Читать книгу: «Bergfriedhof», страница 3

Шрифт:

4

»Pfefferspray!«, rief Fatty. »Verdammt noch mal! Da hat er dich aber ganz schön gelinkt.«

Ich zuckte die Achseln.

»Pfefferspray? Das haben doch sonst nur Frauen dabei, wenn sie abends joggen gehen. Ein Teufelszeug.«

»Hm«, machte ich.

»Mensch, Mensch, Mensch«, bemerkte Fatty kopfschüttelnd. »Das darf doch nicht wahr sein. Hat der dich zugerichtet! Der hätte dich, ja alles Mögliche hätte der dich, ist dir das klar?« Er war wirklich sehr besorgt.

»Reg dich ab und setz dich. Was willst du trinken?«

»Deine Augen sind immer noch knallrot. Wann war das? Gestern Abend? Ich würde es mal einem Arzt zeigen.«

»Was du trinken willst, Fatty.«

»Danke, nichts.«

»Hab ich nicht.« Ich lotste ihn durch die zwei Zimmer meiner Wohnung auf meinen Balkon. Eine Bonsaiausgabe von Balkon, schattig zudem, aber ich halte mich gerne dort auf. Wenn man einmal sitzt, sitzt man. Ringsumher Steine, keine Blumen, kein Grün, bloß nackte, kahle Backsteinwände und eine hohe Brandmauer. Über dir versperrt der Balkon der Nachbarn den Blick zum Himmel und nur im Hochsommer schafft es die Sonne, für ein paar Stündchen in den sorgfältig gefegten Hof zu lugen. Es sind seltene Augenblicke, in denen die Natur Mitleid mit den Mauerblümchen der Gesellschaft hat. Jetzt noch nicht, denn wir schrieben Ende April. Wenigstens war es warm genug, um sich am frühen Abend ein Stündchen draußen aufzuhalten.

Fatty stellte seinen Rucksack ab und zwängte sich an dem kleinen Esstisch vorbei auf seinen Platz.

»Komisch finde ich allerdings«, sagte er, »dass man von Pfefferspray auch blaue Augen bekommt. Genauer gesagt ein blaues Auge.«

»Ja, sehr komisch.«

»Wie kommts?«

»Erzähle ich dir. Schön der Reihe nach. Willst du wirklich nichts trinken?«

»Nein, danke. Erst mal nichts.«

Ich machte mir ein Bier auf, setzte mich und berichtete. Vom Anruf des Unbekannten bis zu seinem Verschwinden. Von dem Toten auf dem Grab, von unserer Fahrt durch die Nacht und meiner unsanften Bekanntschaft mit dem Neuenheimer Asphalt. Fatty klappte den Mund auf und zu und machte große Augen. Nachdem der Alte fortgebraust war, lag ich noch einige Minuten zusammengekrümmt auf dem Bürgersteig, bis mir ein besorgter Passant in Anzug und Krawatte aufhalf. Er kam gerade von einem Empfang, war verdammt lustig drauf und wollte mich unbedingt ins Krankenhaus bringen. Ich verzichtete; der Typ schwankte mehr als ich. Tränenblind und Verwünschungen gegen den Alten ausstoßend schleppte ich mich nach Hause.

»Konntest du den Weg überhaupt sehen?«, fragte Fatty.

»Nö. Bloß tasten. Und riechen.«

»Riechen?«

»Vor allem war ich nicht in der Lage, das Kennzeichen des BMW zu lesen. Und genau darum ging es dem Alten.«

»Verstehe.« Fatty nickte beeindruckt. »So sind sie, die Bonzen. Ledersitze, sagst du?«

»Ledersitze.«

»So sind sie, die Bonzen«, wiederholte er. »Verdammte Spießer, die sich die Finger nicht schmutzig machen wollen. 100 Prozent Arroganz im Blutkreislauf. Pfui Spinne.« Er lehnte sich zurück und seufzte tief. Über ihm rieselte etwas Sand von der Backsteinmauer.

Ich nahm einen Schluck Bier und schwieg. Friedhelm Sawatzki, genannt Fatty, zog eine sorgenvolle Miene, aber er war nicht besorgt, im Gegenteil. Er war hochzufrieden. All seine Vorurteile – bezüglich der Bonzen, ihrer Autos, ihres Auftretens – hatten sich wieder einmal bestätigt, und das machte ihn froh. Ein Beweis für die Korrektheit seines Weltbildes, das von der ewigen Feindschaft zwischen Ausbeutern und Arbeitern, Spießern und Entrechteten, Kapitalisten und Antikapitalisten lebt. Er selbst ist Erzieher in einem Heidelberger Kindergarten, und so erübrigt sich die Frage, auf welcher Seite der Gesellschaft er steht. Ja, Fatty hat vor vielen Jahren, während seiner pubertären Sturm-und-Drang-Zeit, einen revolutionären Schub bekommen, hat den Klappentext des Kapital studiert und nicht verstanden. Seitdem ist die Sache für ihn klar, und immer, wenn er von Begebenheiten wie der Geschichte mit dem Unbekannten erfährt, wirft er seine Floskeln unters Volk: »Siehst du, da haben wir es wieder … So sind sie, die Bonzen dieser Welt. Habe ich es dir nicht gleich gesagt, Max?« Natürlich hat er. Oft genug.

In den meisten Fällen decken sich Fattys Ansichten mit meinen. Im Gegensatz zu ihm verzuckere ich allerdings nicht jedes Ärgernis mit pseudomarxistischen Thesen, um es zu verarbeiten. Und schon gar nicht bin ich der Meinung, dass man an den Verhältnissen etwas ändern könnte, wie Fatty steif und fest behauptet. Er selbst ändert am allerwenigsten. Ich sage den Leuten zumindest bei Gelegenheit, was mir an ihnen nicht passt, Fatty hingegen entrollt die vergilbte Fahne der proletarischen Revolution, ruft von meinem Hinterhofbalkon zum aktiven Widerstand auf und steht am nächsten Morgen um halb acht wieder brav vor seinen Vierjährigen, der dickste und freundlichste Erzieher, den es in ganz Heidelberg gibt.

»Und du hast keine Ahnung, wer der Alte sein könnte?«, fragte er. »Keinen blassen Schimmer?«

»Nein.«

»Aber wiedererkennen würdest du ihn?«

»Das schon.«

»Dann musst du ihn suchen! Heidelberg ist doch ein Kaff. Oder hast du Schiss?«

»Schiss?« Ich winkte ab. »Sagen wir mal so: Ein Mann von 70 Jahren oder mehr, der es ohne sein Pfefferspray bestimmt nicht mit mir aufgenommen hätte …« – aus dem Mund eines, der gerade mal 67 Kilo auf die Waage bekommt, klang das allerdings etwas großmäulig –, »… dieser alte Knacker, so arrogant und überheblich er aufgetreten ist, hat es trotzdem geschafft, mir auf gewisse Weise Respekt einzuflößen.«

»Wie, Respekt?«

»Der Typ war hellwach, die gesamte Zeit über. Immer auf der Höhe des Geschehens. Den konntest du nicht mal so eben austricksen. Der überließ nichts dem Zufall, hat sein Vorgehen genau kalkuliert. Dass er mir eine Ladung Spray verpassen würde, wusste er, bevor ich in seinen BMW einstieg.«

»Ach, so meinst du das.«

»Unterschätzen sollte man ihn jedenfalls nicht.«

Fatty nickte. »Waren tatsächlich 5000 Euro in dem Umschlag?«

»5000.«

»Kleingeld für einen Bonzen, aber dafür, dass du keinen Finger gerührt hast, ein ordentlicher Stundenlohn.«

»Richtig.«

»Der Mann muss doch zu finden sein!« Fatty schüttelte den Kopf. »Wenn ich mir vorstelle, was dir hätte passieren können! Warum hast du mir nicht wenigstens gesagt, was du vorhast?«

»Ich bringe mal das Essen.«

Fatty seufzte. Ich stand auf und holte die gefüllten Auberginen aus dem Backofen. Kochen gehört zu den wenigen Dingen, die mir wirklich wichtig sind, und für gutes Essen verzichte ich auf einige andere Annehmlichkeiten. Daran hat sich auch durch meine Trennung von Christine nichts geändert. Zu einer befriedigenden Mahlzeit gehört meiner Meinung nach nämlich keine zweite Person, mir schmeckt es auch alleine gut.

Trotzdem deckte ich zwei Teller.

»Danke, für mich nichts«, wehrte Fatty ab. »Hab schon … hab schon gegessen.« Ich hätte ihm die Worte diktieren können.

»Was denn? Ein Löffelchen Cornflakes, heute Morgen?«

Er wiederholte stumm seine abwehrende Geste.

»Na, also.« Ich stellte die Auberginen auf den Tisch.

»Ach, gibt es wieder diese … diese Dinger da?«

»Auberginen«, half ich. »Eierfrüchte. Es gibt nichts Gesünderes. Bitte schön …«

»Nein, danke, wirklich nicht. Max, du weißt doch …«

Natürlich wusste ich. Wusste, dass er am Abnehmen war, seit 10 Jahren ungefähr. Bloß, es interessierte mich nicht.

»Sei brav, Fatty und gib den Teller her. Auberginen haben null Kalorien.«

»Und das fiese Zeug da, das Fett drumherum und all das?«

»Olivenöl. Ohne Olivenöl wären sie nicht so gesund.«

»Meinetwegen. Aber bitte kein Fleisch.«

»Seit wann macht Fleisch dick? Bestes mageres Lammfleisch? Der reinste Muskelspender!«

Seufzend beobachtete Fatty, wie eine gefüllte Auberginenhälfte auf seinen Teller wanderte und mit Soße übergossen wurde. Ein Stück Weißbrot, Öl zum Nachgießen, Salz, Pfeffer, alles da. Ich füllte meinen Teller, stellte die Kasserolle wieder in den Backofen, und als ich aus der Küche zurückkehrte, stand eine Flasche mit braunem Inhalt vor Fatty auf dem Tisch.

»Was ist denn das?« Ich zeigte auf die Flasche.

»Cola light. Bevor du auf den Gedanken kommst, mir Wein einzuschenken.«

»Ich glaube, ich spinne!«

»Wieso? Das Zeug hat viel weniger Kalorien als richtige Cola.«

»Du kannst dieses Gift verklappen, wo und wann du willst, aber nicht auf meinem Balkon. Nicht, wenn ich gekocht habe, Fatty. Außerdem, du als Antikapitalist …«

»Verdammt, sie hatten nur noch Cola in dem Laden.«

»Und die Saccharine? Die Süßstoffe, die da drin sind? Was würden die Zuckerrohrbauer der Dritten Welt dazu sagen, wenn sie wüssten …«

»Max«, rief Fatty und hob die Arme, »lass mich einfach hier sitzen und trinken, was ich möchte. Ich bin ja bereit, deine … deine gefüllten Eierbomben da zu essen, aber halts Maul und gönne mir meine Cola.«

»Marx würde sich im Grab umdrehen«, stellte ich fest und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Marx wurde auch nicht von Engels derart gemästet«, entgegnete Fatty finster.

»Wenn du die Fortsetzung meiner Geschichte hören willst, dann weg mit dem braunen Gift.«

»Will ich gar nicht«, sagte er und zog einen Flunsch.

»Kann ich verstehen. Sehr spannend ist sie nicht gerade. Ein blaues Auge, Gott ja … Chaos in der Altstadt … Max Koller wird gejagt … die geheimnisvolle Leiche auf dem Grab … würde mich auch nicht interessieren.«

Fatty schaute beleidigt. »Dummes Geschwätz. Das sagst du nur, um mich rumzukriegen.«

»Steck die Flasche weg. Aubergine ohne Rotwein geht nicht.«

Er schwieg trotzig.

»Na, komm. Abnehmen kannst du morgen noch.«

»Ach, hols der Teufel«, seufzte er. »Ein letztes Mal. Aber du bist schuld, wenn wir beide mit diesem Balkonwrack in die Tiefe stürzen.«

Ich grinste und schenkte ihm ein. Seit Deutschland nur noch aus Fitnessstudios und Wellnesstempeln besteht, haben es Leute wie Fatty schwer. Er ist umzingelt von laufenden, steppenden, hüpfenden, walkenden Mitbürgern, die Lifestylezeitschriften lesen, Kuren und Diäten machen oder sich die Fettpolster absaugen lassen. In den Talkshows reden sie darüber, in der Werbung zeigen sie ihm, wie er auszusehen hat. Seine Kolleginnen im Kindergarten bejubeln jedes Gramm, das sie abgenommen haben. Ringsum Erfolgsmeldungen. Friedhelm Sawatzki dagegen schwabbelt vor sich hin wie eh und je.

Dabei war das nicht immer so. Der Junge ist deutlich älter als sein Spitzname. Wir kennen uns seit Schulzeiten, besuchten dasselbe Gymnasium, machten uns in derselben Tanzstunde lächerlich. Von fett konnte bei ihm damals noch keine Rede sein. Er war spindeldürr und ich ein mopsiger Teenager mit Pickeln. Im Sommer radelten wir zusammen mit Schulfreunden durch Frankreich, den Tour-de-France-Etappen nach, und er immer vorneweg. Essen konnte er wie ein Scheunendrescher, aber das konnten wir alle. Mit 17 nahmen wir die Pyrenäen in Angriff, peitschten uns gegenseitig die Hänge hoch, die Etappen wurden länger und länger. Dann leisteten wir uns, ausgehungert und dehydriert, an einem heißen Sonntagmittag ein gigantisches Festmahl, eine Wurstplatte vorweg, Fleischberge hinterher und Käsequader zum Abschluss. Alle lagen wir in den Büschen, krümmten und übergaben uns. Nur einer nicht: Friedhelm Sawatzki. Er schwang sich aufs Rad, nahm den Tourmalet in Angriff, ließ sich auf dem Gipfel von Touristen knipsen und kippte plötzlich aus dem Bild. Kreislaufkollaps. Am nächsten Tag besuchten wir ihn im Krankenhaus. Er konnte nicht einmal Piep sagen. Dafür sagte der Arzt ihm einiges und es klang verdammt ernst. Seitdem hat er sich nie wieder überfressen. Und ging auf wie ein Hefeteig. Ein Ernährungswissenschaftler versuchte, es uns zu erklären: Durch den Zusammenbruch war in Friedhelms Stoffwechsel irgend etwas umgekippt, zerstört, und nun legte der Körper Fettpolster an für kommende harte Tage. Verstanden hat das keiner von uns. Aber wir erfanden bald einen Namen für seine Krankheit: das Tourmalet-Syndrom. Und ihn nannten wir Fatty.

Längst erweist er diesem Namen alle Ehre. 115 fröhliche Kilos auf knapp 1,80 m verteilt – das ist eine Kampfansage an den Schlankheitswahn unserer Tage. Sport treibt Fatty keinen, wie er sich überhaupt ungern bewegt, nur auf Diäten verlegt er sich alle sechs Monate, wenn es ihn überkommt. Sein Abendbrot besteht dann aus einem traurigen Stillleben: Knäckebrot, ein Scheibchen junger Gouda, Gurke, Stilles Wasser. Und dahinter, ein dickes Häuflein Elend, mein Freund Fatty. Erfolge zeitigen diese Fastenkuren natürlich nicht.

»Prost«, sagte ich und stieß mit ihm an.

»Schlecht ist er nicht, dein Wein. Bloß … Wein. Alkohol.« Auch das Essen schien ihm zu schmecken, denn er verlor kein schlechtes Wort mehr über die gefüllten Dinger mit dem fiesen Fettzeug drumherum. »Okay, zurück zu deiner Geschichte. Wie war das? Der Alte über alle Berge, du halbblind und auf dem Bergfriedhof ein toter Mann … Was hast du gemacht?«

»Was werde ich gemacht haben mit Augen voll Pfefferspray? Mich ins Bett gelegt und geheult wie ein Schlosshund.«

»Warst du nicht in der Lage, zurück zum Friedhof zu fahren und die Leiche zu untersuchen?«

»In dem Zustand? Nein, kein Gedanke. Aber auch sonst wäre es eine Überwindung gewesen, mitten in der Nacht den ganzen Weg bergauf noch einmal in Angriff zu nehmen. Als ich zu Hause ankam, habe ich den Wecker auf sechs Uhr gestellt …«

»Und zwar sobald du wieder sehen konntest«, merkte Fatty unschuldig an.

»Korrekt. Sobald ich meine rasenden Schmerzen mit Morphium bekämpft hatte und die Welt wieder in Umrissen wahrnahm, stellte ich den Wecker, um heute möglichst früh auf dem Friedhof zu sein.«

»Sechs Uhr«, nickte Fatty. »Wusste gar nicht, dass dein Wecker so eine Zeit im Programm hat.«

»Der Wecker schon.«

»Du auch?«

»Frag nicht. Noch ein Auberginchen, der Herr?«

»Wenn es weg muss.«

»Muss.«

»Wann warst du vor Ort? Sieben? Halb acht?«

»Um Viertel nach acht.«

»So spät? Kurz vor Mittag?«

»Wie mans nimmt«, sagte ich düster. »Mir persönlich war nicht klar, wie viele wache Menschen sich um diese Uhrzeit in den Straßen herumtreiben.«

»Erzieher zum Beispiel. Wenn auch nicht am Samstag. Aber Viertel nach acht kann nur eines bedeuten: dass die Polizei längst alarmiert war und sie den Friedhof großräumig abgesperrt hatte.«

»Die Polizei? Nein.«

»Oder die Friedhofsverwaltung, was weiß ich.«

Ich schüttelte den Kopf.

»War die Leiche denn noch nicht entdeckt? Das glaube ich nicht.«

»Welche Leiche?«

»Wie, welche Leiche? Dein Toter auf dem Grab!«

»Das Grab war da.«

»Natürlich war es da!«

»Aber die Leiche nicht.«

»Was? Sie war weg?«

»Ja. Weg. Fort. Perdu. Keine Leiche mehr. Ich habe genauso blöd geschaut wie du jetzt.«

5

Die Tendenz zum Zweitrad wird immer stärker, sagt man. Ich besitze vier Räder, dafür kein Auto. In Heidelberg selbst kommt man ganz gut ohne aus, und für berufliche Fahrten ins Umland steht mir Fattys Mini immer zur Verfügung. Fatty selbst würde das eventuell etwas anders formulieren. Vier Fahrräder also, auch wenn sie abwechselnd kaputt sind: ein altes, unansehnliches Rennrad; ein grellrotes Mitbringsel vom Sperrmüll mit einer Teufelsgesichthupe; für schnelle Besorgungen ein Damenrad mit Korb; und ein schönes stabiles Tourenrad, das ich in der Stadt nie verwende. Momentan war das Damenrad platt, die Rennmaschine stand am Bergfriedhof, sodass für die morgendliche Fahrt dorthin nur Nummer zwei, die rote Mähre, infrage kam. Ich saß auf und fuhr los.

Geschlafen hatte ich gut. Erstaunlich gut sogar. Keine Alpträume, keine längeren Wachphasen. Bloß die Augen hatten geschmerzt, als ich um halb eins ins Bett gefallen war, und sie schmerzten beim Aufwachen immer noch. Dieses verdammte Pfefferspray! Die Lider waren geschwollen, die Wimpern verklebt, alles juckte. Ich legte mir zwei kalte Waschlappen auf die Augen, seufzte auf – und nickte noch einmal ein. Max Koller ist wirklich alles andere als dämmerungsaktiv.

Gegen sieben schreckte ich hoch. Helles Frühlingslicht fiel durch die offenen Vorhänge. Vertan die Chance, als Erster den Bergfriedhof zu betreten. Die Frühaufsteher unter den Senioren zupften bestimmt schon das Unkraut von den Gräbern, die Friedhofswärter würden ihre Runde drehen. Die Polizei war längst alarmiert, wenn auch nicht durch den Silberrücken. Der hatte sich nach einem stillen Gebet und einem maßvollen Schluck Asbach Uralt zur Ruhe gelegt, um schmunzelnd seiner Pfeffersprayattacke und des übertölpelten Privatdetektivs zu gedenken. Am nächsten Morgen würde er gemütlich frühstücken und während des Studiums der Börsenkurse auf eine ganz bestimmte Radiomeldung warten: Gegen sechs Uhr 30 fanden Wärter des Heidelberger Bergfriedhofs eine bislang unidentifizierte männliche Leiche …

Ich ging ins Bad und wusch mir ausgiebig das Gesicht. Meine geröteten, geschwollenen Augen ließen sich nur halb öffnen: schmale Sehschlitze, durch die ich mich prüfend betrachtete. Ich war angeschlagen, übernächtigt und schlechter Laune. Am liebsten hätte ich mich wieder ins Bett gelegt, die Decke über den Kopf gezogen und von gefüllten Auberginen geträumt. Aber da war noch was.

Da war ein Mann mit weißen Haaren und Brille, ein Mann ohne Namen, der mich verachtete, weil ich nicht sein gesellschaftliches Niveau besaß. Der die Menschheit in Macher und Marionetten einteilte und mich, die Ermittlermarionette, einen ganzen Abend lang nach Gutdünken hatte herumtanzen lassen. Nur heute Morgen sollte ich nicht tanzen, da sollte ich brav im Bett liegen bleiben. Das war die Rolle, die er sich für mich ausgedacht hatte, und ich ertappte mich dabei, wie ich nach unten schielte, um die Fäden zu entdecken, an denen meine Marionettenglieder hingen.

So nicht, alter Mann. So nicht. Ich schüttelte mich, zog mir einen Pullover über und verließ meine Wohnung.

Um Viertel nach acht stellte ich die rote Mühle zu meinem Rennrad neben den Seiteneingang. Unten bollerten die Autos über das Kopfsteinpflaster der Rohrbacher Straße. Ich schwitzte, aber die frische Luft hatte meinen Augen gut getan.

Eine Weile stand ich nur da und lauschte. Es gab nichts Besonderes zu hören. Auch nicht zu sehen. Nur das Übliche: Fußgänger auf dem Weg in die Stadt, Kinder, die hinter offenen Fenstern spielten, ein Bus, der sich langsam an der Baustelle vorbeiquälte. In den Baumkronen des Bergfriedhofs sangen Vögel, irgendwo hustete jemand laut. Alles wie immer, alles normal, und das fand ich überhaupt nicht normal.

Wo war die Menschenansammlung, wo waren die Absperrungen, der Notarztwagen, der Leichen­be­statter? Selbst wenn der Mann auf dem Grab keine medizinische Hilfe mehr benötigte und selbst wenn er auf die diskreten Dienste der Pietät Soundso verzichten konnte – schließlich lag er im Prinzip schon dort, wo er hingehörte –, selbst dann vermisste ich jemanden.

Wo blieb die Polizei?

Es klickte leicht, als ich den Ständer meines Fahrrads mit dem Fuß umlegte. Ich schloss es ab und steckte den Schlüssel ein. Die ganze Sache kam mir komisch vor. Die Seitentür des Friedhofs stand offen. Ich betrat das Gelände, sah mich um und ging langsam denselben Weg wie gestern Abend um 11. Eine ältere Frau kam mir entgegen, klein und energisch, bestimmt schon seit Stunden wach. Sie nickte mir kurz zu. Nach einigen Metern blieb ich stehen und schaute hinunter ins Parterre des Bergfriedhofs. Morgendliche geschäftige Betriebsamkeit. Verwelkte Blumen wurden auf den Kompost geworfen, neue eingepflanzt, Frauen – kein einziger Mann war zu sehen – harkten, schnitten und putzten, gossen und begutachteten. Ganz in der Nähe spielten drei Kinder zwischen den Gräbern Verstecken, ihre junge Mutter hielt sie nur mühsam im Zaum. Die Sonne lachte vom Himmel. War das derselbe Ort, an dem ich keine 10 Stunden zuvor einen Toten gefunden hatte?

Ich bog um eine Ecke und sah die Grabplatten von gestern vor mir. Die Gräber – aber keinen Toten. Da war der schmale Weg, da waren die Büsche, die Wurzeln, die Steinplatten, die Namen darauf und sonst nichts. Kein Aufruhr, keine Absperrbänder, kein Polizist und vor allem: keine Leiche. Tabula rasa.

Ich stand unter den mächtigen, leise rauschenden Kastanienbäumen und kratzte mich im Nacken. Natürlich, wo es keine Leiche gab, brauchte man auch keine Behörden. Aber wer hatte den Mann weggebracht? Und wohin, warum, wann?

Oder war ich vielleicht, nein, Unsinn. Irrtum ausgeschlossen: Ich war punktgenau an der richtigen Stelle gelandet, hatte exakt den Weg von gestern Abend eingeschlagen. Die Gräber waren nicht zu verfehlen, es waren schließlich die einzigen weit und breit, die man schmucklos, fast unansehnlich gelassen hatte. Rechteckige Grabplatten aus den Kriegsjahren, roh behauen, darüber ein paar schäbige Holzkreuze. Die üblichen mitteleuropäischen Abschiedsworte: Hier ruht in Frieden …, Der Herr spricht …, auf manchen lediglich der Name, die Daten. Spatzen saßen auf einem Kreuz. Ein warmer Frühlingstag, sonnig.

Eins der drei spielenden Kinder rannte vorbei und stolperte über die eigenen Füße. Wie ein junger Hund, der noch keine Kontrolle über seine tapsigen Gliedmaßen hat. Es rappelte sich auf, lachte über das ganze dreckige Gesicht und rannte zu seiner Mutter zurück. Diesmal unfallfrei. Ich sah ihm nach und rieb mir das Kinn. Verdammt noch mal, wo war der Kerl?

Wo steckte er? Im Grab vielleicht? Auf welchem hatte er überhaupt gelegen?

Dann ein Déjà-vu-Erlebnis: das leichte Zittern der Erde, ein rumpelndes Geräusch von unten, aus der Ebene. In der Rohrbacher Straße fuhr die Straßenbahn aus Leimen Richtung Stadt.

Ich schaute mich um; niemand beachtete mich. Eine Hand am Kinn, wiederholte ich langsam die Schritte, die ich tags zuvor gemacht hatte. Ging noch einmal zurück zum Seiteneingang, kehrte um, versuchte mich an Details der Umgebung zu erinnern. Wie lange hatte ich gebraucht, wo hatte ich gestanden, wo genau war ich gestolpert? Am Ende gelangte ich zu einer der mittleren Grabstellen. Jakob Burkhardt stand auf dem altersdunklen Kreuz. Er war 17 Jahre alt gewesen, als er starb. Sie hatten ihm die gleiche nackte Steinplatte gegeben wie den anderen auch, er hatte ihr Schicksal geteilt. Rechts neben ihm lagen Männer mit polnisch klingenden Namen, links eine Frau, Margarete Neubusch, und alle waren sie im letzten Kriegsjahr umgekommen. Nur auf dem Grab der Frau standen frische Blumen.

Burkhardt … ich glaube, ich hatte mal einen Schulkameraden, einen Alkoholiker, der so hieß.

Und meine Leiche?

Ich setzte mich auf Jakobs Grab, riss ein paar Grashalme aus und überlegte. Theoretisch gab es mehrere Möglichkeiten, die Abwesenheit der Leiche zu erklären. Theoretisch. Zum Beispiel die: Der Tote war gar nicht tot, sondern scheintot und, nachdem er mich ordentlich erschreckt hatte, quietschfidel aufgesprungen und in die nächste Kneipe geeilt. Prima Vorschlag.

Möglichkeit zwei: Der Silberrücken war zurückgekommen, hatte die Leiche in den Kofferraum gepackt und irgendwo entsorgt. Schon besser. Möglichkeit drei: Ein ganz anderer war aufgetaucht, der den Toten kannte oder auch nicht, und hatte aufgeräumt. Aber wer sollte das gewesen sein? Und schließlich viertens: Die Polizei hatte noch in der Nacht einen anonymen Anruf erhalten, den Toten identifiziert und den ganzen Fall aufgeklärt. Das war nicht nur unwahrscheinlich, sondern ausgeschlossen. Man weiß, wie deutsche Behörden arbeiten.

Nein, eines war sicher: Sobald die ersten Wärter oder Besucher des Friedhofs hier ihre Runden drehten, hatte die Leiche nicht mehr an ihrem Platz gelegen. Sie war weggebracht worden, von meinem Freund, dem Pfeffersprayer, oder von einem anderen.

Ich stand auf und ging zurück zum Seiteneingang. Ein Weg von mindestens 100 Metern. Sollte der Silberrücken dazu imstande sein? Ein 70-Jähriger sollte einen ausgewachsenen Mann geschultert, zum Auto geschleppt und in den Kofferraum verladen haben? Sicher, er konnte den Wagen direkt vor dem Seiteneingang geparkt haben, um Anstrengung und Risiko zu minimieren. Trotzdem: eine beachtliche Leistung.

Zurück am Grab begann ich, die nähere Umgebung nach Spuren abzusuchen. Das war eigentlich die einfachste Sache der Welt. Nur, dass ich nicht wusste, wonach ich suchte. Die Wege zwischen den Gräberreihen bestanden aus festgetretenem Kies und Sand; abgesehen von der einen, mir wohlbekannten Baumwurzel waren sie eben und wiesen keine Schleif- oder Trittspuren auf. Ich spähte über sie hinweg. Ich ging in die Hocke. Ich ließ mich auf die Knie nieder. Erstaunlich, wie vielfarbig Kies ist, wenn man ihn aus der Nähe betrachtet. Nach einigen Minuten wandte ich mich dem Gras zu, das zwischen den Gräbern wuchs. Und dort wurde ich zum ersten Mal fündig: ein Knopf, klein und braun, mit vier Löchern. Ein Allerweltsknopf, überhaupt nichts wert. Der konnte von jedem Friedhofsbesucher jeglichen Geschlechts stammen. Aber besser als nichts. Ich steckte ihn ein.

Und so ging es weiter: Je weiter ich meine Nachforschungen ausdehnte, desto mehr fand ich. Nichts davon wies in eine eindeutige Richtung. Zu dem Knopf gesellte sich der morsche Holzgriff eines kleinen Küchenmessers; dann kamen Papiertaschentücher hinzu, ein Einmachgummi, ein Bonbon, eine Zigarettenschachtel, ein Fetzen Papier mit unleserlicher Aufschrift, eine kaputte Trillerpfeife, ein weiterer Knopf und ein Gießkannenaufsatz. Und ein nagelneuer Euro, immerhin.

Das also war das Ergebnis meiner Nachforschungen: ein Geldstück und wertloses Strandgut der Zivilisation. Machte hier niemand sauber? Das Papier versuchte ich zu entziffern, aber die Schrift war vom Tau so verwaschen, dass man nur mit Fantasie den Namen Kurt oder Karl und eine sechsstellige Zahl, vielleicht eine Telefonnummer, hineinlesen konnte. Murrend und meinen Beruf verfluchend, suchte ich auf allen vieren weiter, bis ich zwei Schuhe fand.

Zwei braune Schuhe. Schuhe, in denen noch die Füße der Besitzerin steckten.

»Nun sagen Sie mal«, schallte es aus der Höhe herab. »Was machen Sie denn da unten?«

Ich richtete mich auf. Vor mir stand die Frau, der ich am Friedhofseingang begegnet war. Eine mindestens 80-jährige Großmutter, Urgroßmutter, mit schluchtentiefen Falten im Gesicht, die Gießkanne in der einen, die Harke in der anderen Hand. Sie war keine eins 60 hoch, aber ihre hellen Augen blitzten wach und misstrauisch.

»Na, was ist, junger Mann? Suchen Sie was?«

Die hatte mir gerade noch gefehlt. Ich stand auf und klopfte mir den Sand von den Knien.

»Sozusagen, ja«, brummte ich.

»Wissen Sie, wie das aussah? Als würden Sie den Boden abschnuppern.«

»Wenn Sie das sagen …«

»Und wozu, wenn ich fragen darf?«

Natürlich durfte sie. Ihre Stimme erinnerte mich an meine Großmutter. Ein Pfälzer Knochen mit eisernen Prinzipien und viel Humor, auch wenn das widersprüchlich klingt. Von ihr bekam ich mehr Ohrfeigen als von der gesamten Restverwandtschaft, dennoch habe ich sie in bester Erinnerung. Sie brachte mir bei, dass Erwachsene auch nur Menschen sind, fragwürdig wie alles andere, und dass ich meinen eigenen Vorstellungen folgen sollte, nicht den verquasten Plänen meiner Eltern. Wenn die gute Frau wüsste, was aus mir geworden ist … Im Übrigen war meine Großmutter die Einzige ihrer Generation, mit der man über das reden konnte, was vor 1945 geschehen war. Die Einzige, die das Wort Schuld in den Mund nahm.

Die alte Frau auf dem Bergfriedhof war ganz anders als meine Großmutter. Aber ich glaubte zu bemerken, dass ihre scheppernden Worte von einem fröhlichen Zwinkern im Augenwinkel begleitet wurden. Einem versteckten Zwinkern freilich.

»Das ist ein Test«, sagte ich. »Man schnuppert hier herum, weil … wir nennen es Schnuppertest.«

Sie kniff die Augen zusammen und schwieg.

»Das ist natürlich nicht der offizielle Name. Schnuppertest. Da geht es um so eine Art Voruntersuchung. Wir vom Landesamt für Naturschutz …«

»Naturschutz?«, blaffte sie mich an. »Auf dem Friedhof?«

»Gerade da. All die Leichen, ich meine die Bestatteten, mit ihren Prothesen und Goldzähnen und den vielen Tabletten. Haben Sie sich mal überlegt, wo das Zeug hinsickert, wo das verbleibt? Ich weiß, das klingt jetzt nicht schön, aber technisch gesprochen ist es Giftmüll, was da aus den Särgen rausgeschwemmt wird. Schwermetalle, chemische Cocktails. Sicher, hier liegen Ihre Angehörigen, für Sie ist das etwas Besonderes. Eine Kultstätte. Aber aus Behördensicht ist der Bergfriedhof eine Halde voller Gefahrgut. Eine Zeitbombe. Und wenn die hochgeht, mein lieber Scholli.«

»Schnuppertest, nie gehört«, sagte sie. »Und was haben Sie mit Ihren Augen angestellt?«

»Das sind die Probleme, mit denen wir tagtäglich zu kämpfen haben. Der Widerstand der Bevölkerung. Handgreiflicher Widerstand. Dabei geht es nur um einen Schnuppertest.«

Sie schwieg. Das ermunternde Zwinkern in ihren Augenwinkeln war verschwunden. In der Hand hielt sie die Harke wie eine Waffe.

»Okay, ich habe etwas gesucht«, sagte ich. »Habs gestern Abend hier verloren, und jetzt ist es weg.«

»Soso«, machte sie.

Ich zuckte die Achseln und grinste schwach. Und als sie immer noch schwieg, sagte ich: »Tut mir leid. Ich quatsche halt gerne.«

»Schon gut«, meinte sie. »Viel Erfolg bei der Suche.«

Dann ging sie. Ich sah ihr nach, bis sie hinter einer Biegung des Weges verschwunden war. Sie schlurfte, hielt sich aber bemerkenswert aufrecht. Ein wenig ähnelte sie wirklich meiner Großmutter.

Die Lust auf weitere Schnuppertests war mir vergangen. Ich packte meine Fundstücke ein und verließ den Friedhof. Stieg auf mein rotes Fahrrad, ergriff die Lenkstange des anderen und fuhr davon. Den Kopf voller Gedanken, die Taschen voller Müll.

956,89 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
423 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839233603
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают