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4.1 Transfer als kognitiver Prozess

Jarvis und Pavlenko (2010: 4–8; vgl. auch Jarvis 2016: 18–19) teilen die Transferforschung in vier Phasen ein: Die erste Phase (auch altes Paradigma genannt), die in etwa die Forschung bis in die 1970er-Jahre umfasst (vgl. z. B. Weinreich 1953), betrachtet Transfer vorerst als unabhängige Variable und ist durch die quantitative Analyse unterschiedlicher Transfereffekte gekennzeichnet. Der Fokus liegt meist auf negativem Transfer (sogenannten Interferenzen; vgl. Odlin 2003: 438; Peukert 2015: 1). Vor allem in Europa kommt es spätestens in den 1970er-Jahren zu einem Perspektivenwechsel, der die zweite Phase und damit das neue Paradigma einleitet (vgl. Jarvis 2016: 18; siehe Kapitel 4.2). Dieser Perspektivenwechsel kann unter anderem auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem behavioristischen Lernverständnis im Allgemeinen und der Kontrastivhypothese im Spezifischen zurückgeführt werden. Auf der einen Seite beginnt man, Lernen als einen kognitiven Prozess zu verstehen, auf der anderen kritisiert man die Annahmen der Kontrastivhypothese, dass Transferphänomene durch eine rein sprachstrukturelle Analyse vorhergesagt werden können (vgl. Decke-Cornill/Küster 2010: 22–23; Königs 2010: 756).

Mit diesen Entwicklungen geht eine Tendenz einher, Transfer als kognitiven und kreativen Prozess zu verstehen. Kellerman (1979: 37–40) stellt beispielsweise die These auf, dass die Lernenden immer dann von ihrer L1 Gebrauch machen, wenn ihnen eine Struktur in der Zielsprache fehlt. Demnach handelt es sich um ein vermeintlich bewusstes Vergleichen der Sprachstrukturen der L1 und der L2. Wenn die Lernenden das Gefühl haben, die Sprachstrukturen der L1 sind auf jene der L2 übertragbar, dann ist die Wahrscheinlichkeit für Transfer hoch. Es ist also vor allem die von den Lernenden wahrgenommene Nähe zwischen der L1 und der L2, die sogenannte Psychotypologie (vgl. Kellerman 1983: 114), die Transfer beschränken, aber auch auslösen kann (vgl. Ringbom 1978: 96).1 Die Qualität dieser subjektiven Wahrnehmung hängt eng mit dem Konzept des metasprachlichen Bewusstseins zusammen (vgl. Kellerman 1983: 116). Dieses kann sich im Laufe des Sprachlernprozesses ändern, womit auch eine Veränderung der subjektiven Wahrnehmung sprachstruktureller Ähnlichkeiten und Unterschiede einhergeht (vgl. Kellerman 1979: 40). Ein weiterer Aspekt, der die Transferabilität beeinflusst, ist die psycholinguistische Markiertheit einer Struktur:

If a feature is perceived as infrequent, irregular, semantically or structurally opaque, or in any other way exceptional, what we could […] call ‘psycholinguistically marked’, then its transferability will be inversely proportional to its degree of markedness (Kellerman 1983: 117).

Je stärker ein Merkmal psycholinguistisch markiert ist, desto unwahrscheinlicher ist ein Transfer desselben. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Lernende psycholinguistisch markierte Merkmale als sprachspezifisch wahrnehmen und deshalb davon ausgehen, dass andere Sprachen im Hinblick auf dieses Phänomen anders funktionieren, und die Ausgangssprache deshalb nicht als nützliche Transferbasis wahrnehmen. Damit einhergehend ist anzunehmen, dass prototypische Merkmale einer Sprache, die ja per definitionem eine niedrige psycholinguistische Markiertheit aufweisen, eher transferiert werden als nicht prototypische.

Die eben dargestellten Pionierarbeiten von Kellerman und Ringbom machen Transfer zur abhängigen Variable und versuchen zu erklären, von welchen Faktoren er abhängt. Im nächsten Kapitel werden einige neuere Erkenntnisse dieser zweiten Phase der Transferforschung diskutiert.

4.2 Faktoren, die Transfer beeinflussen

Die zweite Phase der Transferforschung hat zahlreiche Einflussfaktoren identifiziert, zu denen unter anderem das Sprachbewusstsein, der Kontakt mit einer zielsprachlichen Lernumgebung, die Erwerbsreihenfolge, die Formalität des Kontexts oder das Alter zählen (vgl. De Angelis 2007; Hammarberg 2009; Jarvis/Pavlenko 2010). Da in der aktuellen Diskussion vor allem Faktoren wie die schon erwähnte (Psycho-)Typologie, sprachstrukturelle Aspekte, das Sprachniveau in der L2 und der L3, die recency of use sowie der sogenannte L2-Status eine Vorrangstellung einnehmen (vgl. Falk/Bardel 2010: 193), wird ihnen in den nächsten Abschnitten besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

4.2.1 Der Einfluss von genetischer Verwandtschaft, sprachstruktureller Ähnlichkeit und (Psycho-)Typologie

Da der Terminus Typologie in der Literatur nicht einheitlich verwendet wird, wird im Folgenden das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis dargelegt.1 In Anlehnung an Falk und Bardel (2010: 193–194) wird zwischen (1) einer genetischen Sprachverwandtschaft (en. language relatedness), (2) der Typologie im Sinne der Nähe bzw. Distanz bestimmter Sprachstrukturen und (3) der Psychotypologie nach Kellerman (1983) unterschieden.

(1) Sprachen sind genetisch miteinander verwandt, wenn sie sich aus einer gemeinsamen (Ur-)Sprache entwickelt haben; man spricht dann von einer Sprachfamilie mit unterschiedlichen Zweigen. Beispielsweise ist die indogermanische Sprachfamilie als eine genetische Einheit anzusehen. Aber auch Cluster diverser Einzelsprachen, wie beispielsweise die romanischen Sprachen, die sich aus einer Protosprache entwickelt haben und somit einem Zweig der indogermanischen Sprachfamilie zugeordnet werden, können als eine Einheit verstanden werden. In weiten Teilen der Forschungsliteratur wird angenommen, dass Sprachen, die genetisch verwandt sind, eher als Transferbasis herangezogen werden als Sprachen, die nicht verwandt sind (vgl. Cenoz 2001). Diese allgemeine Tendenz darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Transfer durchaus auch aus nicht verwandten Sprachen stattfinden kann (vgl. De Angelis 2007: 23).

(2) Unter Typologie verstehen Falk und Bardel (2010: 193–194) in Anlehnung an Croft (2003) Ähnlichkeiten zwischen Sprachen in Bezug auf spezielle Sprachstrukturen, die unabhängig von ihrer Verwandtschaft sind. So sind das Spanische und das Französische als romanische Sprachen genetisch miteinander verwandt, unterscheiden sich aber beispielsweise in Bezug auf die obligatorische Realisierung von Subjektpronomen. Diese können im Spanischen weggelassen werden ([+pro-drop]), wohingegen sie im Französischen obligatorisch realisiert werden müssen ([-pro-drop]).

(3) Die von Linguisten beschriebenen objektiven Ähnlichkeiten (vgl. Ringbom 2007: 7–9; Ringbom/Jarvis 2009: 106–109) unterscheiden sich wesentlich vom Konzept der Psychotypologie, welches sich auf die von den Lernenden wahrgenommene typologische Nähe bezieht (vgl. Kellerman 1983). Darüber hinaus ist zwischen einer wahrgenommenen und einer angenommenen Nähe zu unterscheiden (en. perceived/assumed similarity; vgl. Ringbom 2007: 24–26; Jarvis/Pavlenko 2010: 179). Wenn die Autoren von wahrgenommener Nähe sprechen, meinen sie, dass eine bestimmte Struktur, Bedeutung etc. im Input (bewusst oder unbewusst) wahrgenommen und mit sprachlichem Vorwissen in Verbindung gebracht wird. Bei der angenommenen Nähe hingegen handelt es sich lediglich um eine (bewusste oder unbewusste) Vermutung seitens der Lernenden, dass eine Struktur, die sich in ihrem sprachlichen Repertoire befindet, auch in der Zielsprache vorhanden sein könnte, und zwar unabhängig davon, ob eine solche Struktur tatsächlich wahrgenommen wurde.

Aus den Darstellungen der Autoren geht leider nicht klar genug hervor, wie die kognitiven Prozesse des Wahrnehmens und Annehmens genau zu verstehen sind. Es lässt sich vermuten, dass es sich bei beiden Prozessen zumeist um Vorgänge handelt, die eine gewisse Bewusstheit und ein metasprachliches Bewusstsein voraussetzen. Dies ist aber keinesfalls die einzig mögliche Interpretation: Vor allem Forscher aus dem Bereich der generativistischen Zweit-/Drittspracherwerbsforschung verneinen, dass die bewusste Bewertung von Ähnlichkeiten und Unterschieden auf der sprachlichen Oberflächenstruktur einen Effekt auf Transfer2 hat:

[M]ultilingual transfer selection is not dependent on obvious surface level (dis)similarity, it rejects the notion that conscious psychotypological assessment on the part of the learner brings anything to bear. I would take as coincidental any correlations between the learner’s perceptions and independently measurable assessments of linguistic competence (Rothman 2015: 184–185; Hervorhebung durch den Verfasser).

Rothman erklärt weiter: „From a generative perspective, it is reasonable to reject a priori that consciousness would have anything to bear specifically on underlying linguistic representation“ (ebd.: 185; Hervorhebung im Original). Der Autor negiert zwar nicht, dass ein bewusstes Vergleichen von Sprachstrukturen auf der Sprachoberfläche durchgeführt wird, er verneint aber, dass dieses Vergleichen einen Einfluss auf den Transfer syntaktischer Merkmale hat (vgl. ebd.: 181).

Laut Ringbom (2007) und Jarvis/Pavlenko (2010) hängt es von der Qualität der Analyse des neuen Sprachsystems ab, ob sich die wahrgenommene Nähe positiv oder negativ auf das Transferverhalten der Sprachlernenden auswirkt. Nur wenn die wahrgenommene Nähe mit der objektiven Nähe übereinstimmt, ist positiver Transfer die Folge. Bei der Analyse ist es allerdings möglich, dass Lernende objektive Ähnlichkeiten übersehen bzw. falsch interpretieren oder dass sie Hypothesen bezüglich Ähnlichkeiten aufstellen, die aus linguistischer Perspektive nicht existieren (vgl. Jarvis/Ringbom 2009: 107). Solche Fehlanalysen können somit als ein Hauptgrund für negativen Transfer angesehen werden.

In nahverwandten Sprachen starten die Lernenden oft mit der Wahrnehmung formaler Ähnlichkeiten, worauf die Annahme folgt, die Sprachen funktionierten auch auf funktional-semantischer Ebene ähnlich. Gibt es allerdings nur wenige sprachstrukturelle Ähnlichkeiten, dann sind es reine Hypothesen, die das Sprachverstehen und die Sprachproduktion leiten:

In comprehension of related languages, learners can often start out by perceiving cross-linguistic similarity (i.e. formal similarity), to elements of a language they already know. A subsequent stage is the assumption of an associated semantic and/or functional similarity. If no formal similarity can be perceived, the learner will have to make do with merely assuming that the languages work in much the same way (Ringbom 2007: 24–25; Hervorhebung durch den Verfasser).

Laut Ringbom und Jarvis (2009: 108) nehmen die Lernenden im L3-Erwerb formale Ähnlichkeiten mit der typologisch nächsten Sprache wahr; im Bereich der Semantik und Pragmatik hingegen habe die L1 eine Vorrangstellung:

In cases where learners are learning a third or fourth language, their assumption tends to be that the [target language] TL is semantically and pragmatically similar to the L1 but formally similar to the language (the L1, L2, L3, etc.) that they perceive as being typologically closest to the TL.

Gemäß Ringbom und Jarvis (2009: 109–110) sowie Ringbom (2007: 5–7) gibt es drei Möglichkeiten, wie Lernende interlinguale Parallelen wahrnehmen können (für eine Diskussion zum Konzept der Wahrnehmung siehe Kapitel 3.1). Die Autoren unterscheiden Ähnlichkeits-, Kontrast- und zero-Beziehungen (en. similarity, contrast und zero relations). Diese drei Begrifflichkeiten werden für die vorliegende Arbeit übernommen, auch wenn die zugrunde liegende Konzeption mit derjenigen der Autoren nicht immer identisch ist.

(1) In einer Ähnlichkeitsbeziehung nehmen die Lernenden eine Sprachstruktur der Zielsprache als formal und/oder funktional ähnlich zu einer Form ihres sprachlichen Repertoires wahr. Wenn sie keine funktionale Ähnlichkeit wahrnehmen, wird eine solche zumindest angenommen. Wie im obigen Zitat von Ringbom (2007: 24–25) dargelegt, orientieren sich die Lernenden primär an formalen, das heißt an morphologischen bzw. auch an morpho-phonologischen oder morpho-syntaktischen Kriterien. Es ist anzunehmen, dass sie formal ähnliche Strukturen zwischen der Ausgangs- und der Zielsprache für die ersten Hypothesen des Sprachlernprozesses heranziehen. Im Hinblick auf das Verbalsystem, das in der vorliegenden Arbeit im Fokus steht, nehmen sie demzufolge sowohl synthetische als auch analytische Formen als ähnlich wahr. Sie bemerken beispielsweise, dass die beiden synthetischen Formen, das simple past und das perfecto simple, formal ähnlich sind, das analytische present perfect und das synthetische perfecto simple hingegen nicht. Lernende differenzieren aber auch innerhalb der beiden Kategorien (= synthetisch/analytisch) zwischen verschiedenen Formen. Es ist anzunehmen, dass sie den formalen (wie auch funktionalen) Unterschied zwischen der Bildung einer Perfekt- und einer Progressivperiphrase erkennen (z. B. present perfect vs. estar + gerundio). Diese Ähnlichkeitsanalyse kann theoretisch bis zur Phonem-Ebene fortgeführt werden.

Diese theoretischen Überlegungen können anhand der Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den Progressivperiphrasen im Spanischen und Englischen exemplifiziert werden: Die beiden Periphrasen sind sich insofern formal ähnlich, als es sich um Gerundium-Periphrasen handelt, die mithilfe einer Kopula als Auxiliar gebildet werden (estar, to be). Aufgrund dieser formalen Ähnlichkeit nehmen beispielsweise Lernende des Spanischen an, dass die zugrunde liegende Funktion/Semantik der spanischen Progressivperiphrase Ähnlichkeiten mit der englischen aufweist. Da beide Periphrasen tatsächlich primär progressive Bedeutung ausdrücken (siehe Abschnitt 2.3.2 und 2.3.4.2), führt dies zu einer erfolgreichen Assoziation (en. mapping) der beiden Formen, was einen positiven semantischen Transfer mit sich bringt.

(2) Als Kontrastbeziehungen werden in der vorliegenden Arbeit jene interlingualen Relationen bezeichnet, bei denen sich die formale Seite des sprachlichen Zeichens unterscheidet (z. B. synthetisch vs. analytisch), denen aber eine funktional-semantische Ähnlichkeit zugrunde liegt. Die Lernenden nehmen diesen formalen Unterschied wahr und schließen in der Folge fälschlicherweise darauf, dass zwischen den Sprachen keine funktional-semantische Ähnlichkeit vorliegt. Damit geht einher, dass eine Assoziation zwischen der Form der Ausgangs- und jener der Zielsprache nicht stattfindet und ein vermeintlich positiver semantischer Transfer ausbleibt.

Ein Beispiel für eine Kontrastbeziehung ist die funktional-semantische Ähnlichkeit zwischen dem spanischen imperfecto und der englischen progressive-Form im Hinblick auf die progressive Semantik mit dynamischen Verben. Aufgrund der formalen Differenz zwischen dem synthetischen imperfecto und der periphrastischen progressive-Form – und möglicherweise auch aufgrund der komplexen Semantik des Imperfekts – erkennen die Lernenden die zugrunde liegende funktional-semantische Ähnlichkeit nur bedingt, was sich negativ auf die Transferierbarkeit auswirkt. Eine Assoziation der Formen und ein durchaus möglicher semantischer Transfer des Merkmals [+ progressiv] findet nicht statt.

(3) Auch bei einer zero- oder near-zero-Beziehung gibt es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Ziel- und Ausgangssprache(n) (z. B. sprachliche Universalien), die allerdings aufgrund der abstrakten Natur von einem durchschnittlichen Lernenden vor allem in den Anfangsstadien des Sprachlernens nicht wahrgenommen wird (vgl. Ringbom/Jarvis 2009: 110). Solche zero-Beziehungen finden sich vermehrt in nicht nahverwandten Sprachen. So besteht zwischen der englischen progressive-Form und den chinesischen Aspekt-Partikeln zhe/zai (vgl. Klein 2009b: 70) prinzipiell eine zero-Beziehung, die sich allerdings mit steigendem Sprachniveau in eine Kontrastbeziehung verwandeln kann (vgl. Ringbom/Jarvis 2009: 110). Ein weiteres Beispiel für eine zero-Beziehung findet sich zwischen dem Englischen und dem Spanischen im Hinblick auf die kontinuative Semantik (siehe Kapitel 2.1.2). Im Spanischen muss diese mithilfe einer imperfektiven Verbform ausgedrückt werden, im Englischen hingegen durch das aspekt-neutrale simple past. Obwohl beide Sprachen über das Konzept der Kontinuität verfügen, sind die entsprechenden Versprachlichungen so unterschiedlich, dass Lernende diese abstrakte Ähnlichkeit nicht wahrnehmen. Dementsprechend findet sich auch keine zielsprachliche Assoziation zwischen der Form der Ziel- und jener der Ausgangssprache.

Da das Verständnis dieser drei Beziehungen für den weiteren Verlauf der Arbeit von großer Bedeutung ist, sind die wichtigsten Merkmale in der nachstehenden Tabelle zusammengefasst:


Beziehung Formal Funktional-semantisch
Ähnlichkeit + +
Kontrast ~
Zero

Tab. 9:

Ähnlichkeits-, Kontrast-, und zero-Beziehungen (+ steht für Ähnlichkeit wahrgenommen; ~ steht für Ähnlichkeit nicht wahrgenommen, obwohl vorhanden; - steht für keine/kaum Ähnlichkeit und nicht wahrgenommen)

Nachdem in diesem Kapitel dargestellt wurde, inwiefern sprachstrukturelle Ähnlichkeiten und die Psychotypologie einen Einfluss auf Transfer haben, werden im nächsten Kapitel zwei unterschiedliche Transfertypen beschrieben. Darüber hinaus wird genauer darauf eingegangen, wie Lernende ziel- und ausgangssprachliche Formen miteinander assoziieren und inwiefern derartige Form-Bedeutungs-Assoziationen (en. form-meaning-mappings) für den Transfer eines sprachlichen Phänomens von Relevanz sind.

4.2.2 Der Einfluss von Form-Bedeutungs-Paaren

Ringbom und Jarvis (2009: 110–114) unterscheiden zwischen Item- und prozeduralem Transfer. Letzterer wird auch als System-Transfer bezeichnet. Die Autoren grenzen die beiden Transfertypen folgendermaßen voneinander ab: Ersterer bezieht sich auf den Transfer einer bestimmten Form (z. B. ein Morphem), letzterer hingegen auf jenen eines gesamten Systems von Prinzipien, also beispielsweise auf den Transfer der Funktionsweise, die hinter der regelmäßigen Bildung des englischen simple past steht. Es handelt sich also nicht um den einmaligen Transfer des Morphems {-ed}, sondern um den des abstrakten Prinzips Hänge {-ed} an den Verbstamm, das hinter der Bildung des simple past steht.

Laut Ringbom und Jarvis (2009: 111) beginnt das Lernen einer neuen sprachlichen Struktur in Form eines Item-Transfers, das heißt, die Lernenden stellen eine Verbindung zwischen einem ziel- und einem ausgangssprachlichen Item her. Für eine solche Form-Bedeutungs-Assoziation gibt es laut Van Patten, Williams und Rott (2004: 5) zwei Möglichkeiten: (1) Die Lerner stoßen auf eine neue Form im Input und aktivieren ihr vorhandenes funktional-semantisches/konzeptuelles Wissen oder (2) sie entdecken eine neue Bedeutung/ein neues Konzept und verknüpfen es mit einer bestehenden Form. Gerade im gesteuerten Unterricht, in welchem weiterhin ein starker Fokus auf der sprachlichen Form liegt (vgl. Ellis 2016 für einen Überblicksartikel), wird in Anlehnung an Ringbom (2007: 24–25) angenommen, dass eine neue zielsprachliche Form als ähnlich zu einer Form in der Ausgangssprache wahrgenommen und sie dann mit der Semantik/dem Konzept der Ausgangssprache assoziiert wird. Laut Ringbom (2007: 5) ist die Herstellung solcher Eins-zu-eins-Verbindungen zwischen der Ausgangs- und der Zielsprache eine natürliche Tendenz beim Lernen von etwas Neuem. Die Lernenden nehmen an, dass eine Form in der Zielsprache genauso funktioniert wie eine ähnliche Form in der Ausgangssprache und formulieren darauf aufbauend eine entsprechende Sprachlernhypothese, die als ‚L2=L1-Äquivalenz-Hypothese‘ oder für den L3-Erwerb als ‚L3=L1-oder-L2-Äquivalenz-Hypothese‘ bezeichnet werden kann (vgl. Ringbom/Jarvis 2009: 111). Diese theoretischen Prinzipien können anhand des folgenden Beispiels veranschaulicht werden. L3-Lerner des Spanischen, die auch Kenntnisse in der L2 Englisch haben, entdecken eine neue sprachliche Form im Input:


(69) Estoy saliendo.

Durch die bestehende Ähnlichkeitsbeziehung (siehe Kapitel 4.2.1), die zwischen der spanischen und der englischen Progressivperiphrase besteht, ist es ihnen möglich, die beiden Formen miteinander in Bezug zu setzen. Sie nehmen an, dass auch die zugrunde liegende Funktion/Semantik der beiden Periphrasen ähnlich ist und assoziieren die neue zielsprachliche Form mit der Semantik/dem Konzept [+ progressiv] der englischen Periphrase. Gerade am Anfang eines solchen Transferprozesses wird allerdings lediglich ein Subset und nicht die gesamte Semantik der Ausgangssprache transferiert (vgl. Andersen 1993: 329–330; siehe Kapitel 5.1.4). Dieses Subset beschränkt sich meist auf die prototypischste Bedeutung. Eine weitere Einschränkung ist, dass diese Eins-zu-eins-Verbindung anfänglich auf der Item-Ebene verweilt und noch nicht auf das gesamte zielsprachliche System übertragen wird. Erst durch ausreichend Input, in welchem die spanische Progressivperiphrase mit unterschiedlichen Verben und in diversen Kontexten auftritt, werden die Lernenden feststellen, dass die Periphrase wie im Englischen systematisch gebildet und auf das gesamte spanische Verbalsystem übertragen werden kann. Findet ein solcher Transfer der Prinzipien der Funktionsweise der Progressivperiphrase im Englischen auf das gesamte Sprachsystem des Spanischen statt, handelt es sich um System- bzw. prozeduralen Transfer. Mit dem graduellen Fortschreiten vom Item- zum prozeduralen Transfer werden die Lernenden auch die anfänglich transferierte prototypische Bedeutung ausweiten und peripherere Bedeutungskomponenten in ihre Lernersprache integrieren. Außerdem werden sie feststellen, dass Eins-zu-eins-Verbindungen zwischen Form und Semantik relativ selten sind und dass die meisten Formen mehrere Bedeutungen ausdrücken und umgekehrt (vgl. VanPatten et al. 2004: 3). Diese Fähigkeit, beispielsweise eine Form mit mehreren Bedeutungen zu verknüpfen, wird in Andersens (1990: 53–55) multifunctionality principle beschrieben.

Da die funktionalen/semantischen Systeme zweier Sprachen selten vollständig kongruent sind, führt prozeduraler Transfer des Öfteren zu Interferenzen (vgl. Ringbom/Jarvis 2009: 110–114). Es ist beispielsweise durchaus möglich, dass eine vollständige Übertragung der Semantik der englischen Progressivperiphrase auf die spanische dazu führt, dass die Lernenden letztere auch für in der Zukunft liegende Handlungen verwenden, was im Spanischen nicht möglich ist und folglich zu negativem Transfer führen würde:


(70) I am leaving tomorrow.
(71) *Mañana estoy saliendo.

Allerdings kann man gerade im Bereich von perfektivem und imperfektivem Aspekt davon ausgehen, dass sich Sprachen, die über eine solche aspektuelle Unterscheidung verfügen, auch einen gemeinsamen semantischen Prototyp teilen (vgl. Dahl 2000: 15). Der Transfer desselben sollte demnach gerade in den Anfangsstadien des Spracherwerbs primär positiver Natur sein.

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