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Diese Geschichte machte mich bei Maria zum Helden. Einzubilden brauchte ich mir allerdings nichts darauf. Jeder, der sich mit den Bullen anlegt, wird im Gasthaus Zum Englischen Jäger, so heißt Marias Kneipe offiziell, zum Revolutionär erklärt, da gilt schon ein Sozialhilfeempfänger als Robin Hood. Und von Sozialhilfeempfängern wimmelt es bei Maria. Was hier herumlungert, würde so manchem anständigen Heidelberger schlaflose Nächte bereiten: Penner, gescheiterte Akademiker, linke Jugend, Bettler, Punks und Freaks. Aber auch das genaue Gegenteil dieser Kundschaft, nämlich alt eingesessene Heidelberger, deren Horizont exakt vom einen Ende der Bergstraße bis zum anderen reicht, keinen Meter weiter. Hier begegnen einem Gestalten, denen einfach alles zuzutrauen ist, knorrige Fremdenlegionäre mit Tätowierungen am Hals, vernarbt und schweigsam, am selben Tisch friedliche Trottel, die sich abends von ihrem Betreuer ins Heim bringen lassen, außerdem selbsternannte Propheten, Ökofritzen, Aussteiger, Wanderprediger, Hausbesetzer und Ex-Knackis. Alle vereint ein und derselbe schlichte Wunsch: in Ruhe ein billiges Bier zu trinken und über die oberen Zehntausend herzuziehen.

Hier war ich goldrichtig.

Ich traf am Sonntagnachmittag gegen drei ein, um von meinen Abenteuern zu berichten und dem schönen Herbert zu zeigen, wie man Schach spielt. Übrigens gleichzeitig, doch das störte keinen, am wenigsten Herbert. Beim Spielen hat er keine Eile: überlegt, kratzt sich knirschend die Bartstoppeln, überlegt, stopft sich die Pfeife, puhlt in den Zähnen herum, verzieht sich aufs Klo, um dort weiter zu überlegen … Ich quatsche derweil mit Maria, der Glatzköpfigen, bestelle ein Bier nach, lese Zeitung. Irgendwann kehrt Herbert zurück, legt die Pfeife zur Seite, macht eine fatalistische Geste und entschließt sich unter Seufzen und Wehklagen vielleicht zu einem Zug. Je inbrünstiger er dabei jammert, desto sicherer stehe ich vor dem baldigen Matt.

»Die Eröffnung, Max«, lautet sein Lieblingsspruch. »Schon meine Eröffnung war ein Fiasko.« Heute bekam ich ihn dreimal zu hören.

Der schöne Herbert ist zwar nicht schön – angeblich war er das nie –, aber bemerkenswert pessimistisch – das war er schon immer –, und er hat nur einen Arm. Ob das eine mit dem anderen zusammenhängt, wage ich nicht zu beurteilen. Vielleicht hat er als Jugendlicher noch ein wenig fröhlicher in die Welt geblickt, bevor ihm ein Blindgänger den rechten Arm bis zur Schulter abriss. Das war im Jahr 48 in Mannheim-Feudenheim, als er und seine Freunde taten, was alle Jungs ihres Alters taten: Sie liefen durch die Gegend, buddelten in der Erde herum und spielten mit den Gegenständen, die sie fanden. Zwei von ihnen überlebten es nicht, Herbert verlor seinen Arm. Da war er sieben. Aus irgendeinem Grund wurden seine Eltern viel zu spät benachrichtigt, und als er aus der Operation erwachte, war lediglich eine Krankenschwester im Raum, die ihm erklärte, worauf Vater und Mutter bei der Pflege zu achten hätten. Meine Mutter ist verschüttet, sagte Herbert, und mein Vater in Stalingrad vermisst; die Schwester wurde blass, doch eine Viertelstunde später standen Herberts Eltern im Zimmer und verpassten ihm eine Ohrfeige. Warum auch immer.

Herbert erzählt diese Geschichte gerne, um seine Zuhörer zu amüsieren, aber wann er selbst zum letzten Mal herzhaft gelacht hat, weiß keiner. Mit links kommt er prima zurecht, behauptet er. Wird schon stimmen.

Jedenfalls gaben seine langwierigen Denk-, Kratz- und Pfeifenstopfpausen mir Gelegenheit, häppchenweise von meinem heroischen Widerstand gegen die Staatsgewalt zu berichten. Die halbe Kneipe lauschte aufmerksam: die Schachkiebitze an unserem Tisch, die Alten vom Stammtisch, zwei langhaarige Motorradfahrer an der Theke und natürlich Maria. Außer Hörweite, auf der anderen Seite des Raumes, saßen noch ein knutschendes Pärchen, drei Penner, von denen einer sanft entschlummert war, und ein träger Dicker, der gelangweilt an seiner Limo nippte.

Als ich berichtete, wie meine Verfolger mit Blaulicht, aber gegen die Fahrtrichtung in die Plöck eingefallen waren, gab es kein Halten mehr.

»Sind die jetzt gedopt?«, rief Tischfußball-Kurt begeistert; an der Theke lachten die beiden Motorradfahrer, dass ihre Wampen wackelten. Ein Langer mit Nickelbrille auf der spitzen Nase, den ich für höchstens 35 hielt, stammelte ergriffen: »Wie damals! Wie damals!« und erklärte zu meiner Überraschung, er habe schon 1968 vom Dach der Alten Aula herab zum bewaffneten Kampf und zur Bildung von Bürgerwehren aufgerufen, was ihm drei Wochen Knast eingebracht habe; da wollten die anderen nicht zurückstehen und prahlten mit den 70er-Jahren in Heidelberg, als letztmals Seminare geräumt, Studenten verhaftet und Brandreden gehalten wurden. Der heiße Herbst, jawohl! Berufsverbote, Staatsterrorismus, denen haben wir es aber gezeigt! Das waren noch Zeiten, schrieen die Altrevoluzzer und klopften mir anerkennend auf die Schulter.

Selbst der schöne Herbert lächelte trübsinnig vor sich hin.

»Schon gut«, wehrte ich ab. »Im Grunde wollte ich doch nur, dass die zwei mich nicht kriegen …«

Maria brachte Nachschub an Bier. »Auf die Räterepublik!«, schrie einer. Laune und Umsatz stiegen.

»Und wie ging es weiter?«, fragte Tischfußball-Kurt, der Mann, der sich ausschließlich von Orangensaft ernährt.

Ich erzählte von meiner Flucht durch die Plöck und von den Schulkindern, die mir als Puffer dienten.

»Das ist verdammt typisch«, kom­men­tierte die Nickelbrille. »Typisch für die heutige Jugend. Träge, weiche Masse. Bremst alles ab. Kein revolutionärer Impetus.«

»Na, ich war froh drum«, sagte ich. »Fliege nach der Vollbremsung in hohem Bogen durch die Gegend, links und rechts kippt das Gemüse zur Seite, rennt auseinander, fängt an zu flennen.«

Schade, ich war gerade so schön am Fabulieren. Weiter kam ich nicht, denn nun geschah etwas völlig Unerwartetes. Es war nicht ganz so verheerend wie der Blindgänger von Mannheim-Feudenheim, aber ähnlich eindrucksvoll.

Im ersten Moment hätte ich auf ein fernes Erdbeben getippt. Das Grollen eines geschundenen Planeten, tektonische Verschiebungen unterhalb des Englischen Jägers. Gläser klirrten, Stühle rumpelten, eine leere Flasche fiel zu Boden. Die Revolutionäre an meinem Tisch drehten sich um und hielten den Atem an. Plötzlich wurde es sehr still in der Gaststube.

Das Epizentrum des Erdbebens schien drüben beim Stammtisch zu liegen. Ich bemühte mich, zwischen den Köpfen und Schultern meiner zahlreichen Zuhörer hindurchzulugen. Ohne Erfolg; doch dann tauchte über ihnen ein anderer Kopf auf wie ein Krake aus der Tiefsee. Der Kopf war rot, rund und groß. Es ließ sich erahnen, welche Ausmaße der dazugehörige Körper hatte. Aber als meine zurückweichenden Vorderleute die Sicht freigaben, war ich doch überrascht. Was für ein Klumpen Fleisch! Solange die Stammtischler saßen, achtete man nicht auf ihre Statur, und sie saßen eigentlich immer.

»Was ist los?« fragte ich.

In dem großen Kopf befand sich ein großer Mund, und dieser Mund öffnete sich wie ein Scheunentor. »Du warsch des also«, dröhnte es aus dem Mund. »Du!«

Eine scheppernde Bassstimme, aber es war kein Mann. Es war eine Frau, und sie schwankte, als sie ihren tonnenschweren Leib auf unseren Tisch zu bewegte.

»Du also«, keuchte sie. »Wart du nur …«

»Moment, Moment«, sagte ich.

Ich konnte mir nicht helfen, in diesem Augenblick musste ich an ein Bilderbuch aus meiner Kindheit denken. Es erzählte, wie die Soldaten Alexanders des Großen von den Elefanten der indischen Heere in Angst und Schrecken versetzt wurden. Alles an der Frau war breit und mächtig, ihre Hüfte, ihre Brust, von den Oberarmen ganz zu schweigen. Auf der Oberlippe sprossen dunkle Bartstoppeln, über dem Kehlkopf schaukelte träge ein mächtiges Doppelkinn. Hinter ihr feixten ihre Freunde, diese Clique von Bergstraßen-Mafiosi, die von ihren Mieteinnahmen leben wie die Maden im Speck und sich trotzdem nur Marias billigsten Landwein leisten.

»Du warsch der Dorschgegnallde«, grollte die Natur­erscheinung, »vun dem mei Ängelin vazählt hett. Des ahme Schessica!«

»Was? Wie?«, stotterte ich.

»Des ahme Schessica.«

»Jessica?«

Sie rückte näher. Alles, was im Weg stand – Stühle, Tische, Gäste –, räumte sie mit rudernden Armbewegungen beiseite. »Kommt des Mäde geschdern hemm, flennt Rotz unn Wassa unn vazählt vun so nem Beglobbde uffem Rad, wos iwwerfahre hett. Is de ganze Dah nur noch am Flenne, des ahme Ding!«

»Das tut mir sehr leid«, stammelte ich hilflos, »aber …«

»Mensch, er war doch auf der Flucht«, sprang mir Tischfußball-Kurt dankenswerterweise bei. »Die halbe Polizei der Stadt war hinter ihm her.«

»Schessica«, schnaufte die Frau unbeeindruckt, »mei ahmes Schessica« – und schon befand ich mich in Reichweite ihrer astdicken Arme. Sie schien zum Äußersten entschlossen. Meine Revolutionäre wichen zurück, drückten sich an die Wand, und der mit der Nickelbrille hätte fast seine Zigarette verschluckt. Ich war starr wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht. Diese Tonne war doch kein Gegner! Da holte sie auch schon zum Schlag aus. Ich duckte mich, wich zur Seite aus und sprang über ein paar Stühle, bis ich hinter Herbert Deckung fand. Bevor sich entschied, ob mir das Weib nachsteigen würde, trat ihr Maria in den Weg. Und das war keine Selbstverständlichkeit. Denn die glatzköpfige Wirtin war zwei Köpfe kleiner als das tobende Monstrum und dreimal so leicht. Doch die Angst um ihr Mobiliar verlieh ihr Löwenkraft.

»Basta!«, schrie sie. »Schluss jetzt! Boxe kennt ihr drauße, signorina, aber net in meine trattoria. Finito!«

Das half. Marias kurpfälzisch-sizilianischer Mischmasch wirkte wahre Wunder; schnaubend zog sich die Dicke zurück, dann gab es eine Flasche Rotwein aufs Haus, und ein paar Minuten später war das Donnergrollen vorüber.

Wir atmeten auf.

Bewacht von Maria, blieb Jessicas Großmutter folgsam, wenn auch finstere Verwünschungen murmelnd, vor einem winzigen Weinglas sitzen; ringsum meckerten die Stammtischler vor Freude über den gelungenen Auftritt, bohrten in der Nase und fragten sich, wann sie zum letzten Mal so herzlich gelacht hatten. Wir Helden nahmen still an unserem Tisch Platz, die grimmigen Blicke der Alten brannten wie Feuer auf uns. Eine Zeit lang sprach keiner.

Auch ich schwieg. Das war das Ende meiner schönen Geschichte. Selbst wenn sie nach der Fortsetzung verlangten, würde ich sie ihnen nicht erzählen, diesen Hasenfüßen. Räterepublik, von wegen. Dach der Alten Aula, lachhaft. Sie würden nie erfahren, was ich auf dem Bergfriedhof und in der Umkleidekabine der Boutique in der Plöck erlebt hatte. Mich so im Stich zu lassen!

Immer noch herrschte betretene Stille, unterbrochen nur vom Klicken der Feuerzeuge und dem leisen Klirren behutsam abgesetzter Gläser; dann aber merkte ich, dass Herbert in aller Seelenruhe einen Zug getan hatte. Einen verdammt guten Zug. Ich fluchte. Meine Dame war in akuter Gefahr und meine Konzentration dahin.

»Meine Eröffnung«, sagte Herbert entschuldigend. »Wenn die erst mal verkorkst ist, geht nix mehr.«

»Man siehts, alter Jammerlappen«, brummte ich.

Herbert zog nachdenklich an seiner Pfeife, dann nahm er sie aus dem Mund, zeigte auf mein linkes Auge und meinte: »So ganz haben dich die Jessicas dieser Welt aber nicht auffangen können, oder?«

»Die haben halt nicht die Konsistenz ihrer Großmütter«, flüsterte ich zurück. Die Alte am Stammtisch spitzte bestimmt ihre fetten Ohren. Hätte mein prächtiges Veilchen gerne um ein weiteres ergänzt. Oder mir die Nase krumm geschlagen. Ich verzichtete dankend. Lieber flüstern.

Ich machte einen Zug mit dem Springer. Gut war er nicht, aber er lenkte ab. Sollten Herbert und die anderen ruhig denken, ich hätte mir die Schrammen beim Sturz zugezogen. Diese Maulhelden ahnten ja nicht, was man in Heidelberg so alles erlebte.

9

Zumindest erlebte man etwas, wenn man zum falschen Zeitpunkt durch die Plöck raste und auf eine träge Masse von Schulkindern traf. Lauter Jessicas – aber das wusste ich gestern Mittag noch nicht. Ich saß auf meinem roten Fahrrad und schaute mich um. Wer war bloß auf den unglückseligen Gedanken gekommen, die Straße zum Schulhof zu machen? Und wo befanden sich meine Verfolger?

Ich sah sie nicht. Wahrscheinlich hatten sie ihren Wagen rechtzeitig zum Stillstand gebracht und kämpften sich nun zu Fuß durch die Menge. Lange würden sie nicht auf sich warten lassen. Ich schob ein paar Halbwüchsige beiseite, blaffte Mädchen in rosa T-Shirts an – ja, glotzt nur blöd, ich bin ein Meteorit! – und hatte endlich wieder freie Bahn. Von meinem Rennrad keine Spur. Unter so vielen Anstrengungen hatte ich es hierher geschleppt, doch nun musste ich es der Ordnungsmacht opfern. Verdammt ärgerlich war das.

Egal. Ich musste weiter. Rechts und links von mir stob alles auseinander.

Aber ich kam nicht recht vorwärts. Das Hinterrad schien verzogen zu sein, der Reifen schleifte am Rahmen. Eine Folge des Sturzes wahrscheinlich. So ein Mist! Ich biss auf die Zähne, machte unter äußerster Kraftanstrengung ein wenig Boden gut, fuhr an einer Zeitungswand vorbei, wo ich in früheren, besseren Zeiten oft gestanden hatte. Morgen würde ich wieder dort stehen: in der Zeitung.

Aber noch war ich frei und unerkannt. Ich fluchte, ich kämpfte, ich schwitzte – und brachte mit Mühe einen guten Steinwurf zwischen mich und die Unglücksstelle. Dann verfehlte mein linker Fuß die Pedale, und ich stürzte hin. Ich rappelte mich sofort wieder auf, aber nun blockierte das Hinterrad vollständig. Was tun?

In diesem Moment kam mir zum ersten Mal ein Auto entgegen; kein Kleinwagen, sondern eine schwarze Geländemaschine mit Breitreifen und Stoßstangen, die dir auf Safari einen ausgewachsenen Elefanten weghauen. Sehr langsam fuhr der Jeep, zögerlich fast. Das kam mir gerade recht. Ich packte mein Rad, warf es in eine Hofeinfahrt, wartete, bis der Wagen an mir vorübergeschlichen war, und schlüpfte, hinter ihm Deckung suchend, in das nächstbeste Geschäft. Eine helle Klingel ertönte.

Dann war endlich Ruhe.

Wohltuende Ruhe.

Als sich die Ladentür sanft schloss, hielt ich mich irgendwo fest und atmete erst einmal tief durch. Ließ die Lungenflügel arbeiten wie ein vorm Ertrinken Geretteter. Wenn die Rettung auch nicht von Dauer war: Wenigstens diese eine Tür befand sich zwischen mir und meinen Verfolgern. Hier war das Paradies. Fehlte nur noch der Engel mit dem Flam­menschwert, der den beiden Uniformierten den Eintritt verweigerte. Oder eine Schlange oder ein Teufel, egal.

In meinem Paradies, immerhin, musste man nicht nackt herumlaufen. Nicht ganz jedenfalls. Da gab es Blusen, T-Shirts, Unterwäsche, Dessous … eine Damenboutique. Klassische Musik rieselte aus Deckenlautsprechern. Vor einem hohen Spiegel stand eine schlanke Verkäuferin neben einer weniger schlanken Kundin. Sie nickte mir geschäftig zu.

»Meinen Sie?« fragte die Kundin. »Ich weiß nicht. Ich bin wirklich verunsichert. So kann ich meinem Mann nicht kommen.«

Ich ging nach hinten und betrat eine Umkleidekabine. Ohne Kleidungsstück, aber es war ja auch eine Damenboutique. Ich zog den Vorhang vor und ließ mich auf einen gepolsterten Hocker fallen.

Jetzt trennten mich eine Tür und ein Vorhang vom Rest der Welt.

Was soll ich groß erzählen? In solchen Momenten, in denen die Spannung halbwegs von einem abfällt und Furcht an ihre Stelle tritt, ereignet sich nicht viel Berichtenswertes. Ich saß auf diesem blöden Hocker und starrte gegen den dunkelroten Vorhang. Er bewegte sich leicht im Luftzug. Die Stimme der Kundin drang gedämpft zu mir.

Ich saß da und wartete. Ganz ruhig. Mein Hintern wärmte den Hocker, der Hocker war gepolstert. Meine Füße standen flach auf dem Boden, schön parallel nebeneinander, wie es sich für Füße gehört. Ganz ruhig. Die Knie rechtwinklig, die Unterarme auf den Oberschenkeln, die Hände gefaltet. Ich wartete. Den Kopf hielt ich ein wenig gesenkt, ich starrte auf eine Stelle des Vorhangs, die sich annähernd einen Meter über dem Erdboden befand. Nein, eher weniger, ich will nicht übertreiben. Vielleicht 85 Zentimeter. Es käme auf meine Entfernung vom Vorhang an, das heißt auf die Entfernung des Hockers, an dessen Platzierung ich nichts geändert hatte, und somit auf die meiner Augen vom Vorhang. Wäre diese Entfernung bekannt, könnte man mithilfe einer einfachen Winkelgleichung – natürlich flösse meine spezifische Kopfneigung mit in die Rechnung ein – die Höhe jener Vorhangstelle exakt ermitteln. Ich will nicht für kleinkariert gelten, aber mir liegt an der korrekten Beschreibung meiner Haltung, denn sie soll verdeutlichen, dass ich mich in diesen Minuten nicht mehr rührte als der Schlussstein der Alten Brücke und dass ich rein äußerlich vom Inventar der Boutique nicht zu unterscheiden war.

Die Betonung liegt auf äußerlich.

In meinem Kopf hingegen spielte ein halbes Dutzend Kinos lauter verschiedene Filme zur gleichen Zeit ab, und sie brachten mich beileibe nicht alle zum Lachen. Einige Horrorszenarien waren auch dabei. Ich sah vermummte Polizisten mit gezogener Dienstpistole durch die Plöck hasten, Haustüren aufbrechen, in Megaphone brüllen, harmlose Passanten links und rechts gegen die Wand schleudern. Ich hörte das Trommeln ihrer Stiefel auf dem Asphalt. Sie wurden immer mehr und mehr, Mannschaftswagen, grüne Minnas kamen von allen Seiten, spuckten Hundertschaften aus, MGs im Anschlag, Helikopter kreisten, Gullydeckel hoben sich, Laternenmasten fingen an loszuballern. Polizeihunde schnüffelten hechelnd herum, schlugen bei meinem Rad an, fanden meine Fährte, hetzten in Richtung Boutique, wo sich zwei Frauen ängstlich hinter dem Ladentisch verkrochen.

Draußen blieb alles ruhig. Ich blieb ganz ruhig.

Ich wechselte das Kino. Ein anderer Film: kleines Fernsehspiel. Alle meine Freunde kamen darin vor, sie formierten sich zum Chor einer griechischen Tragödie und riefen gemeinsam: Du verdammter Idiot!

Ich schwieg, denn ich wusste, sie hatten recht.

Du verdammter Idiot! hallte es durch meinen Schädel, welcher Teufel hat dich geritten, eine Verfolgungsjagd mit der Polizei anzuzetteln? So etwas darf einem Privatflic einfach nicht passieren. Darf es nicht, Max! Deinen Job kannst du an den Nagel hängen. Oder such dir eine andere Stadt. Hier kommst du auf keinen grünen Zweig mehr, zieh Leine.

Vielleicht … vielleicht finden sie mich ja nicht.

Kennst du eine griechische Tragödie mit Happy End? – Ich sah meine Ex-Frau mitten in dem Chor stehen; sie blickte am vorwurfsvollsten von allen.

Ich kenne überhaupt keine griechische Tragödie. Außerdem sind wir hier in Heidelberg.

Vergiss es, Max. Die Geschichte mit dem Toten auf dem Bergfriedhof kannst du abhaken, ein für allemal. Außer Spesen nichts gewesen. – Abgang Chor zur Seite.

Ganz ruhig. Ein Zeh meines linken Fußes juckte ein wenig. Ich rührte mich nicht. Sie hatten ja recht. Es war vorbei. Außer Spesen nichts gewesen. Nix, absolut nix gewesen. Nur gelesen, die Besen, der Tresen. Im Senegal wohnen die Senegalesen. Und wer wohnte auf dem Bergfriedhof? Keiner, der sich reimte.

Ich horchte. Das Spielfilmchaos in meinem Kopf verebbte. Der Abspann lief.

Ganz, ganz ruhig.

Okay, noch hatten sie mich nicht, und vielleicht gab es eine kleine Chance, unerkannt hier herauszukommen. Aber sie brauchten bloß meine beiden Fahrräder zu finden, schon war ich geliefert. Das Rennrad trug eine registrierte Seriennummer.

Draußen ging die Türklingel.

Ich lauschte angestrengt. Es war nichts Deutliches zu vernehmen: zwei, drei leise Stimmen vielleicht. Nach bewaffneten Hundertschaften hörte sich das nicht an.

Der Vorhang bewegte sich wieder sachte. Ich hob zum ersten Mal nach langer Zeit den Blick und ließ ihn langsam, sehr langsam den dunkelroten Vorhang hinaufwandern. Einen Zentimeter, noch einen Zentimeter … Bis ich meinen Kopf gerade hielt.

Die Minuten verstrichen. Nichts passierte, nichts war zu hören. Totenstille.

Was war da los? Stand die geballte Staatsmacht der Bundesrepublik Deutschland mit Gewehr im Anschlag vor dem Geschäft und wartete, bis ich auftauchte? Unsinn. Ich sah zu viel fern. Es herrschte Stille in der Boutique, es herrschte Stille vor der Boutique, und der naheliegendste Grund hierfür war der, dass mich meine übermotivierten Verfolger aus den Augen verloren hatten. Entweder tappten sie immer noch verzweifelt durch das Labyrinth aus Schulkindern, oder mein simples Manöver mit dem Geländewagen hatte gefruchtet. Vielleicht gelang es mir sogar, meine Fahrräder zu retten. Es bestand also noch Hoffnung.

Ich wartete. Nun juckte auch ein Zeh rechts.

Nach endlos langer Zeit, in der wirklich überhaupt nichts passierte – was war eigentlich mit der dicken Kundin? –, nach quälend leeren, ereignislosen Minuten entschloss ich mich, mein Versteck zu verlassen. Der Entschluss war das eine. Es dauerte aber fast noch einmal so lange, bis alle meine lädierten Körperteile, von den juckenden Zehen bis zum brummenden Schädel, sich bereit und willens zeigten, diesem Entschluss Folge zu leisten.

Und dann war es so weit: Langsam schob ich den roten Vorhang einen klitzekleinen Spalt zur Seite.

Als Erstes traf mein Blick auf einen kurzen blauen Rock, der zwei Meter entfernt an einem Kleiderbügel hing. Das freute mich. Was ich als Nächstes sah, freute mich weniger. Zugegeben, es war nur ein kurzer freudloser Moment, aber der hatte es in sich.

Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte ich deutlich und klar eine Faust vor meinen Augen. Eine Faust: geballt und kräftig und bereit zuzuschlagen.

Der Vorhang dämpfte den Schlag minimal; mit einem Seufzen sank ich in mein Versteck zurück und fiel gegen den gepolsterten Hocker.

956,89 ₽
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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
423 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839233603
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