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Hustenkonzert

Theresa Rosenthal parkte ihren grünen Mini Cooper um Punkt 18.00 Uhr vor dem Haus ihrer Lieblingsverwandten in Köln-Marienburg. Sie hatte am Morgen einen Anruf von Tante Clarissa erhalten.

»Kind«, hatte die Tante mit ihrer kräftigen Stimme in den Hörer gedröhnt. Sie sagte immer noch Kind zu Theresa, obwohl die mit ihren fast 50 Jahren schon länger aus dem Gröbsten heraus war. »Kind, begleitest du mich heute Abend ins Konzert? Londoner Philharmoniker unter Sir Eliot Gardiner. Ein Leckerbissen.«

»Und den willst du mit mir teilen?«, fragte Theresa überrascht. »Ist Elsa krank?« Elsa war Tante Clarissas Abo-Freundin.

»Ja, die postkarnevalistische Grippewelle hat sie erwischt. Ich weiß nicht, warum sie mit ihren lächerlichen 82 Jahren jeden Virus aufschnappt.«

»Was treibt sie sich in ihrem Alter auch im Karneval herum?« Theresa lachte. Die absurde Vorstellung, dass die elegante Elsa sich im Karneval tummelte, amüsierte sie. Nun war Theresa also dran und musste Tantchen ins Konzert begleiten. Einer 93-Jährigen schlug man keinen Wunsch ab, wenn er irgendwie erfüllbar war. Theresa hatte zwar Bereitschaftsdienst, aber sie würde ihr Handy stumm schalten und das Beste hoffen. Der dauernde Stand-by-Modus ging ihr auf die Nerven. Jedes Jahr dasselbe Theater. Von Weiberfastnacht bis Karnevalsdienstag schunkelten die Kollegen halbnackt in den Straßen herum, bis auch der Letzte sich mit dem Grippevirus infiziert hatte. Dieses Jahr wütete er besonders arg. Sie arbeiteten im Morddezernat KK 11 mit halber Mannschaft. Verbrecher hatten gute Chancen, ungestraft davonzukommen. Theresa gehörte wie jedes Jahr, weil sie dem Mummenschanz fernblieb, zu den Gesunden und Leidtragenden. So wie ihre Tante, die trotz ihres Alters robust war. Ostpreußische Gutsherrengene.

Auf Theresas Klingeln hin stand die alte Dame fertig angekleidet im eleganten schwarzen Yves-Saint-Laurent-Mantel bereit.

»Da bist du ja, Kind.« Die Tante verriegelte die Türschlösser oben und unten, drehte den Schlüssel jeweils zweimal um.

»Immer noch keine Alarmanlage?«, fragte Theresa, die Antwort kennend. Vergeblich bat sie bei jedem Besuch, endlich eine Sicherung einzubauen. Die wohlhabende Verwandte lebte in dem teuren Kölner Villenviertel allein in ihrem Haus. Es hatte mehrere Einbruchversuche gegeben, und Trickdiebe hatten erst kürzlich versucht, die Arme mit irgendeiner Dachdeckernummer zu übertölpeln, worauf sie wenigstens eine Gegensprechanlage installieren ließ, damit Gangster nicht gleich in ihrem Flur standen. Aber wahrscheinlich haut sie ihnen die Handtasche um die Ohren, dachte Theresa, als Tante Clarissa mit eiligem Schritt die Zufahrt hinuntereilte. Der flotte Gang verriet ihr Alter nicht, nur das von Osteoporose zerbröselnde Rückgrat, das sich wie ein Flitzbogen krümmte. Sie schrumpelt langsam weg, bemerkte Theresa, während sie der Tante die Fahrzeugtür aufhielt. Als sie sich ins Auto hineinbeugte, um beim Anschnallen zu helfen, pfiff Clarissa Hammerstadt ihre Nichte an.

»Ich kann das selbst. Bin doch kein Kind mehr.«

»Aber vielleicht wieder«, lachte Theresa. Mit ihrer Tante pflegte sie einen lockeren Umgangston, den die ihr nie übelnahm, anders als ihre eigene Mutter, mit der Theresa bei jedem der seltenen Telefonate aneinandergeriet.

Das Konzert begann erst um acht Uhr, aber die Kommissarin, die immer mal wieder für die kränkelnde Elsa einsprang, kannte das Prozedere der musikalischen Abende. Sie begannen mit einem Glas Champagner und einem Imbiss im »La Brasserie«, gegenüber der Philharmonie. Früher waren sie ins Dom-Hotel gegangen. Das fiel aus, es war im fünften Jahre geschlossen – und damit hatte die einzige Gastronomie auf dem Domplatz den Betrieb eingestellt. In Köln schaffte es nicht nur die Stadt, Chaos im Bausektor anzurichten, auch auswärtige Investoren kriegten das in der Jeckenmetropole hin. Es gab in Köln für ein Hotel keinen attraktiveren Standort als die Lage am Roncalliplatz mit Blick auf das Weltkulturerbe, aber irgendetwas lief bei der Renovierung des altehrwürdigen Hotels schief, und nun bröckelte das Gebäude traurig vor sich hin. Ähnlich wie die Oper. Bauprobleme hatten in der Rheinmetropole Tradition. Für ihren Dom benötigten die Kölner schlappe 623 Jahre bis zur Fertigstellung.

Im Foyer der Philharmonie wurde Theresa Zeuge der fleischgewordenen Statistik zur Überalterung der deutschen Gesellschaft. Die Folgen bekam sie sofort zu spüren. Trotz des erfreulichen Anlasses mufften die alten Leute herum, überfordert durch die Anstrengungen, die es sie kostete, die lädierten Körper vom gemütlichen Eigenheimsessel bis in den Sitz des Konzertsaals zu überführen. Theresa hatte es verpasst, die Restauranttoilette aufzusuchen. Sie musste Tantchen auf einer Sitzbank deponieren und sich im Waschraum der Philharmonie anstellen, wo sich vor den Häuseln eine Schlange der von Inkontinenz Geplagten bildete, unter denen schlechte Stimmung herrschte. Besorgte Blicke auf die Uhren.

»Eigentlich bin ich für das Konzert hergekommen und nicht zur Toilettenbesichtigung«, nörgelte Theresa gut vernehmbar. »Können die hier nicht eine angemessene Anzahl an Scheißhäusern bereitstellen?«, fügte sie wütend hinzu. Strafende Blicke trafen sie. In letzter Zeit nahm Theresa gewisse Anzeichen des Tourettesyndroms an sich wahr. Immer häufiger überfiel sie eine unbändige Lust, ausfallend zu werden. Umso mehr, je distinguierter die Szene war. Vielleicht eine Folge ihrer strengen Erziehung. Die adligen Eltern hatten jegliches Fluchen im Keim erstickt. Womöglich drängte jetzt alle aufgestaute Wut aufs Mal aus ihr heraus.

Eine aus der Toilette herausstolpernde Alte rempelte die Kommissarin an und brummte vergrätzt: »Wenn sich hier nicht all die Musikkretins tummelten, müsste man nicht anstehen.«

Sie waren nicht gut drauf, die reichen deutschen Rentner. Manche der älteren Leute hatten diesen Anspruch auf Vorfahrt im Gesichtsausdruck. Hoffentlich verabschiede ich mich von der Welt, bevor ich solche Attitüden annehme, überlegte Theresa. Frühzeitig und mit üblen Flüchen auf den Lippen. Bei dem Gedanken verbesserte sich ihre Laune. Die Chancen, eine seltsame Alte zu werden, standen eh schlecht. Ihre beiden erwachsenen Söhne würden sie zurechtstutzen. Die ließen ihr nichts durchgehen.

Theresa und ihre Tante schafften es kurz vor acht Uhr, die Sitze einzunehmen. Vor dem eigentlichen Konzert begann das Hustenkonzert. Theresa war froh, dass sie den Außenplatz erwischt hatte. Die letzten Ausläufer der Grippewelle schwappten durch die Sitzreihen. Durch die hervorragende Raumakustik war jeder Hustenakkord perfekt zu vernehmen. Auch Damen, die auf dem oberhalb des Konzertsaals liegenden Heinrich-Böll-Platz mit Stöckelschuhen klapperten, hörte man innen ausgezeichnet. Die Geräusche wurden von den schwingenden Trägern in den Konzertsaal übertragen. Während der Aufführungen wurde der Platz deshalb abgesperrt und bewacht, was jährlich etwa 100.000 Euro Kosten verursachte. Seit der Philharmonie-Eröffnung 1986 hatte die Stadt es nicht geschafft, diese Fehlkonstruktion zu korrigieren.

Bei den ersten Takten von Robert Schumann, Ouvertüre, Scherzo von Opus irgendwas, dämmerte Theresa hinweg. Die schlaflosen Nächte, in denen sie sich gefühlt seit 20 Jahren mit Lesen von üblen Gedanken ablenkte, führten dazu, dass sie einnickte, sobald in einem Kino, Theater oder Konzertsaal die Lichter erloschen. Die Londoner Philharmoniker bemühten sich vergeblich, was Theresa anging. Anders als Tantchen hatte die Kommissarin kein fein ausgebildetes Gehör für Musik. Ihr Kopf fiel abrupt nach vorn. Sie erwachte von dem Ruck, blickte verstohlen zu Clarissa hinüber, ob die sie beim Sekundenschlaf erwischt hatte, und dämmerte bei Schumanns sanften Klängen sofort wieder weg. Applaus weckte Theresa. Sie klatschte kräftig mit.

»Ein paar Ungenauigkeiten, aber überwiegend gut gespielt«, kommentierte die Musikkennerin neben ihr.

Als Theresa ihr zustimmte, lachte die Tante und gab ihrer Nichte einen Klaps auf das Knie. »Heuchlerin, du hast durchgeschlummert. Weiterhin diese schlaflosen Nächte?«, fragte die Tante. »Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Keine Angst, solange du mich mit ins Konzert nimmst, kann ich den Schlaf ja nachholen. In der zweiten Halbzeit bin ich topfit«, versprach Theresa.

Sie blätterte im Programm: »Piotr Anderszewski, Feingeist und Fabulierer am Klavier ist berühmt für seine Eigensinnigkeit, mit der er die Hörer entzückt, bisweilen auch verstört«, las sie vor. Das Klavierkonzert von Beethoven dudelte an ihr vorbei. Theresa hätte es auch nicht wiedererkannt, wäre es ihr bereits am Vortag vorgespielt worden. Musikalisch brauchte sie stärkere Kost. Strawinskys »Sacre du printemps« wühlte sie auf. Da war sie ganz Ohr und der Körper wollte tanzen. Bei Robert Schumanns Sinfonie Nr. 4 in d-Moll brummte das Handy in ihrer Jackentasche. Sie zog es verstohlen heraus, verdeckte den leuchtenden Bildschirm mit ihrem Schal und sah die Nummer ihres Kollegen Marco Bär, der die Grippe gerade überstanden hatte und wieder einsatzbereit schien.

Sie antwortete per SMS: »Bin im Konzert, was gibt’s?« Die Zuhörer in der Reihe über ihr fingen an zu zischeln. Peinlich. Sie hatte größtes Verständnis, aber die Alternative war, ihren Platz zu verlassen, an allen vorbei die steilen Treppen zu erklimmen, um draußen zu telefonieren. Das Theater wollte sie nicht erleben. Greise Musikliebhaber konnten sehr aggressiv werden.

Bärs Antwort erschien umgehend auf ihrem Bildschirm: »Mordfall!«

»Wo?«

»Friedrich-Schmidt-Str., Ecke Vincenz-Statz-Straße.«

»30 Min.«

Das Zischeln von oben wurde bedrohlich.

Schumann neigte sich dem Ende zu. Noch vor dem Einsetzen des Beifalls keifte die Musikliebhaberin aus der Reihe neun: »Unverschämtheit, das Konzert mit Ihrem Herumgespiele am Handy zu stören.«

Tante Clarissa, die Theresas Notsituation kannte, drehte sich empört um und donnerte der Kritikerin entgegen: »Sie ist bei der Mordkommission, und eines verspreche ich Ihnen, wenn Ihr Mann Sie demnächst umbringt, wird meine Nichte nicht auftauchen.«

»Das kann mir dann ja egal sein«, murrte die Alte und fiel danach in den Applaus ein.

Theresa setzte Tante Clarissa ins Taxi, gab dem Fahrer die Anweisung, die alte Dame bis zu ihrer Haustür zu begleiten, und fuhr danach direkt zum Tatort. Es war kurz nach 21.30 Uhr und kaum Verkehr auf den Straßen. Sie brauchte von der Philharmonie 15 Minuten hinaus nach Lindenthal.

Erinnerungen werden wach

»Schick!«, kommentierte Marco Bär und deutete auf die schwarze Pashmina, die die Kollegin zum blauen Hosenanzug trug.

»Für Beethoven«, lächelte die Kommissarin. »Auch Schumann, glaube ich.«

»Ach – wieder mal im Konzert geschnarcht?«, grinste Bär, der die Schlafprobleme seiner Kollegin kannte.

»Ja, dafür topfit für unseren Toten – oder ist es eine Tote?«

»Ein Toter – er sitzt dort im Wagen.« Bär zeigte auf einen dunkelroten Renault Megane am Straßenrand.

»Wo ist die Kollegin Burrenscheidt?«

»Grippe.«

»Gerade erst bei uns angetreten und gleich mal krank?«

»Karneval!«

»Ich kann’s nicht mehr hören. Karneval – ist das eine Krankheit?« Rosenthal war wütend. Erst feierten die Leute tagelang, und danach kam der Arzt.

Der eher gemütliche, aber sehr akribisch arbeitende Kollege Oliver Korte hatte sie verlassen. Er war nach Bielefeld gegangen. Bielefeld – gab es die Stadt überhaupt? Rosenthal kannte sie nur als Autobahnabfahrt.

»Ich vermisse Korte«, sagte die Kommissarin. »Was macht der bloß in Bielefeld?«

»Ich vermisse Korte auch, aber ich glaube, die Eva ist okay.«

»Eva ist die Burrenscheidt, oder was?«

»Ja. Sie hörte sich gestern wirklich total erkältet am Telefon an, will aber morgen trotzdem kommen.«

»Viren verteilen?«

»Theresa!«, ermahnte Marco Bär. »Gib ihr eine Chance.«

Rosenthal schaute sich am Tatort um. Durch den hektischen Aufbruch nach dem Konzert und die Verfrachtung von Tante Clarissa in ein Taxi kam sie erst jetzt zu sich. Ein ungutes Gefühl beschlich die Kommissarin. Die Szenerie. Der Tatort. Zufall?

»Was ist los?« Bär schaute seine Kollegin prüfend an.

»Wieso?«

»Du siehst gerade aus, als sei dir ein Gespenst begegnet«, erklärte Marco Bär besorgt.

»Nein, nein. Alles bestens.« Die Kommissarin beschloss, vorerst zu schweigen. Es war wichtig, dass das Team sich unvoreingenommen an die Arbeit machte. Sie ging hinüber zu dem Auto, das am Straßenrand, auf der Seite zum Stadtwald hin, parkte.

»Kopfschuss«, erklärte der junge Gerichtsmediziner, dem sie das erste Mal begegnete. Er hatte Schnupfen und verbrauchte ein Papiertaschentuch nach dem anderen.

»Ach was«, sagte Rosenthal trocken und begutachtete die Einschussstelle an der Schläfe eines Mannes mittleren Alters, vielleicht 50, der mit nach vorn gefallenem Kopf zusammengesackt und nach rechts gegen die Scheibe geneigt auf dem Beifahrersitz saß. Auf dem Schoß hielt der Mann eine Pistole. Sie zielte in Richtung Fahrersitz. Anscheinend war der Fahrer nicht getötet worden. Offensichtlich hatte er seine Waffe schneller gezogen.

»Wo ist Herr Bellutt?«, fragte sie den jungen Rechtsmediziner. Sie arbeitete gern mit dem alten Kollegen zusammen. Bellutt war nicht nur Pathologe, er war nach 30 Jahren Tätigkeit in der Rechtsmedizin auch zum Philosophen mutiert, berufsbedingt.

»Und Sie?« Rosenthal schaute den jungen Mann fragend an.

»Markus Czerny, ich bin neu in der Abteilung von Dr. Bellutt.«

»Rosenthal, willkommen. – Identität?«, wollte die Kommissarin wissen.

»Ich hab’ meinen Ausweis nicht …«, stotterte der junge Rechtsmediziner.

»Nicht Ihre Identität, die des Toten.« Theresa wusste selbst nicht, warum sie so ungeduldig reagierte. Irgendetwas saß ihr quer.

»Nichts. Keine Papiere. Mal sehen, was die Fingerabdrücke uns verraten«, meldete sich Bär zu Wort.

»Und der Wagen, belgisches Kennzeichen, oder?«

»Ja, genau. Die Nummer habe ich an die Zentrale gegeben. Die recherchieren.«

»Toll, dass überhaupt jemand zum Recherchieren da ist. In den letzten Tagen war ich allein auf weiter Flur. – Da der Tote sich wohl kaum nach dem Kopfschuss auf den Beifahrersitz rübergeschoben hat, suchen wir nach einem Fahrer, richtig?«

»Richtig. Aber ich wäre dankbar, wenn wir wenigstens wüssten, wer der Tote ist«, nörgelte Bär. Er sah Arbeit auf die Abteilung zukommen. Unbekannte Tote machten erfahrungsgemäß mehr Umstände als die identifizierten. Manche der Unbekannten verschwanden in den Archiven auf nimmer Wiedersehen, andere Untote tauchten Jahre später wieder auf, konnten plötzlich zugeordnet werden. Hoffentlich machte das Opfer vom Stadtwald weniger Ärger.

Auf der Stelle treten

Sie tappten im Dunkeln – seit Tagen. Sie hatten nichts, fast nichts. Den Halter des Wagens konnten sie schnell identifizieren. Ein Mitarbeiter des Belgischen Rundfunks in Eupen, Robert Cremer. Rosenthal hatte die junge Kollegin Burrenscheidt zu dem Redakteur geschickt.

Eva Burrenscheidt war ein üppiges Vollweib mit blonden schulterlangen Haaren und verschmitzten blauen Augen. Die Jeans saß knackig, die Bluse auch. Sie war in Marco Bärs Alter, Mitte 30. Die männlichen Kollegen legten in ihrer Gegenwart eine Überbietungshaltung an den Tag. Theresa Rosenthal mochte die neue Mitarbeiterin, fand es aber besser, sie sporadisch zu Außenrecherchen zu schicken, damit die Herren mal wieder an die Arbeit gingen und sich nicht wie die Gockel produzierten.

Der Redakteur in Eupen hatte der jungen Kommissarin willig Auskunft gegeben. Cremer hatte seinen Wagen eine Woche vor dem Wiederauftauchen am Kölner Stadtwald als gestohlen gemeldet. Für die Tatzeit in Sachen Mord legte er ein wasserdichtes Alibi vor. Während der Unbekannte am Stadtwald erschossen wurde, saß Cremer im Rundfunk vor dem Mikrofon. Er berichtete live über das Thema Lebensmittelverschwendung: Jeder belgische Haushalt entsorge im Jahr Lebensmittel im Wert von 174 Euro in die Abfalltonne. »In der Wallonie werfen wir in diesem Jahr wieder Essbares im Wert von 1,4 Milliarden Euro effektiv weg. Jeder von uns muss sich darüber Gedanken machen, sein eigenes Gewissen erforschen«, forderte Cremer gerade in dem Moment, als sich das Drama am Kölner Stadtwald in seinem dunkelroten Renault abspielte. Die vollgestopften Plastiktüten hatten sich im wiederentdeckten Wagen übrigens nicht angefunden, was Robert Cremer zusätzlich verärgerte. Eine Lebensmittelverschwendung, die ihn schuldlos traf. Um sich aufzumuntern, lud er die Kommissarin Burrenscheidt zum Mittagessen ein. Ein kleiner Flirt – musste seine Ehefrau nicht erfahren. Eva lehnte freundlich ab. War vielleicht besser für Robert. Eupen war klein, und ein Geheimnis ließ sich dort schlecht hüten.

»Warum macht sich jemand die Mühe, ein Auto in Belgien zu klauen, um darin in Köln einen Mann umzubringen?«, überlegte Bär daheim im Kommissariat. »Fälscht nicht einmal das Kennzeichen.«

»Frag mich was Leichteres«, maulte Rosenthal. »Vielleicht hat er einen Hass auf Renaults.« Sie war genervt, weil sie in dem Fall kein Stück vorwärtskamen. In solchen Situationen gab es kräftig Druck von oben. »Mein erster Wagen war übrigens ein alter Renault 4, mittelblau, kastenförmig, mit so einer komischen Knüppelschaltung am Armaturenbrett, unglaublich, die Scheibenwischer musste ich mit der Hand bedienen.«

»Sag mal, in welchem Jahrhundert bist du geboren?«, staunte Bär.

»Die Kiste übernahm ich von einem älteren Cousin, so ein 68er, der auf den umgeklappten Rücksitzen die Mädels vernascht hatte. Ich fand zwischen den Sitzen tatsächlich einen schwarzen BH«, erinnerte sich Rosenthal. Ihre Laune hob sich kurzfristig, bis sie auf den aktuellen Fall zurückkamen.

Die KTU hatte magere Ausbeute geliefert. Das Mordopfer war Mitte 50. Der Mann trug Kleidung, die man in jedem Aldi, H&M-Laden oder bei Kik kaufen konnte. Sie hatten die Hersteller herausbekommen, aber in den Einkaufszonen jeder mittelgroßen Stadt gab es Filialen. Adidas-Turnschuhe – Massenware. Fingerabdrücke nicht in der Datei. In den Zähnen ein paar Plomben, die jeder Zahnarzt verfüllt haben konnte. Raucher. Kein Ehering. Kein Tattoo. Kein Handy. Wenn das Opfer irgendetwas bei sich trug, was die Identifizierung erleichtert hätte, dann hatte der Täter es mitgenommen. Ein Profi.

Ein Profi, ein Profi, hämmerte es im Kopf der Kommissarin Theresa Rosenthal.

Sie las den Bericht des Gerichtsmediziners. Das Abendessen des Ermordeten hatte aus einer Currywurst und einem Bier bestanden. Herkunft unbekannt. Noch nicht ganz verdaut. Vielleicht könnten sie die Imbissbuden in der Umgebung abklappern und ein Foto des Ermordeten vorzeigen. Was hatte sie noch? Alkoholpegel des Toten: 0,1 Promille. Guter Gesundheitszustand. Lange Lebenserwartung, wenn da nicht das Loch im Kopf gewesen wäre. Die KTU hatte die Kugel vom Kaliber 7,65 Millimeter im Türrahmen des PKWs gefunden. Sie passte zu einer Walther PPK.

Ein Sack voll Weisheiten und nützliche Informationen

Theresa erreichte Tante Clarissa beim Morgentee. Zwölf Uhr vormittags. Frühstückszeit bei der alten Dame.

»Wieso sollte ich beim ersten Hahnenschrei aufstehen, da ist die Welt für eine Olle wie mich noch geschlossen«, erklärte die Tante.

»Wo gibt es denn Hähne bei dir in Köln-Marienburg?«, spottete Theresa.

»Du wirst lachen, jemand in der Nachbarschaft hält Pfauen, die schreien viel schrecklicher als Hähne, aber egal, ich verstehe nicht, warum alte Leute gern so früh auf den Beinen sind. Präsenile Bettflucht.« Sie lachte ihr raues, amüsiertes Lachen, das voller Weisheit und Humor steckte. »Abends, wenn die Kinder und Enkel mit uns chatten wollen, sind die meisten Oldies bereits in den Federn. So wie deine Mama.« Die Betonung lag auf dem letzten »a«. Das klang distinguiert.

Tante Clarissa sagte wirklich chatten. Theresa konnte sich nicht vorstellen, dass ihre eigene Mutter überhaupt wusste, was das war, geschweige denn, es praktizierte. Jede Modernisierung war in den Augen ihrer alten Dame Teufelszeug. Sie war Mitte des vergangenen Jahrhunderts stehen geblieben. Das erklärte Theresa der Tante.

»Deine Mutter verließ den Geburtskanal ziemlich schlecht gelaunt. Als sie den Arzt erblickte, rümpfte sie ihr hübsches Näschen und sagte: ›Mir geht es gar nicht gut, im Übrigen ist mir hier alles zu vulgär – und wer sind Sie überhaupt, junger Mann?‹« Clarissa lachte erneut heiser, während sie kräftig an ihrem Zigarillo zog, das konnte Theresa durch das Telefon hören. Es machte wohl keinen Sinn, eine über 90-Jährige vor Gesundheitsrisiken zu warnen.

»Ach Kind«, hatte sie bei der letzten Ermahnung geantwortet, »Gesundheit ist doch nur die langsamste Form zu sterben.«

Der nahende Tod war mittlerweile Thema Nummer eins bei all ihren Telefonaten. Theresa verstand, dass man sich im Alter von 93 täglich mit seinem Ableben beschäftigte, was Clarissa mit ungebrochen guter Laune tat. Zudem übermittelte sie bei jedem Zusammentreffen eine Todesnachricht aus dem Umfeld. In ihrem Alter hatte man ziemlich alle Verwandte und Freunde überlebt.

»Katharina ist gestorben«, bekam Theresa beim aktuellen Telefonat mitgeteilt.

»Welche Katharina?«

»Katharina Kramer.«

»Ach, die Katharina.«

»Wusste seit vielen Jahren schon nicht mehr, wie sie heißt und wer sie ist. Die Ärmste. Der Tod tut nicht weh, das Leben tut es«, erklärte die Tante. Weisheiten, die man in Gesprächen mit ihr en passant mitgeliefert bekam. »Ich bin auch bald dran«, teilte sie mit. Ihre kräftige Stimme strafte sie Lügen.

»Du hast noch ein paar Jährchen Zeit, Tantchen, und dann marschierst du direkt durch zu Gottes Thron und wirst den Platz zu seiner Rechten einnehmen«, versprach Theresa und überlegte amüsiert, ob Clarissa sich nicht eher Gottes komfortablen Platz erobern würde. Zuzutrauen war es ihr.

»Das Fegefeuer wird mir nicht erspart bleiben, Kind!«

»Möglich, wegen deines Schandmauls«, bestätigte Theresa.

»Und weißt du, was das Furchtbare am Fegefeuer ist? Du musst dir anhören, was die Menschen auf Erden wirklich über dich gedacht und gesagt haben.«

»Autsch, eine grausame Strafe«, jaulte Theresa auf. »Es wird leichter, je weniger Illusionen du dir über dich selbst gemacht hast. In der Beziehung bin ich recht realistisch.«

Theresa kam zum Punkt. »Siebziger Jahre – ich war gerade erst geboren und weiß Fakten über die Studentenbewegung und die Radikalisierung einiger nur aus zweiter Hand. Wie war die Stimmung? Studentenrevolte, RAF? Onkel Ferdi war doch im Auswärtigen Amt.« Der diplomatische Dienst hatte Tante Clarissa und ihren Ehemann Ferdinand in alle vier Ecken der Welt verschlagen.

Clarissa zog erneut kräftig an ihrem Zigarillo. Theresa meinte, die Rauchschwaden durch das Telefon riechen zu können.

»Schlimme Zeit«, erinnerte sich die Tante. »Die Stimmung war so aufgeheizt. Weißt du, Kind, für die Studentenbewegung hatten wir Verständnis, das war eine Abrechnung mit den Nazi-Eltern und den Nazis, die noch überall in staatlichen Funktionen saßen, an höchsten Stellen. Denk nur an Hans Globke, Mitverfasser der Kommentare zu den Nürnberger Rassengesetzen und später zehn Jahre Chef des Bundeskanzleramts unter Adenauer. Es war zum Kotzen. Diese Nazis saßen überall und besonders im Auswärtigen Amt.«

»Nicht zu fassen. Und Adenauer? Wie verhielt der sich dazu?«

»Kann ich dir sagen, Kind. Von Adenauer stammt das schöne Zitat: ›Wir sollten jetzt mit der Naziriecherei einmal Schluss machen, denn, verlassen Sie sich darauf, wenn wir damit anfangen, weiß man nicht, wo es aufhört.‹ Und deshalb haben sie lieber mal schnell aufgehört. Aber irgendwann kommt der Dreck, der unter den Teppich gekehrt wird, wieder hervor. Das haben die 68er besorgt. Zu Recht. Aber in einigen Köpfen lief etwas schief. Bis heute – die sitzen ja noch überall herum mit ihren verqueren Ansichten. Und damals erst. Es gab viele Mitläufer und Sympathisanten der Terroristenszene. Unter Akademikern, an den Universitäten, in der Kunstwelt, Regisseure. Schlöndorff, Margarethe von Trotta. ›Die bleierne Zeit‹, hast du den Film gesehen, in dem sie den Selbstmord von Ensslin anzweifelt und ihn als Mord darstellt?«

Clarissas Gedächtnis funktionierte wie geölt. Sie stieß ihr zorniges Lachen in den Telefonhörer. Zornig, das konnte sie auch, so überzeugend, dass man in seinem Sessel zusammensackte.

»Zurück zur RAF«, erinnerte Theresa die alte Dame.

»Die RAF-Leute, die waren brutal und menschenverachtend. Wie will man mit Hass und Menschenverachtung eine bessere Welt aufbauen? Sie verbreiteten Angst in der Gesellschaft. Die Menschen fürchteten sich vor diesen Radikalen, und der Staat reagierte mit radikalen Maßnahmen. Oder besser gesagt – mal so, mal so. Bei der Entführung von Peter Lorenz, du erinnerst dich, das war der Spitzenkandidat der CDU bei der Berliner Bürgermeisterwahl. Wann war das? Mitte der 70er. Den Tätern gelang es, verurteilte Terroristen freizupressen. Sie ließen Peter Lorenz laufen, schwer traumatisiert, der Mann. Bei der Schleyer-Entführung blieb der Staat hart. Die Folgen kennst du.«

Clarissa machte eine Pause, und Theresa überließ die Tante ihren Gedanken.

»Weißt du, Kind, die Einschläge kamen näher. Attentat auf die Botschaft in Stockholm, Kollegen starben. Wir waren geschockt, hatten 1970 die Entführung von Botschafter Holleben in Brasilien miterlebt, linke brasilianische Terroristen, das saß uns in den Knochen. Dann Schweden, wieder Kollegen, Schleyer, Jürgen Ponto, Herrhausen, Rohwedder – alles Bekannte, teils Freunde. An jedem Opfer hing eine Vielzahl von Menschen, deren Leben sich in einer Sekunde änderte: Frauen, die zu Witwen, Kinder, die zu Waisen wurden; Freunde, die mitlitten. Von den Opfern wird so wenig geredet, viel von den Tätern. Denk an den Tatort-Krimi – war das im letzten Jahr, dieser RAF-Tatort? Ich schau mir so einen Quatsch gar nicht an, aber gelesen habe ich darüber. Der Staat soll die Terroristen im Gefängnis umgebracht haben. Verschwörungstheorien.«

»Ja«, bestätigte Theresa. »Ich habe den Film sogar gesehen. Mir wurde ganz mulmig. Die Ermordung der Gefangenen durch ein staatliches Geheimkommando wurde sehr realistisch dargestellt, als ob es wirklich so geschehen sei. Ich fand das unverantwortlich, weil jüngere Zuschauer den Plot für bare Münze nahmen. Die haben doch keine Ahnung von den Geschehnissen damals.«

»Was für ein dummes Zeug. Dass das überhaupt für möglich gehalten wird. Wir sind eine Demokratie, mit vielen Fehlern, aber sie ist das Beste, was wir je hatten. Nie wieder Radikale, bitte: keine linken und keine rechten Fanatiker. Das sagt eine, die von beiden Varianten eine Kostprobe erhielt. Erst die Nazis und dann die Kommunisten. Wir waren vier Jahre an der Botschaft in Moskau. Herzliche Grüße an die Bolschewiken, aber, merci, nein danke!«

Sie schmauchte wieder – ein tiefer Zug. Danach kam die unausweichliche Frage. »Warum willst du das alles wissen? Du kommst nicht weiter mit dem Toten am Stadtwald – stimmt’s?«

Im Alter hatte Clarissa nichts von ihrer Scharfsinnigkeit eingebüßt.

»Musst du ja nicht unbedingt weitererzählen – aber, ja, du hast recht. Wir stecken fest. Wir kennen nicht einmal die Identität des Opfers.«

»Rache?«

»Kann sein. Der Ort spricht dafür – wenn es kein Zufall ist.« Theresa überlegte: »Nein, an Zufall glaube ich nicht. Ein Mann wird erschossen, genau an der Stelle, an der einst der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt wurde.«

»Schau mal bei den Ossis – die haben die RAF-Täter reihenweise beherbergt«, erinnerte sich Clarissa.

»Ein Gespräch mit dir lohnt sich immer«, lobte Theresa und wünschte der Tante einen angenehmen Tag.

»DDR«, sagte sie zum Kollegen Bär. Der schaute ratlos.

»Wir müssen an die Öffentlichkeit, auch im Osten.« Sie erklärte ihm die Gründe.

Bär nickte.

956,63 ₽
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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213 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839269862
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