgischen Kollegen. Warum hatte sie ihn nicht früher angerufen? Theresa seufzte. Keine einfache Geschichte – sie und Fett. Lüttich. War ein paar Monate her. Sie hatten nicht nur ermittelt. Ein schöner Abend. Fett kannte sich aus in Lüttich. Abendessen in einem algerischen Restaurant. Wie hieß es gleich? Chez Rabah? Danach ins »Les Olivettes«, eine Bar chantant. Klavierspiel, alte französische Chansons, die Gäste sangen mit und danach. Hotel. Eine Nacht mit Michel. Peinlich? Nein, es war eine schöne – Theresa stockte. Doch, schöne Nacht, nur. Theresa lebte in dritter Ehe. Mit Georg. Drei Ehen sind genug, dachte sie, und Fett ist nicht der Mann für Spielchen. Sie hatte plötzlich große Lust, seine Stimme zu hören, seine klugen Gedanken, seine Sicht der Dinge. Die ganz eigene Sicht eines Eigenbrötlers. Ein berufliches Telefonat, redete sie sich ein und griff zum Hörer.

»Fett.«

Als seine Stimme durch den Apparat drang, war Auflegen der erste Impuls. Sie antwortete nicht sofort, wartete einen Moment zu lange, bis er erneut seinen Namen nannte und sie in gezwungen lockerem Ton sagte:

»Hallo, ich hörte nicht, wollte gerade auflegen. Hier ist Theresa.«

Sie war froh, dass ihr Kollege Marco Bär sich nicht in der Nähe aufhielt. Sein unverschämtes Grinsen hätte sie nicht ertragen. Bär war in mancher Hinsicht ein Kind, hatte aber ein feines Gespür für Stimmungen. Ihren gekünstelt heiteren Tonfall im Gespräch mit Fett hätte der Junge mit Spott quittiert.

»Theresa, welche Theresa?«, hörte sie Fett.

»Rosenthal«, antwortete sie verwirrt und wusste gleichzeitig, dass er sie auf den Arm nahm. Kleine Rache.

»Ah, Theresa, die schöne Vergessliche.«

»Michel«, stotterte sie. »Ich rufe dich an, also wegen …«

»Du willst sicher hören, wie es mir geht«, half Fett ihr.

»Ja, selbstverständlich, das vor allem.«

»Mal abgesehen davon, dass ich seit Monaten auf diese Nachfrage warte, doch ja, davon abgesehen geht es mir gut.« Fett lachte, was der Anklage die Härte nahm.

»Michel, du weißt …«

»Schön, wie du das sagst, Michel, habe ich vermisst. Und du?«

»Das Übliche. Es wird in Köln weiterhin gemordet. Und bei euch?« Sie war froh, dass sie sich ins Berufliche retten konnte.

»Ich hatte gerade einen Toten an einer Brücke hängen«, berichtete Fett. »Große Nummer bei uns in Aachen. Baulöwe.«

»Victor Neels oder so, nicht wahr?«

»Die Brücke, an der er hing, hieß Victor-Neels-Brücke«, erklärte Fett. »Neels war zehn Jahre lang Kommandant der belgischen Streitkräfte im Camp Vogelsang und bemühte sich in der Zeit um eine Annäherung an die lokale Bevölkerung. Ihm zu Ehren wurde die Brücke auf den Namen Victor Neels getauft. Hast du Lust auf eine Tatortbesichtigung? Ein schöner Ausflug in die Eifel. Wanderung um den Urftsee, Kaffee trinken bei Bernd Hilger auf der Staumauer. Grandioser Blick.«

»Hat Hilger zufällig auch ein paar Hotelzimmer?« Theresa war froh, dass sie zu einem lockeren Umgangston fanden. Ohne auf Fetts Antwort zu warten, fragte sie: »Habt ihr den Fall aufgeklärt?«

»Nein. Und ihr? Was ist mit dem unbekannten Toten am Stadtwald. Kommt ihr weiter?«

»Nein, Michel. Deshalb rufe ich an.«

»Ah, deshalb.« Seine Stimme klang enttäuscht. Sie widerstand der Versuchung, ihm etwas Tröstendes zu sagen.

»Du bist über den Fall informiert?«, fragte sie stattdessen.

»Ich weiß alles, was in der Zeitung stand.«

»Das ist auch fast alles, was wir wissen. Ungefähr alles. Es wird niemand vermisst, auf den die Beschreibung des Opfers passt. Die Spur nach Belgien verläuft im Nichts. Der Fundort gibt Anlass zu Spekulationen, aber …«

Sie war ratlos. Fett hörte das. Er wollte ihr gern helfen, etwas Kluges beitragen. Es fiel ihm nichts Kluges ein.

»Geht ihr an die Öffentlichkeit?«, fragte er, vor allem, um im Gespräch zu bleiben.

»Ich glaube schon«, antwortete sie zögernd. »Du kennst die Vor- und Nachteile. Es gibt die Chance, dass jemand das Opfer erkennt, aber du bekommst unendlich viele Anrufe, du weißt, von Wichtigtuern, gelangweilten Rentnern, Spaßvögeln und so. Viel Arbeit, ohne Erfolgsgarantie.« Sie schwieg.

»Theresa?«

»Ich bin noch da, Michel.«

»Es bringt niemand rein zufällig einen Mann um an der Stelle, an der die RAF damals Schleyer entführt hat. Wann war das genau? 1978?«

»77«, korrigierte Rosenthal.

Fett zögerte. »Es gibt einen Zusammenhang. Konzentriere dich auf die RAF-Spur. Das ist mein Rat. – Wenn du einen Rat willst.«

»Doch, ja, danke, Michel.«

»Und geht möglichst bald an die Öffentlichkeit, sonst wächst zu viel Gras über die Spuren.«

»Du kennst das Prozedere, Michel. Müssen wir uns genehmigen lassen.«

»Das klappt sicher. Du bist eine gute Polizistin. – Wir sollten wieder mal zusammen in Lüttich recherchieren. Da sind wir doch immer sehr erfolgreich.« Er lachte.

Theresa Rosenthal war froh, dass sie ein entspanntes, na ja, entspannt, überlegte sie, traf die Sache nicht ganz, aber immerhin freundliches Telefonat mit Michel geführt hatte. Damals, bei der Lösung des gemeinsamen Falls, hatten sie viel gelacht. »Lachend waren sie leichter als Luft.« Wo nur hatte sie diesen Satz gelesen? Er hatte sie tief berührt. So musste eine Beziehung sein. Mit Fett hatte es solche Momente gegeben. War schön gewesen. – »Don DeLillo«, in einem seiner Romane hatte sie diesen Satz gelesen. Er passte zu ihr. So sollte Zusammenleben sein.

Was Fett und Rosenthal zu dem Zeitpunkt ihres Telefonats nicht ahnten: Sie würden in dem Stadtwaldfall bald miteinander zu tun haben.

Ein bisschen Wehmut

Theresa Rosenthal starrte Löcher in die Luft. Das Telefonat mit Fett hatte sie – ja was? Aufgewühlt war übertrieben, aber irritiert. Nee, aufgewühlt, gestand sie sich widerwillig ein. One-Night-Stand mit emotionalem Kollateralschaden. Fett war nicht der Typus Mann für eine Nacht. Zu tiefgründig, wenn sie das überhaupt beurteilen konnte. Sie kannten sich nur aus der Zusammenarbeit in einem Fall. Mord an dem großen Aachener Verleger Verhülsten. Lag damals in der Pferdebox in Weidenpesch. Ein städteübergreifender Fall. Sie wurden in die Zusammenarbeit hineingezwungen. Und dann Lüttich. Es wäre interessant, lustvoll, mit Fett das Dreiländereck zu erkunden. Ihr Kollege kannte sich dort hervorragend aus. Auch auf der belgischen Seite. Exzellente Französischkenntnisse. Er parlierte lässig mit dem belgischen Kollegen Didier. Expedition in die Champagne mit Fett. Reims vielleicht. Kannte sie nicht. Ihre Freunde erzählten andauernd von Fidschi, Oman und Seychellen. Theresa zog es nicht mehr in die Ferne. Sie hatte Lust auf Naherkundung. Mit Fett, dachte sie trotzig.

»Na, kleines Mittagsschläfchen!« Kollege Marco Bär betrat, zwei Teller jonglierend, das Büro und störte sie in ihren Träumereien.

»Schinkenbrötchen!«, sagte er und stellte ihr den einen Teller vor die Nase. »Wenn du nicht magst, nehme ich es.«

»Danke.« Sie biss geistesabwesend in das Brötchen. »Wir müssen endlich an die Öffentlichkeit gehen.«

»Als Popstars? Höhle des Löwen, Dschungelcamp?«

Rosenthal schaute den Kollegen verwirrt an. »Der unbekannte Tote.«

»Ach, was!« Marco lachte. »Du bist nicht so ganz hier, oder?«

»Also, was sagst du?«

»Ich bin dafür – unbedingt. Ein Riesenspaß. Letztes Mal hatte ich gefühlt 1.000 Menschen, die unter dem Motto ›Bei der Gelegenheit‹ von mir verlangten, ihre weggelaufene Katze zu suchen; den lauten Nachbarn mal ordentlich den Marsch zu blasen; Laubbläser gesetzlich zu untersagen; eine Frau forderte, dass ich eine Geschwindigkeitskontrolle in ihrem Treppenhaus durchführe oder so ähnlich. Aber, wie dem auch sei, ich bin trotzdem dafür. Wir kommen nicht voran.«

»Kümmerst du dich bitte um die Bürokratie, Marco?«

»Und du träumst ein bisschen weiter?«

»Nee, ich will mich um die RAF-Spur kümmern. Gerade habe ich mit dem Kollegen Fett aus Aachen telefoniert …«

»Ach, der Kollege Fett«, betonte Bär süffisant. Er hatte gemerkt, dass damals bei den gemeinsamen Ermittlungen irgendwas im Gang gewesen war.

»Ja, Fett. Meine Generation. Wir haben die RAF-Zeit miterlebt. Die letzten Attentate in den 90ern. Dritte RAF-Generation. Brutaler als die erste.«

»Scheißzeit gewesen, was?«, kommentierte Bär auf seine lakonische Art.

»Ja. Die Menschen waren verunsichert. Eigentlich schlimmer als heute durch die Attentate von Rechten und Islamisten. Auf jeden Fall stellten die letzten RAF-Täter den Kampf ein. Viele von denen verschwanden in irgendwelchen Löchern. Gerüchte besagten, im Nahen Osten. Osten stimmte, er war aber näher, als wir dachten. Die DDR gab den Terroristen ein neues Zuhause. Es gingen bereits früh Vermutungen darüber um. Fakten gerieten erst nach dem Fall der Mauer in unsere Hände. Fett meint, wir sollten an der RAF-Spur dranbleiben. Ich möchte ein paar Dinge nachlesen. Mich in das Thema einarbeiten.«

»Und ich darf Bürokratie? Toll!«, meckerte Bär.

»Kannst die Sache an die junge Kollegin abschieben«, schlug Rosenthal vor. »Eva muss noch viel lernen auf diesem Gebiet. Oder ihr macht es gemeinsam«, bot sie süffisant lächelnd an. Kleine Retourkutsche. Mit Bär ging das. Sie kamen gut miteinander zurecht.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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213 стр. 6 иллюстраций
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9783839269862
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