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Ich

Der Abend verspricht besser zu werden, als es die Stunde auf dem Sportplatz erwarten ließ. Verena, Jasmin und Kathy und auch der gut gebaute Miro sind kein Thema mehr. Wir genießen die laue Nacht auf der Hollywoodschaukel im Garten. Ein Gläschen Rotwein für mich, ein Weißer für Claudia und über uns die Sterne. Es könnte kaum romantischer sein. Wäre da nicht mein Handy, dessen nervender Klingelton in Konkurrenz mit dem Konzert der Grillen tritt und diese in puncto Lautstärke locker schlägt.

»Such dir doch endlich mal einen angenehmeren Klingelton«, mault Claudia. »Es gibt da unendlich viele.«

Genau das ist das Problem. Das Angebot macht mir die Auswahl zur Qual und so lasse ich es gleich bleiben. Außerdem verstehe ich nicht, was ein angenehmer Ton bewirken soll. Am Ende höre ich diesem lieber zu, als abzuheben?

Es ist Karl Loibl. Überqualifizierter Landpolizist und Freund.

»Servus, Moritz!«

»Servus, Karl! Was gibt’s? Ich hoffe, nichts Dienstliches.« Wohl kaum, denke ich. Zumal unsere Zuständigkeitsbereiche durch die Bezirksgrenze zwischen Niederbayern und der Oberpfalz fein säuberlich getrennt sind. Diesmal jedoch anscheinend nicht.

»Leider doch dienstlich. Ich hoffe, ich störe euch nicht bei etwas Wichtigem?«

Claudia, die Hollywoodschaukel, die Sterne und der Wein. Alles in allem schon ganz schön wichtig. Aber ein Anruf Karls am Abend dieses Feiertags lässt ebenfalls Bedeutendes vermuten.

»Wenn du Claudias Gesicht sehen könntest, würdest du gleich wieder auflegen.«

»Ich würde Claudias Gesicht viel lieber sehen als deines. Gleich, welche Laune sie hat.«

Na so was. Karl als Charmeur. Wusste ich noch gar nicht.

»Grüß dich, Karl«, meldet sich die Angebetete aus dem Hintergrund. »Lass dich nicht abwimmeln. Moritz schiebt doch ohnehin nur Langeweile. Er sitzt nur bei mir, um mich von einem tollen Fußballspieler abzulenken.«

Also doch! Kann sie meine Gedanken lesen? Ist diese Gabe im zweiten X-Chromosom versteckt? Ich ziehe eine Grimasse und flüchte mich zu Karl. »Also, was ist los?«

»Ein Unfall. Kleinlaster gegen Baum. Ich bin hier oben zwischen Wettzell und Viechtach. Ziemlich üble Sache. Ein Toter.« Kurz und prägnant. Karl eben. Doch was geht mich das an? Ich bin – wie sagt man so schön im Behördendeutsch – weder sachlich noch örtlich zuständig. Ein Unfall ist ein Unfall und kein Mord. Und Wettzell gehört zu Bad Kötzting, Cham und der Oberpfalz, während sich das Feld meiner Schlachten auf Niederbayern beschränkt. Noch ehe ich Karl diese Überlegungen offenlegen kann, fährt er fort: »Ich weiß, du bist kein Verkehrspolizist, aber das ist auch kein gewöhnlicher Unfall, glaub mir.«

»Kein gewöhnlicher Unfall? Was meinst du damit?«

»Komm einfach her und schau dir die Sauerei selber an, okay?«

Eigentlich nicht, aber wenn Karl mich bittet, dann sage ich nicht Nein. Nicht nach allem, was wir beide im letzten Jahr zusammen erlebt haben. »Also gut. Ich bin in 15 Minuten da.«

»Danke. Und grüß Claudia von mir!«

»Mach ich«, sage ich und auf ein Zeichen von ihr: »Liebe Grüße auch von ihr.«

Damit lege ich auf. Schulterzuckend sehe ich sie an. »Ich muss noch mal weg.«

»Geht klar. Wenn Karl ruft.« Sie sagt das weder ärgerlich noch schnippisch. Auch sie weiß, was Karls Freundschaft bedeutet. Auch für Jana.

»Hast du eine Ahnung, warum er deinen Rat nicht angenommen hat und nicht zur Kripo gegangen ist? Er ist doch deiner Meinung nach ein außergewöhnlich talentierter Polizist.« Sie beantwortet ihre Frage mit einer weiteren. »Denkst du, es ist wegen Jana?«

»Vielleicht ist Jana nicht der einzige Grund, wohl aber der wichtigste. Sie könnte ohne Karl niemals ein zweites Leben beginnen. Nicht nach dem, was sie durchgemacht hat.« Und nicht nach dem, was sie getan hat. Dieses Geheimnis bleibt jedoch unausgesprochen zwischen ihr, Karl und mir.

»Außerdem liebt er sie.«

»Ich dich auch.« Ich beuge mich zu ihr hinab und küsse sie auf die Lippen.

»Und jetzt verschwinde«, meint sie. »Ich gönne mir noch ein Glas Wein und dann lass ich meine Gedanken mal in die Umkleidekabine des TSV wandern. Mal sehen, wie sich dieser Miro so unter der Dusche macht.«

Jetzt ist es amtlich: Sie kann meine Gedanken lesen!

*

Blaues Blitzlichtgewitter zerreißt das Dunkel der Nacht und verrät die Unfallstelle schon von Weitem. Die reflektierenden Leuchtstreifen von Feuerwehruniformen tauchen vor mir auf. Zwei junge Männer bedeuten mir, anzuhalten. Mein aus dem Fenster gehaltener Dienstausweis öffnet mir die Absperrung. Rechts neben der Straße weisen umgeknickte Sträucher und dünne Bäume den Weg des Unfallautos. Ich steige aus, sehe einen Kollegen von der PI Bad Kötzting, der mir den Weg weist. »Guten Abend, Herr Buchmann. Kein schöner Anblick da unten.«

Das hört sich ja wenig verheißungsvoll an. Die Feuerwehr hat die Szenerie gut ausgeleuchtet, sodass ich ohne größere Schwierigkeiten den kurzen, aber steilen Abhang hinabklettern kann. Das Unfallfahrzeug ist ein weißer VW-Kleintransporter. An der Seite verrät in grünen Lettern die Aufschrift Green Mountain Electronics den Eigentümer des Haufens Schrott. Denn mehr ist von dem Wagen nicht übrig geblieben. Eine Kiefer hat die Fahrt des Wagens nicht nur gebremst, sie hat sich auch als stärker als Blech und Metall erwiesen. Außerdem scheint es, als habe der Wagen gebrannt.

Ich ahne, was mich erwartet, und ich weiß, es wird mir nicht gefallen. Zusammen mit den bleichen Gesichtern der Feuerwehrleute und dem vielsagenden Empfang oben an der Straße bedarf es keiner weiteren Erklärungen. Mein Herz beginnt zu rasen, Schweißperlen laufen über meine Stirn. Plötzlich ist alles wieder da. Die Ereignisse des letzten Jahres, mühsam in einen Winkel meiner Erinnerungen verbannt und doch ständig unter der Oberfläche erkämpfter Normalität treibend. Für ein paar Herzschläge wird mir dunkel vor Augen. Ich lehne mich an einen Baum, atme tief durch. Die anderen dürfen nichts davon mitbekommen. Vor allem Karl nicht, der mir von unten zuwinkt. Der Schatten streicht vorbei und verschwindet. Ein letztes, tiefes Einatmen, dann gehe ich weiter bis zum Fahrerhaus des Wagens.

»Verbrannt?« Ich schüttle Karl die Hand. Der nickt. Ich schließe kurz die Augen, dann folgt mein Blick dem Schein seiner Taschenlampe. Hell erleuchtet sie ein grausiges Bild, das lieber verborgen geblieben wäre.

Der Fahrer – wieso bin ich mir sicher, dass es ein Mann ist? – oder das, was von ihm noch übrig ist, sitzt seltsam aufrecht hinter dem Steuer. Das Feuer hat ihn bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Von einer Kleidung ist auf den ersten Blick nichts mehr zu sehen. Die Haut wirft an einigen Stellen riesige Blasen, hängt in Fetzen an ihm. Anderswo wirkt sie verkohlt. Am schlimmsten hat es den Kopf erwischt. Ein kahler Schädel mit leeren Augenhöhlen und einem weit aufgerissenen Mund starrt uns an. Der Tote scheint zu grinsen, doch ich weiß, dieser Mensch hat in seinen letzten Sekunden nur gelitten und geschrien.

Aber noch immer erkenne ich nicht, was das mit mir zu tun hat. Alles sieht nach einem Unfall aus. Bis zu dem Augenblick, da Karl den Schein der Lampe hinunter zum Lenkrad wandern lässt. Dort bleibt er zitternd an den Händen des Toten hängen. Mein Blick sucht die Augen Karls. Dann schaue ich noch einmal in den Wagen, zum Lenkrad, auf die Hände des Toten.

Jetzt verstehe ich, warum Karl mich gerufen hat.

*

»Was? Handschellen? Heißt das …?«

Obwohl Mitternacht bereits hinter uns liegt, hat Claudia auf mich gewartet. Sie muss den Satz nicht vollenden. Ja, das heißt es!

Der noch Unbekannte wurde ermordet!

Ob sein grausamer Tod so beabsichtigt war, kann ich nicht sagen. Wenn ja, dann … Ja, dann habe ich es mit einem außergewöhnlich sadistisch veranlagten Täter zu tun. Ich kann nur hoffen, dass dem nicht so ist. Ich wage es nicht, mir das Gegenteil auszumalen. Das übernimmt Claudia.

»Gefesselt und verbrannt. Mein Gott! Wenn das so geplant war, dann muss der Täter ja so richtig krank sein.«

»Vielleicht war das Feuer ja so nicht beabsichtigt«, hoffe ich. »Wie dem auch sei, ich muss morgen ganz früh in die Dienststelle. Sicher weiß Kussinger schon Bescheid und wartet auf mich.«

»Bist du überhaupt zuständig?«

Höre ich da einen winzigen Hauch Hoffnung in ihrer Stimme?

»Der Unfall ist genau an der Landkreisgrenze passiert. Deshalb waren die Kollegen von der PI Bad Kötzting vor Ort. Dann sind auch die Viechtacher gekommen und tatsächlich: Zehn Meter fehlen, und die Regensburger müssten sich um den Fall kümmern.« Und damit Mel, füge ich in Gedanken hinzu. Meine Lieblingskollegin wurde endlich für ihre Leistungen in den letzten Jahren belohnt. Die neue Leiterin der Fachkommission K1 bei der Kripo Regensburg heißt seit einigen Tagen Melanie Güßbacher.

Gratuliere!

Auch dazu, dass sie diesen Fall nicht lösen muss. Damit muss sich wohl oder übel Moritz Buchmann von der Kriminaldienststelle Deggendorf herumschlagen.

»Manchmal gäbe es Schöneres, als einen Kriminalbeamten zu lieben«, dringt Claudias Stimme in meine Gedanken. Sie schlingt ihre Arme um meinen Hals und drückt mir einen Kuss auf den Mund. »Jetzt sieh zu, dass du dich schlafen legst! Wie es aussieht, hast du morgen einen langen Tag vor dir.«

»Das mit Sicherheit«, stimme ich ihr zu. Ich weiß aber auch, dass es sinnlos ist, jetzt Schlaf zu suchen. Den werde ich in dieser Nacht nicht finden. Auch sie weiß das. Und sie ahnt, was in mir vorgeht. Claudia hat meinen letzten Mordfall miterlebt.

Sie schlingt ihre Arme um meinen Hals und blickt tief in meine Augen. »Du schaffst das!«

Auch dafür liebe ich sie.

Maschiach

Die Augen, die ihn anstarrten, verrieten keine Gefühle. Wut, Trauer, Angst, Liebe, Freude, Glück. All dies war ihnen fremd. Was er in diesen Augen fand, war eine seltsame Teilnahmslosigkeit. Das Unabänderliche war eingetreten. Die Dämonen waren zurückgekehrt und sie machten sich auf, fürchterlich Rache zu nehmen. Lange Zeit hatte er sie besiegt geglaubt, sie gar verspottet. Doch nun waren sie wieder da. Es waren die Dämonen seiner Jugend.

Schon damals hatten sie in ihm gewütet, ihn zu diesen Taten getrieben. Die Erinnerung schwebte gleich einer bleichen Wolke an ihm vorbei.

Es war die Erinnerung an Mäuse, Katzen und Hunde.

Die Erinnerung an Piepsen, Kreischen und Jaulen.

Die Erinnerung an Jungen und Mädchen. An Entsetzen und Schmerz, an Angst und Schreie.

Und die Erinnerung an Glück, an Erregung, an tiefste Befriedigung. Die Anspannung der Muskeln, das Kribbeln der Haut, das Rauschen des Blutes in seinen Adern, das Gefühl von Macht beim Überschreiten dieser letzten Grenze.

All das war früher gewesen und er wähnte es vorbei, begraben im Dunkel der Vergangenheit.

Jetzt war es wieder da! Alles war wieder da. Wie wenig es doch bedurft hatte, die Dämonen erneut zu wecken. Und nicht nur sie. Da war etwas Neues. Etwas ungemein Befriedigendes. Die Kokosstreusel auf dem Schokoladenkuchen.

Er hatte es nicht gespürt, als er die Handschellen gekauft hatte in diesem Erotikshop, in dem sich niemand an den Mann mit dem schwarzen Bart und den langen Haaren erinnern würde. Zumal der Bart und die Haare längst in einer Mülltonne lagen.

Auch jetzt nicht, da die Bilder noch einmal an ihm vorbeizogen: der Mann, hilflos gefesselt. Der kurze Moment der Hoffnung. Das maßlose Entsetzen in seinen Augen im Augenblick des Verstehens. Nicht einmal die herrlichen Schreie aus dem Feuer hatten dieses Gefühl hervorgerufen. All das war es nicht gewesen. Es war etwas anderes.

So neu! So erregend!

Es war die Frau gewesen, die mit ihrer Geschichte den Begriff zum ersten Mal in sein Bewusstsein gepflanzt hatte. Er erinnerte sich daran, ein Werk begonnen zu haben. Und an das Versprechen, es später zu Ende zu führen. Er erinnerte sich daran, sie alle erlöst zu haben. Doch dann waren die Jahre des Glaubens gekommen und hatten die Dämonen in eine dunkle Kammer seines Kopfes gesperrt. Jetzt waren sie wieder frei.

Waren sie je aus seinem Geist verbannt gewesen? Er glaubte nicht mehr daran. Warum sonst hatte er alles unternommen, um die Geschehnisse, die heute ihren Anfang nahmen, ins Rollen zu bringen?

Spürte er Enttäuschung darüber? Nein, dachte er. Denn da war ja noch dieses Neue, bisher Unbekannte.

Es war Gerechtigkeit! Jawohl!

Gerechtigkeit!

Die Toten seiner Jugend, diese Glückseligen, die das Privileg genossen hatten, von ihm erlöst zu werden, diese zufällig Auserwählten, sie waren vergessen.

Silvian Lazar war der Auserwählte der Gegenwart. Er hatte den Tod verdient. Mehr als das. Er hatte genau diesen Tod verdient!

Für einige Sekunden senkte er den Blick. Dann starrte er wieder in diese Augen.

Was verrieten sie?

Entschlossenheit?

Ja, das war es! Er war entschlossen, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Die Zeit der Zweifel war vorbei. Er war kein Mörder. Er war ein Werkzeug der Gerechtigkeit. Er war Maschiach.

Auch die anderen sollten büßen. Alle!

Noch nie hatte ihn solche Erregung ergriffen. Langsam wandte er sich vom Spiegel ab. Die Augen verschwanden. Ohne besondere Eile ging er ins Schlafzimmer und legte sich ins Bett.

Sein Schlaf war tief und traumlos.

Dienstag, 04.10.2016
Ich

Wie vermutet, brachte die Nacht wenig Neues und noch weniger Schlaf. Obwohl ich das Getriebe der Zahnräder in meinem Kopf nicht abschalten konnte, haben diese nichts geliefert. Ohne erste Fakten der Kriminaltechnik und der Gerichtsmedizin wäre dies zu erwarten auch mehr als vermessen. Die Kollegen der Spurensicherung sind noch am Werk und so beschränken sich die ersten Hinweise auf die Angaben der Kfz-Zulassungsstelle. Letztendlich liefern sie mir nur den Halter des Kleinlasters. Und das ist eine Firma. Die Green Mountain Electronics zu Kirchbach kann sich ein neues Lieferfahrzeug besorgen. Die Identität des Fahrers muss erst noch durch einen DNA-Abgleich bestätigt werden. Ich gehe jedoch davon aus, dass die Person, die wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen dem Feuer übereignet wurde, der Geschäftsführer der GME war. Jedenfalls dann, wenn es neben Silvian Lazar nicht mehrere Silvians in der Gegend gibt.

Was eine Gravur im Ehering und ein Blick auf eine Firmenhomepage doch alles verraten.

*

Wie von Claudia prophezeit, wartet Kriminalrat Kussinger an diesem Montagmorgen bereits auf mich. Der Chef der Kriminalpolizeistation Deggendorf war nicht erfreut, einen vermeintlich abgehalfterten Kommissar aus München zugeteilt zu bekommen. Natürlich hat er seine Kontakte zum Landeskriminalamt spielen lassen. So ist ihm nicht verborgen geblieben, warum man dort der Meinung ist, Moritz Buchmann sei für die Landeshauptstadt nicht mehr geeignet. Ob das nur am Verlauf der Ermittlungen im Fall Alois Huber liegt? Immerhin wurden diese von jeder Menge Blut begleitet.

Das allein kann es aber nicht sein.

Vielleicht bin ich jemandem beim LKA schon länger ein Dorn im Auge.

Vielleicht hat jemandem auch meine Personalakte nicht gefallen.

Deggendorf erweist sich als ganz passabel, zumal mein neuer Chef nach ein paar Wochen und einigen aufgeklärten kleineren Delikten ganz zufrieden mit mir ist.

Jetzt aber steuere ich mit vollen Segeln in einen Fall ganz anderen Kalibers. Mit öffentlicher Aufmerksamkeit, Medienrummel und allem Drum und Dran.

Bernd Kussinger hat die Gefahr sofort erkannt. »Wenn es das ist, was ich befürchte, dann haben wir es vielleicht mit einem Mehrfachtäter zu tun. Sie wissen, was das bedeutet, Buchmann?«

Klar weiß ich das: Finden Sie ihn, bevor weitere Morde passieren!

Er muss es nicht sagen. Ich verstehe ihn auch so. Trotzdem muss ich mich allein mit der Sache rumschlagen. Die Personalpolitik des Freistaats hat auf die Pensionierung meines Kurzzeitkollegen der ersten Tage in Deggendorf noch nicht reagiert.

Wie also soll ich jetzt vorgehen? Natürlich bin ich ein erfahrener Ermittler und dies ist nicht mein erster spektakulärer Fall.

Etwas jedoch fehlt. Besser gesagt, jemand. Melanie Güßbacher, meine Lieblingskollegin. Seit einem Jahr beschränkt sich ihr Kontakt zu mir auf eine Internetfreundschaft und einige Kurzbesuche im Bayerischen Wald. Stefan Kellermann, mein Teamkollege aus früheren Jahren, klettert derweilen unaufhaltsam auf der Karriereleiter des BKA nach oben und Sven Straubmann, nun ja, Sven hätte mein neuer Partner werden können, wäre ich noch für das LKA München tätig.

Das, was ich in der Anfangszeit unserer Bekanntschaft nie für möglich gehalten habe, ist eingetreten. Ich hätte Sven gern an meiner Seite, zumal er im Gegensatz zu mir ein ausgewiesener Computerexperte ist. Allein schon der Gedanke an Stunden vor dem Bildschirm ruft Übelkeit in mir hervor. Und Surfen gehört auch nicht zu meinen bevorzugten Sportarten.

Um diese Unannehmlichkeiten zu umgehen, werde ich Sven bitten müssen, ein paar Recherchen für mich anzustellen. Nebenbei natürlich! Mal sehen, was er gerade so macht.

*

Mein Anruf sorgt bei Sven für unerwartete Begeisterung. Seit er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, verbringt er den Großteil seiner Zeit im Innendienst. Obwohl er nicht geschont werden möchte, denken seine Vorgesetzten, dass sie genau das tun müssen, und verkennen dabei, dass sich Sven nach einem Einsatz an der Front sehnt. Doch bis dahin wird die Sonne wohl noch einige Male auf die Nackten im Englischen Garten herabscheinen. Da ist es nur recht und billig, seine Langeweile mit ein bisschen Mord zu bekämpfen. Wenn auch nur vom Bürostuhl aus. Sven wird mein Tor zur Welt der Informationen. Und die benötige ich dringend.

Zuerst über die Green Mountain Electronics und deren Geschäftsführer.

»Ich mach mich sofort an die Arbeit«, verspricht Sven. Ich möchte mich verabschieden, doch er holt noch einmal tief Luft. Ich ahne, was kommt, und dennoch habe ich Angst davor.

»Moritz, du … weißt hoffentlich, dass ich dir nichts nachtrage.«

Seltsam. Seit unserem gemeinsamen Fall im Osserwinkel ist ein Jahr vergangen und doch haben wir bisher keine Gelegenheit gefunden, uns darüber auszusprechen. Warum gerade jetzt?

»Das, was passiert ist, wäre so oder so geschehen«, fährt er fort. »Außerdem war es meine eigene Schuld. Ich hätte nicht allein zu Kurt gehen dürfen.«

Wahrscheinlich hat er recht. Bei Betrachtung aller Umstände sogar mit Sicherheit. Und dennoch! Was soll ich jetzt sagen?

Soll ich erzählen, dass ich oft mitten in der Nacht aufwache? Schweißgebadet und zitternd.

Dass ich träume von ihm? Aufgespießt und durchbohrt von unzähligen Zacken des Heuwenders.

Dass ich von Jochen Schreiner träume, von seiner Frau und seiner blinden Tochter?

Soll ich ihm erklären, dass ich ganz froh bin, nicht mehr beim LKA zu sein, sondern in Deggendorf? Froh, seither mit keinen Morden konfrontiert worden zu sein?

Soll ich ihm gestehen, dass von seinem einstigen Vorbild nicht mehr viel übrig ist?

Und soll ich von dem Mann berichten, dessen verkohlte Haut in Fetzen an ihm herunterhängt, dessen Augen in ihren Höhlen geschmolzen sind? Davon, dass ich in der letzten Nacht schreiend hochfuhr? Dass Claudia, vor der ich meinen Zustand so lange verborgen glaubte, mich in die Arme genommen hat? Dass sie mir versicherte, seit Langem zu wissen, wie es um mich steht? Dass sie mir versprach, alles würde wieder gut werden?

Soll ich ihm sagen, dass ich Angst habe?

Nein, ich werde weder ihn noch jemand anderen in den Strudel meiner Gefühle hineinziehen. Also beschränke ich meine Antwort auf Svens Freispruch, auf ein schlichtes »Danke«. Ich hoffe, er versteht auch so.

Sven verabschiedet sich und lässt mich und meine Gedanken zurück.

Noch während diese weiter durch meinen Kopf flattern, öffnet sich die Tür und Doris Späth schießt herein. Trotz der frühen Stunde strotzt sie vor Tatendrang. Schwungvoll platziert sie einige Blätter Papier auf meinen Tisch und noch ehe ich sie mir genauer ansehen kann, ist sie schon wieder verschwunden. Dagelassen hat sie die Berichte der Kriminaltechnischen Untersuchung und der Gerichtsmedizin. Und den DNA-Abgleich.

Silvian Lazar. Wie erwartet.

Die medizinische Abteilung bestätigt meine Befürchtungen. Er war noch nicht tot, als ihn das Feuer verzehrte. Bis jetzt hatte ich gehofft, mich zu irren, doch nun ist es amtlich. Der Täter wollte Silvian nicht nur töten. Er wollte ihn quälen. Ein Racheakt? Eine Warnung für andere? In jedem Fall die Tat eines kaltblütigen Mörders, der ein Zeichen setzen wollte, oder die Tat eines kranken Sadisten.

Und was hat die KTU? Ich lese den Bericht zweimal, versuche mir alle Fakten einzuprägen. Der Täter hat Silvian mit einem Brandbeschleuniger bespritzt und ihn angezündet. Von dort hat sich das Feuer auf den Wagen ausgebreitet. Der Unfall war vorbereitet und vorhersehbar gewesen. Die Bremsleitungen haben versagt. Ich habe etwas in der Art bereits vermutet. An der Unfallstelle gab es keine Bremsspuren.

Ich stehe auf und sehe zum Fenster hinaus. Wie muss ich mir das vorstellen? Der Täter bearbeitet die Bremsleitungen des Firmenwagens. Er weiß vielleicht, welche Strecke Silvian in dieser Nacht fahren wird. Warum? Er muss sein Opfer kennen. Aber er weiß nicht, wann die Bremsen versagen werden. Er muss also seinem Opfer folgen und hoffen, dass der geplante Unfall irgendwo zwischen zwei Ortschaften passiert. Er muss Handschellen dabeihaben. Woher hat er diese? Eine Aufgabe für die KTU. Er muss Benzin in einem Kanister mit sich führen. Er muss zu allem entschlossen und nicht zuletzt sadistisch veranlagt sein. Denn kein normales Gehirn plant, einen Menschen bei lebendigem Leib zu verbrennen.

Ich brauche jetzt einen Kaffee. Auf dem Weg zum Automaten grüße ich automatisch Kollegen und Kolleginnen auf dem Flur, ohne sie richtig wahrzunehmen. Und dann muss ich mich doch noch mit einem von ihnen beschäftigen. Gerhard Schweiger fühlt sich genötigt, mir von einer aufregenden Jagd auf jugendliche Autoknacker zu berichten. In allen Details natürlich. Möglicherweise für ihn spannend, für mich angesichts meiner Probleme jedoch im unteren Bereich der kriminalistischen Dringlichkeitsskala angesiedelt. Gerhard sieht das ganz anders und die betroffenen Autobesitzer sicher auch.

Nach 15 Minuten gelingt es mir endlich, ihn abzuschütteln. Erleichtert aufatmend erreiche ich die Sicherheit meines Büros. Dort verkündet ein Klingeln, dass ein Anrufer schon auf mich wartet.

Sven! Eine knappe Stunde schien ihm zu reichen, um die ersten Informationen zu besorgen. Seine Stimme klingt völlig normal. Hat er unser Gespräch von vorhin so schnell abgehakt?

Für mich völlig überraschend gestand er mir, ein schlechtes Gewissen wegen meiner Versetzung weg aus München zu haben. Natürlich weiß ich, dass weder Sven noch sein Landtagsonkel hier ihre Hände im Spiel haben. Und auch mein Ex-Chef nicht. Schulz hat sogar dafür gesorgt, dass ich nicht in Hof oder Coburg landete. Deggendorf, eine Stunde Fahrzeit von München entfernt, sollte doch ganz in Ordnung sein?

Letztendlich hat wohl meine Personalakte den Ausschlag gegeben. Meine früheren Alkoholeskapaden waren der Inneren schon immer ein Dorn im Auge.

Nachdem ich das Sven erklärte, war für ihn die Angelegenheit erledigt. Auch für mich? Ich muss es versuchen. Das bin ich auch ihm schuldig.

»Also«, eröffnet er seinen Kurzbericht, »die Green Mountain Electronics, kurz GME, ist eine GmbH mit Sitz in Kirchbach. Dort bist du doch seit Neuestem zu Hause?«

Richtig, dort bin ich zu Hause. »Ja. Ich kenne das Firmengebäude. Wurde letztes Jahr im Gewerbegebiet an der Staatsstraße drüben eröffnet. Ein modernes Gebäude aus Beton und Glas. Das Umfeld gepflegt und einladend. Das Geschäft scheint nicht schlecht zu laufen.«

»Kann ich so bestätigen. Die GME produziert in Tschechien, Polen und Rumänien Elektrokomponenten für Zulieferer der Auto- und Medizinindustrie. Und solche gibt es ja einige in eurer Gegend. Der Warenverkehr läuft fast ausschließlich über den Grenzübergang Furth im Wald. Ein kleiner Kundenkreis ist auch in der Rüstungsindustrie zu finden. Denkst du, das wäre ein Ansatz?«

»Möglich, ja. In kaum einem anderen Metier wird so viel Geld umgesetzt. Das zieht das Verbrechen an wie Blumen die Bienen.«

Der Gedanke führt mich zum nächsten: Polen, Rumänien, Tschechien. Namen für die Drogenautobahn in den Westen. Wahrscheinlich werde ich meinen Kumpel Wolfgang wieder belästigen müssen.

»Der Betrieb beschäftigt fast 150 Leute, davon 20 in der Zentrale in Kirchbach«, fährt Sven fort. »Geschäftsführer war dein Toter. Silvian Lazar war gebürtiger Rumäne, seit zwei Jahren in Deutschland. 34 Jahre alt, verheiratet, keine Kinder. In Rumänien Volksschulabschluss, kein Abitur, keine Wirtschafts- oder kaufmännische Ausbildung.«

Alle Achtung. Sven weiß, worauf es ankommt. Er stellt die Frage unausgesprochen in den Raum: Wie bringt es jemand ohne entsprechende Ausbildung zum Geschäftsführer einer international tätigen, erfolgreichen Firma? Und er liefert die Antwort gleich mit.

»Eigentümer der GME sind zwei Brüder, die gleichzeitig die Onkel unseres Verblichenen sind. Ludovic und Grigore Lazar stampften den Betrieb vor zwei Jahren aus dem Boden. Da war wohl eine Menge Geld im Spiel. Es gab eine Vorgängerfirma, von der die GME offensichtlich die Produktpalette und den Kundenstamm übernahm. Nach einigen Monaten in einer gemieteten Halle in Straubing haben sie sich entschlossen, dass es für sie eines repräsentativeren Gebäudes bedarf. Ihre Wahl fiel auf Kirchbach. Dort kauften sie ein Grundstück und eröffneten im November 2015 ihren neuen Firmensitz.«

Wieder eine unausgesprochene Frage. Warum in der Provinz und nicht in Regensburg oder zumindest Straubing oder Deggendorf? Diesmal bleibt Sven die Antwort schuldig.

»Scheint ja ein regelrechter Familienbetrieb zu sein«, kehre ich zu seinem Bericht zurück.

»Jedenfalls sind die beiden Lazars strafrechtlich ein unbeschriebenes Blatt. Jedenfalls offiziell.«

Es folgt die für ihn typische Kunstpause. Drei Atemzüge Spannungserhöhung, dann fährt er fort: »Also habe ich wieder einmal die allgemein zugänglichen Wege des Internets beschritten. Bei Google taucht der Name der Firma in erster Linie im Zusammenhang mit dem TSV Kirchbach auf.«

»Als Sponsor.«

»Genau. Aber ich habe auch noch einen Zeitungsartikel gefunden. Ein Lokalreporter hat im Rahmen der Serie ›Unternehmen im Landkreis‹ einen Bericht über die GME gebracht. Dabei hat er auch Mitarbeiter befragt. Das Betriebsklima dort scheint hervorragend zu sein. Den Beschäftigten ist es auch erlaubt, firmeneigene Fahrzeuge zu Privatzwecken zu nutzen.«

»Wie es unser Mordopfer getan hat.«

»Nun, als Geschäftsführer dürfte das für ihn kein Problem gewesen sein. Was aber, wenn er dies allen Mitarbeitern erlaubt hat, um seine Fahrten mit den Kleintransportern unauffällig aussehen zu lassen?«

»Du denkst, er hat diese Touren öfter gemacht?«

»Jedenfalls gestern. Warum war er an einem Feiertag mit einem Firmenfahrzeug unterwegs?«

»Die er ungebremst an einem Baum beendete. Die Frage habe ich mir auch schon gestellt. Es gibt nur eine Antwort.«

»Er wollte etwas transportieren. Etwas, das zu groß für ein normales Auto war.«

»Und etwas, das es zu verstecken galt«, vervollständige ich seinen Satz. »Warum sonst nachts und heimlich?«

»Und hinter dem jemand anders her war«, führt Sven den Gedanken fort.

»Sein Mörder? Warum aber dann die Feuershow?«

»Ablenkung? Spuren verwischen? Keine Ahnung. Das musst du noch herausfinden.«

»Und du noch ein bisschen mehr über die Brüder Lazar.«

»Jawohl, Chef. Da mach ich mich doch gleich an die Arbeit.«

»Hast du denn überhaupt Zeit dafür?«

»Mein lieber Herr Kommissar. Zeit ist das Einzige, das ich im Überfluss habe.«

*

Ein paar Sekunden später wähle ich die Nummer von Kurt Amberger. Der Ingenieur leitet die KTU des Polizeipräsidiums Straubing und ist damit auch für die Außenstelle Deggendorf verantwortlich.

»Herr Buchmann? So früh schon? Haben Sie unseren Bericht noch nicht erhalten?«

Meine bisherige Zeit in Deggendorf hat für ein Du zwischen uns noch nicht gereicht. Dem Ärger in seiner Stimme zu folgen, wird es auch heute nicht dazu kommen. Zumal wir eine kultivierte Abneigung gegen den jeweils anderen pflegen.

»Ihnen auch einen schönen Tag, Herr Amberger. Doch, schon. Schnell und präzise wie immer. Keine Sorge. Ich weiß doch, dass Ihr Team stets das Beste gibt. Ich wollte Sie nur bitten, sich den Wagen etwas genauer anzusehen.«

»Wir haben uns den Wagen sehr genau angesehen, glauben Sie mir.«

Ich zögere eine Sekunde. Zu lange für Kurt Amberger.

»Sind Sie noch da?«

»Ja, bin ich. Ich meinte nicht die Unfallursache. Es besteht die Möglichkeit, dass Herr Lazar etwas transportieren wollte.«

»Ach ja? In einem Kleinlaster?« Ärger ist jetzt Spott gewichen. »Da war nichts. Der Laderaum ist völlig leer.«

»Der Laderaum schon«, überhöre ich die Häme in seiner Stimme. »Haben Sie nach einem möglichen Versteck gesucht?«

»Versteck? Äh, nein. Warum sollten wir auch?«

»Dann tun Sie das bitte. Und rufen Sie mich an, wenn Sie etwas finden.«

*

Die kommende Begegnung ist nicht geeignet, meine Laune zu bessern. Wieder einmal bin ich der Überbringer der schlechten Botschaft. Wenigstens ist Verena Lazar vorgewarnt. Spätestens seit die Mitarbeiter der Rechtsmedizin letzte Nacht bei ihr wegen des erforderlichen DNA-Abgleichs vorstellig wurden, muss sie sich mit dem Gedanken beschäftigt haben, Witwe zu sein. Ein Haar aus Silvians Kamm brachte schließlich den endgültigen Beweis, dass der verkohlte Torso der letzten Nacht einmal ihr Ehemann gewesen war.

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
394 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839257524
Издатель:
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