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Kapitel 6


München-Waldfriedhof, 16. Oktober 2019, abends

»Blöder, arroganter, snobistischer, geleckter Lackaffe! Unhöfliches, dämliches, machtgeiles Arschloch!«

Mir ist es egal, ob mich die Leute, die mir entgegenkommen, schockiert ansehen. Die mussten sich ja auch nicht gerade mit diesem dämlichen D’Vergy herumschlagen.

»Zum Waldfriedhof!«, herrsche ich Hugo an, als er mir schweigend die Tür zu seinem potthässlichen Geländewagen aufhält.

Es versetzt mir einen Stich, wenn ich daran denke, wie grandios ich mich mit Hugo kabbeln konnte, als Tosh noch lebte. Doch jetzt wird immer deutlicher, dass ich nicht die Einzige bin, die sich niemals von Toshs Tod erholen wird. Hugo lächelt nie, verfolgt jede meiner Bewegungen mit blutunterlaufenen Augen und macht Marco zur Sau, falls er glaubt, dieser habe die Aufgabe, auf mich aufzupassen, nicht hundertfünfzigprozentig erfüllt.

Marco ist viel zu gutmütig, um ernsthaft böse auf Hugo zu sein, auch er sieht, wie sehr sein Freund leidet. Wegen der unendlichen Ruhe, die Marco ausstrahlt, bin ich eigentlich lieber mit ihm unterwegs, wenn ich schon keinen Schritt mehr allein machen darf. Aber Hugo ist prädestiniert dafür, sich ohne Termin irgendwo Zutritt zu verschaffen. Ha, dieser schlaksige Assistent wäre am liebsten unter seinen Tisch gekrochen, als Hugo ihn einmal kurz angeschnauzt hat. Göttlich!

Vielleicht hätte ich Hugo mit reinnehmen sollen. Aber ich bin ja gar nicht hin, um mich mit diesem arroganten Sack von Oberstaatsanwalt anzulegen, ich wollte nur wissen, wie der tickt. Was der Blödmann tatsächlich erraten hat.

Obwohl ich zähneknirschend zugeben muss, dass der Schnösel den Job wohl nicht nur bekommen hat, weil sie auf die Schnelle keinen anderen aufgetrieben haben, sondern weil er eventuell doch was drauf hat. Denn ich kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass D’Vergy mich ausgehorcht hat und nicht umgekehrt.

Trotzdem. Ich bin keine seiner Untergebenen, mit mir kann er nicht umspringen, wie er will. Außerdem kenne ich mich mit manipulativen Mistkerlen aus. Nach Tosh und Carlo macht mir doch dieser überhebliche Fatzke keine Angst.

Hat er es wirklich gewagt, sich über meine Kleidung lustig zu machen? Idiot! Tosh wäre so etwas im Leben nicht eingefallen. Der hätte mir die Sachen einfach vom Leib gerissen, wenn sie ihm nicht gepasst hätten.

Scheiße! In welche Richtung gehen meine Gedanken denn jetzt?

»Du fährst, als sei ich ein rohes Ei. Eigentlich wollte ich vor Einbruch der Dunkelheit am Grab sein!«, blaffe ich Hugo an.

»Der Mittlere Ring ist einer der Unfallschwerpunkte Münchens«, erklärt der ungerührt.

»Das hat dich früher nicht gestört«, motze ich und denke an unsere erste gemeinsame Fahrt.

»Entspannen Sie sich, Chefin«, sagt Hugo geduldig.

Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Denn nicht Hugo ist es, der meine Laune in den Keller befördert hat. »Entschuldige«, sage ich und reibe mir die pochenden Schläfen.

»Schon okay, Chefin«, behauptet er. »Sie sollten wirklich zusehen, dass Sie nachts auch mal schlafen und nicht immer nur vor diesem Computer hocken und auf die Zahlen starren. Das kann doch nicht gesund sein.«

Als ob es irgendwas bringen würde, sich ins Bett zu legen. Da bekomme ich doch nur stundenlang kein Auge zu. Aber Hugo meint es nur gut, das weiß ich ja, deswegen schlucke ich meine scharfe Erwiderung, dass ihn das überhaupt nichts angeht, rasch herunter und nicke brav.

Endlich erreichen wir den Waldfriedhof, und im Stechschritt marschiere ich zu Toshs Grab. Es ist nicht weit. Der Inhalt meiner Hutschachtel erwies sich auch in dem Moment als nützlich, als ich einen der begehrtesten Plätze auf diesem wunderschönen Friedhof ergattern wollte. Trotzdem fühle ich mich nach dem kurzen Marsch besser. Ich atme tief durch.

»Hallo, Tosh! Hallo, Georg!«, denke ich, als ich vor dem Grab ankomme, dessen Gestaltung leider immer noch nicht abgeschlossen ist. Anstelle eines Grabsteins zieren nach wie vor die schlichten Holzkreuze des Bestatters die letzte Ruhestätte von Tosh und seinem besten Freund.

Als ich mich entschloss, Toshs Wunsch zu folgen und sein Erbe zu verwalten, ahnte ich nicht, dass ich mich rasch einer äußerst kuriosen Situation gegenübersehen würde: Georg starb nur zwei Tage vor Tosh, und er hatte Tosh als seinen Alleinerben eingesetzt. Sodass ich plötzlich für zwei Tote verantwortlich war. Eigentlich ging ich davon aus, dass Georgs Eltern das nicht einfach so hinnehmen würden. Doch sein Vater teilte mir unmissverständlich mit, dass Georg schon vor Jahren für sie gestorben sei. Bastard!

Ich nahm also auch diese Aufgabe an. Weil mir alles recht war, was mich zwang, aus dem Meer der Verzweiflung aufzutauchen, das mich zu verschlingen drohte. Arbeit war gut. Ich brauchte sie. Sie hielt mich aufrecht.

Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Tosh und Georg auch zu Lebzeiten einer gemeinsamen Ruhestätte zugestimmt hätten. Im Gegensatz zu Carlo, der hoffentlich im Dreieck gesprungen ist, als er davon gehört hat. Davon gehört hat er mit Sicherheit, schließlich sind mehr als genug zwielichtige Gestalten auf Toshs Beerdigung aufgetaucht.

Der Wind frischt auf und es wird langsam kühl. Alles wegen Hugo!

Wo steckt Hugo eigentlich? Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass er sich diskret außer Hörweite zurückgezogen hat, mich aber unverwandt beobachtet. Ein wenig Privatsphäre für mich. Nicht, dass das unbedingt notwendig wäre, schließlich rede ich nicht laut mit Tosh. Er ist ja tot, das wäre Unfug und würde nur die nette alte Dame verschrecken, die immer die Begonien auf dem Nachbargrab so hingebungsvoll pflegt. Theoretisch könnte ich überall mit Tosh sprechen. Aber ich weiß, wenn er noch etwas dazu sagen könnte, würde er darauf bestehen, dass ich zu ihm komme, wenn ich was loswerden will, und nicht in einem Jogginganzug auf dem Sofa herumlümmle. Herrischer, arroganter, pseudo-italienischer Mistkerl! Also fahre ich her, wenn ich Sorgen habe, und danach fühle ich mich manchmal ein bisschen besser. Blödsinn, ich weiß, aber ich kann auch nicht damit aufhören.

»Ich muss dir was erzählen«, sage ich stumm zu Tosh. »Der neue Oberstaatsanwalt ist so ein blasierter Affe, das kannst du dir gar nicht vorstellen. So ein selbstherrlicher Vornehmtuer. Aber für uns ist das richtig gut, schätze ich. Bald wird Carlo für alles bezahlen, was er uns angetan hat. Dr. Walther hat mich ja ständig hingehalten, aber dieser arrogante Wichser kann es sicher kaum erwarten, die Lorbeeren einzuheimsen, weil er Carlo Cortone unschädlich gemacht hat. Der wird schon dafür sorgen, dass der Prozess so bald wie möglich beginnt.«

Oder? Es gibt doch genug Indizien, sogar Zeugen. Okay, niemand hat gesehen, wie Carlo auf Tosh geschossen hat. Was daran liegen könnte, dass Carlo nicht auf Tosh geschossen hat. Aber das ändert ja trotzdem nichts daran, dass er an Toshs Tod schuld ist. Nur dass dieser dämliche Lackel von Oberstaatsanwalt das womöglich irgendwie anders sehen würde, wenn er wüsste, was wirklich passiert ist. Aber ich werde schon dafür sorgen, dass dieser überhebliche Armleuchter niemals dahinterkommt.

»Dein Tod war nicht umsonst!«, verspreche ich Tosh, und dann mache ich damit weiter, diesen albernen Geck von der Staatsanwaltschaft mit so ziemlich jeder Beleidigung zu bedenken, die mir einfällt. Bis ich plötzlich glaube, Tosh vor mir zu sehen, mit diesem kleinen spöttischen Zucken um die Mundwinkel, so als vermutete er einen ganz anderen Grund hinter dieser Tirade als den, dass ich D’Vergy nicht riechen kann.

»Blödsinn!«, schimpfe ich stumm. »Ich will einfach sichergehen, dass Carlo nicht ungeschoren davonkommt. Wir waren viel zu lange die Marionetten in seinem kranken Spiel, das will ich nicht mehr sein.«

»Du warst das nie!«

Was? Was?! Antwortet Tosh mir? »Tosh? Tosh!«

»Frau Jennings. Chefin!«

Hugo. Es ist nur Hugo. Oder?

»Es ist kalt, wir sollten gehen.« Fürsorglich legt Hugo mir seine Lederjacke über die Schultern. »Alles in Ordnung, Chefin?«

Ich nicke nur. Nichts ist in Ordnung, und Hugo weiß das nur zu gut. Denn selbst wenn ich dafür sorgen kann, dass Carlo den Rest seines Lebens hinter Gittern versauert, würde mir das Tosh nicht zurückbringen. Und solange das nicht passiert, wird es sich immer anfühlen, als sei ein Teil von mir gestorben, gestorben und begraben. So wie Tosh.

Kapitel 7


München-Isarvorstadt, 18. Oktober 2019, nachmittags

Wenn irgend möglich, vermeide ich es, die Gerichtsmedizin aufzusuchen. Schlimm genug, dass ich dabei zusehen muss, wie ein toter Mensch aufgeschnitten wird, seine Organe entfernt, die Körperflüssigkeiten abgeführt und unter die Lupe genommen werden. Nein, ich scheine zudem immer an Mediziner zu geraten, die betont ungezwungen mit den Überresten eines menschlichen Lebens umgehen, als müssten sie jedem zeigen, was für thoughe Kerle sie sind.

Vielleicht tue ich den Pathologen damit unrecht, und es ist einfach eine gewisse Schnoddrigkeit nötig, um diese Arbeit über Jahre hinweg ausführen zu können. Mögen muss ich das ja trotzdem nicht. Was erklärt, weshalb ich bisher keine Zeit für einen Antrittsbesuch in der Rechtsmedizin gefunden habe. Nicht, dass ich das absichtlich vor mir herschieben würde! Gut, wenn ich ehrlich bin, habe ich genau das getan.

Als mich am späten Nachmittag ein Memo von Dr. Theissen erreicht, mit der Bitte, in den nächsten Tagen vorbeizuschauen, melde ich mich deshalb direkt zurück, und seine Assistentin stimmt meinem sofortigen Besuch zu.

Im Institut erwarten mich mehrere Überraschungen. Ich werde nicht dazu genötigt, einer Obduktion beizuwohnen, sondern man weist mir den Weg zu Dr. Theissens Büro. Dann das Namensschild an der Tür: Dr. Stefanie Theissen. Eine Gerichtsmedizinerin. Ich schelte mich selbst einen unverbesserlichen Chauvinisten, dann klopfe ich an.

Dr. Theissen stellt sich als stämmige Frau mit hübschen rötlichbraunen Locken, einer Stupsnase und einer Nickelbrille heraus, durch die sie mich neugierig anblinzelt. Ich schätze sie auf Anfang fünfzig.

Im Gegensatz zu mir hat sie einen Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch stehen, und nachdem wir uns vorgestellt haben, bietet sie mir höflich an, Platz zu nehmen. Ich muss zugeben, ich bin aufs Angenehmste überrascht, und sage das auch.

Sie lacht. »Weil ich mein Büro nicht mit in Formaldehyd eingelegten Organen dekoriert habe?« Sie droht mir spöttisch mit dem Zeigefinger. »Das ist aber ein albernes Klischee aus einem Fernsehkrimi, Herr Oberstaatsanwalt.«

Ich grinse, entschuldige mich aber lieber dafür, dass ich noch nicht hier war, um mich vorzustellen.

»Das macht doch nichts. Nach dem plötzlichen Ableben von Dr. Walther ist es sicher nicht einfach, sich in seine Fälle einzuarbeiten. Da hatte ich es besser, mein Vorgänger hat genug Zeit für eine Übergabe eingeplant, bevor er in Rente ging.«

Stimmt. Dr. Theissen hat nur wenige Wochen vor mir ihren Job angetreten, mein Assistent hatte so etwas in der Richtung erwähnt.

»Da sind wir auch gleich beim Thema. Ich habe sie hergebeten wegen … Dr. Walther.«

Sie hält kurz inne, und ich beuge mich interessiert vor.

»Gibt es doch Hinweise auf Fremdverschulden?«, frage ich.

»Nein, nein, das ist es nicht. Ich habe mich nur gefragt, was es für einen Eindruck auf Sie gemacht haben mag, als Sie von seinem Freitod erfahren haben. Was haben Sie gedacht, als Sie hörten, dass Sie die Stelle angeboten bekommen, weil Ihr Vorgänger sich umgebracht hat?«

Ich mustere sie einen Moment. Wir kennen uns erst seit ein paar Minuten. Für meinen Geschmack zu kurz, um persönliche Ansichten miteinander zu teilen. Ich bin zugegeben ein wenig irritiert. Andererseits war sie mir sofort sympathisch, deshalb beschließe ich, mich darauf einzulassen und einfach mal abzuwarten, wohin das führt.

»Ich habe gedacht, dass niemand es verdient hat, die letzten Minuten seines Lebens in absoluter Verzweiflung zu verbringen, und das wird er wohl, unabhängig davon, wie es dazu gekommen ist, dass er sich die Pulsadern aufgeschnitten hat.«

»Sie verachten ihn nicht dafür?«

»Nein. Ich ahne, wie tief das Gefühl der Hoffnungslosigkeit sein muss, wenn man sich zu so einem Schritt genötigt sieht.« Allzu oft bin ich selbst an dieser Klippe entlangbalanciert. »Jetzt bin ich aber gespannt, worauf dieses Gespräch hinausläuft.«

Doch Dr. Theissen will sich noch nicht in die Karten schauen lassen. »Mein Vorgänger segelt jetzt mit seiner Frau durchs Mittelmeer. Seit Jahren ihr Traum, hat er gesagt.«

Aha? Und was hat das jetzt mit Dr. Walther zu tun?

»Ich werde seine Obduktionsergebnisse in den ausstehenden Prozessen erläutern. Deshalb arbeite ich gerade sämtliche Berichte durch. Dabei ist mir eine Unstimmigkeit aufgefallen …«

Sie wollte meine Meinung zu Dr. Walthers Suizid wissen, weil sie einen Fehler ihres Vorgängers aufgedeckt hat? Interessante Herangehensweise. Ich gebe ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass sie fortfahren soll.

»Es geht um Tosh Silvers.«

Schon wieder dieser Fall! Die Ermittlungen rund um Tosh Silvers’ Tod waren wirklich mehr als mangelhaft. Aber deswegen wird mein Vorgänger sich wohl kaum umgebracht haben.

»Eine Unstimmigkeit?«, hake ich nach.

»Es geht um Dinge, die teilweise Jahre zurückliegen und die es aus unerfindlichen Gründen nicht in den Bericht geschafft haben.«

Interessiert neige ich den Kopf zur Seite.

»Es gibt deutliche Anzeichen für jahrelange Misshandlungen.«

Wie bitte? Medikamentenmissbrauch oder eine unheilbare Krankheit hätten mich jetzt nicht überrascht, aber das?

»Etliche Knochenbrüche, Schnittverletzungen, eine Brandwunde«, erläutert sie. »Sehen Sie sich das an.«

Dr. Theissen dreht den Monitor ihres Computers herum, sodass ich auf den Bildschirm schauen kann.

»Eine Röntgenaufnahme der linken Hand des Opfers. Jeder Finger weist mehrere Brüche auf, die in unterschiedlichen Zeitabständen entstanden sein müssen.«

»Sportverletzungen?«, frage ich.

»Dafür würde sprechen, dass sämtliche Brüche professionell behandelt wurden«, meint sie. »Wie auch einige der anderen Verletzungen. Allerdings fällt mir keine Sportart ein, bei der ein Körper derartig in Mitleidenschaft gezogen wird.«

Alles klar, es ist nicht ihre Aufgabe, das herauszufinden, sondern meine. »Gibt es Anhaltspunkte dafür, wann das angefangen hat?«

»Im Alter von zehn bis vierzehn Jahren, genauer könnte ich das auch nicht feststellen, wenn ich das Opfer noch auf meinem Tisch hätte.« Sie zuckt mit den Achseln. »Definitiv, bevor er ausgewachsen war.«

Kindesmisshandlung. Ich könnte kotzen.

»In den letzten Jahren scheinen keine neuen Brüche hinzugekommen zu sein, aber einiges deutet darauf hin, dass etliche Schnittverletzungen jüngeren Datums sind. Allerdings steht nichts davon in direktem zeitlichem Zusammenhang mit dem Mord. Trotzdem schien mir die Information wichtig …«

Mir auch. »Danke«, sage ich schlicht.

»Sehen Sie sich das an«, meint sie, und das Foto eines Oberarms erscheint auf dem Monitor. »Diese Schnitte kommen sicher nicht vom Sport.«

Silvers’ Schulter ziert ein Tattoo, eine Dornenhecke oder so etwas, und irgendjemand hat das Muster mit einem scharfen Messer weitergezeichnet, sodass sich ein Netz feiner Narben den Arm hinunterzieht.

»Ich tippe auf ein Skalpell«, meint Dr. Theissen.

Ich muss mich mehrmals räuspern, bevor ich meine nächste Frage stelle. »Könnte es sein, dass die neueren Verletzungen im Rahmen sexueller Handlungen vorgenommen wurden?«

Tosh Silvers wäre nicht der Erste, der nach einem Kindheitstrauma nur noch über den Schmerz Zugang zur eigenen Lust fand. Leider.

»Cutting?«, fragt Dr. Theissen zweifelnd. »Keine weit verbreitete Spielart.«

Besonders nicht, wenn man so tief schneidet, wie das hier offenbar der Fall war. Allerdings kenne ich genug sogenannte Master, die es genießen, bleibende Male auf ihrem Partner zu hinterlassen. Und wenn dieser Partner zu allem Überfluss mit einem Trauma zu kämpfen hat … »Aber es wäre möglich?«

»Ich habe Sie nicht hergebeten, um mich an Spekulationen zu beteiligen«, sagt sie, mildert ihre strengen Worte jedoch ein wenig ab, indem sie mich wieder eulenhaft durch ihre Brille anblinzelt.

»Natürlich. Ich entschuldige mich.« Ich hebe beschwichtigend die Hände. »Die Berichte, die ich bisher gelesen habe, zeigen das Opfer als erfolgreichen Geschäftsmann, der ein zurückgezogenes Leben führte. Ein Bild, das immer mehr ins Wanken gerät. Dazu kommt, dass mir die Wahrheit nur scheibchenweise serviert wird. Dieser Fall ist ein Fiasko.«

»Möglicherweise kann ich Ihnen anderweitig weiterhelfen. Ich habe meinen Sektionsassistenten gefragt, was er von der Sache hält. Es befinden sich selbstverständlich immer sämtliche Befunde in unserem Bericht, egal ob es sich um den aktuellen Mageninhalt oder eine lang zurückliegende Blinddarmoperation handelt. Er konnte sich die unvollständigen Angaben ebenso wenig erklären wie ich. Aber er erinnerte sich daran, dass eine Frau hier war, die darauf bestand, Silvers’ Leichnam zu sehen. Weiß der Kuckuck, warum es ihr gestattet wurde. Die Quittung haben sie prompt erhalten, die Frau erlitt einen Nervenzusammenbruch und musste von ihren beiden Begleitern hinausgetragen werden.«

»Wer ist sie?«

»Sie sagte, sie sei die Betreuerin der Mutter des Opfers, Margit … nein, warten Sie …«

»Mayra Jennings«, seufze ich.

»Sie kennen sich bereits.«

»Allerdings«, entgegne ich grantig. Obwohl es keinen Grund zur Verärgerung gibt, immerhin habe ich eine neue Spur. Aber … keine Ahnung, es passt mir einfach nicht, dass sie Silvers so nah stand.

»Am besten, Sie fragen diese Frau nach Silvers’ sexuellen Präferenzen«, schlägt Dr. Theissen vor.

Nachdem die Gerichtsmedizinerin mir bereits gesagt hat, dass sie sich nicht an Spekulationen beteiligt, verzichte ich auf den Hinweis, dass Mayra Jennings meiner Ansicht nach alles andere als eine Domina ist, die ihre Partner mit einem Messer attackiert. »Das werde ich. Verlassen Sie sich darauf«, sage ich stattdessen und verabschiede mich von Dr. Theissen.

Obwohl das sicher der angenehmste Besuch im Institut für Rechtsmedizin war, den ich je hatte und wahrscheinlich auch haben werde, könnte ich nicht dafür garantieren, dass ich Schneider nicht den Hals umdrehe, liefe er mir jetzt über den Weg. Himmel, ich sollte mich dringend nach einem Trainingspartner umsehen. Die morgendlichen Joggingrunden reichen nicht aus. Wenn das so weitergeht, verliere ich noch irgendwann die Beherrschung.

Es wäre verflucht noch mal Schneiders Aufgabe gewesen, die Sache mit dem unvollständigen Bericht aufzudecken. Ich habe ihn doch angewiesen, sich sämtliche Ermittlungen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Hier geht es doch nicht um einen kleinen Kratzer, der nicht im Obduktionsbericht stand, sondern um jahrelange Misshandlungsspuren, so was muss doch irgendwem auffallen, wenn davon plötzlich nicht mehr die Rede ist.

Vor allem, weil das noch einmal ein ganz anderes Licht auf diesen Fall wirft. Sollte Silvers tatsächlich unter einem Trauma gelitten haben, das bis zu seinem Tod sein Sexualleben beeinträchtigt hat, dann gibt es mehrere neue Spuren. Es könnte sein, dass Silvers sich an seinem früheren Peiniger rächen wollte, dabei jedoch an den Falschen geraten ist. Oder er hatte kein glückliches Händchen bei der Wahl seiner Intimpartner.

Zu der Zyankalikapsel passen diese Überlegungen zwar nicht, und was davon auf Carlo Cortone zutreffen könnte, weiß ich ebenso wenig, schließlich hat es bisher niemand für nötig gehalten, auch unkonventionelle Ermittlungsansätze zu verfolgen. Verflucht noch mal, so ein elendes Chaos! Bei der ersten Frage könnte mir vielleicht Silvers’ Mutter helfen, bei der zweiten womöglich diese Anwältin.

Immer wieder lande ich bei Mayra Jennings. Anstatt darüber nachzudenken, weshalb mich das derart ärgert, nehme ich mein Smartphone zur Hand und rufe meinen Assistenten an. Der meiner Ansicht nach unverhältnismäßig lange braucht, um die Telefonnummer der Dame herauszusuchen. Ich schnauze ihn ungehalten an, was lediglich zur Folge hat, dass der junge Mann beim Durchgeben der Nummer so stottert, dass ich ihn kaum noch verstehe.

Ich atme tief durch und entschuldige mich für meinen rüden Ton, was ihn ein wenig zu beruhigen scheint. Gut. Ich lege auf und wähle die Nummer der Anwältin. Allerdings sollte sich mein Assistent auf Dauer wirklich ein dickeres Fell zulegen, wenn er mit mir zusammenarbeiten will.

Was auch für Mayra Jennings gilt, will es mir scheinen, denn ich habe gerade mal meinen Namen genannt, als sie mich auch schon anmotzt: »Was ist denn nun schon wieder?!«

Wieso steht die Frau eigentlich so unter Strom? Dass sie trauert, sollte ihr Verhältnis zu Silvers weit enger gewesen sein, als es eine Beziehung zu einem Mandanten sein sollte, ist verständlich. Aber das ist es ja nicht allein. Mayra Jennings erinnert mich an eine tickende Zeitbombe, die jederzeit hochgehen kann.

»Glauben Sie wirklich, ich hätte nichts Besseres zu tun, als Ihre lächerlichen Anfragen zu beantworten?«, faucht sie, kaum dass ich Frau Brandelhuber auch nur erwähnt habe. »Ich habe Ihnen doch mehr als deutlich gesagt, dass meine Mandantin nicht vernehmungsfähig ist, da müssen Sie sich jetzt halt ein bisschen gedulden mit dem Attest, wenigstens das sollten Sie doch hinbekommen.«

Ich halte mein Handy ein Stück von meinem Ohr weg, zum einen, weil Mayra Jennings sich mal wieder keiner normalen Lautstärke bedient, doch vor allem vor Verblüffung. Okay, meinen Assistenten habe ich grundlos angeschnauzt, mea culpa und so weiter, ich gelobe ja Besserung, aber ich bin mir ganz sicher, dass ich der Anwältin mein Anliegen vernünftig und höflich vorgetragen habe. Seltsam.

»Frau Jennings«, beginne ich sanft. »Ich wollte mich lediglich erkundigen, ob …« Weiter komme ich nicht.

»Reden Sie nicht mit mir wie mit einem Kleinkind!«, schimpft sie. »In welche Richtung ermitteln Sie da überhaupt? Tosh Silvers’ Mörder kriegen Sie nicht mit freundlichen Worten dran, und eine alkoholkranke Frau kann Ihnen da auch nicht helfen. Cortone ist es, den Sie in die Zange nehmen sollten. Bekommen Sie das auf die Reihe, oder soll ich Ihnen auf die Sprünge helfen?«

Jetzt wird sie unverschämt. Ich denke allerdings gar nicht daran, mich von ihr provozieren zu lassen. »Mayra Jennings«, sage ich dunkel und eine Oktave tiefer als zuvor. »Jetzt holen Sie erst einmal ganz tief Luft, verstanden?«

Eigentlich rechne ich mit einer neuen Schimpftirade und habe schon so halb beschlossen, beim nächsten Mal Kommissar Schneider mit ihr reden zu lassen, vielleicht kommt der besser mit ihr klar – doch dann ist es tatsächlich still am anderen Ende der Leitung. Atmet sie wirklich durch? Interessant.

»Frau Jennings«, sage ich ruhig, aber streng. »Nicht Sie müssen dafür sorgen, dass Silvers’ Mörder verurteilt wird, darum kümmere ich mich. Lassen Sie los. Es ist schwer, aber Sie werden sich besser fühlen.«

»Ähm …«, kommt es ein wenig unsicher aus dem Hörer.

»Sie brauchen nicht darauf zu antworten. Versuchen Sie einfach, mal eine Pause zu machen.«

Dann lege ich auf.

Reichlich verspätet wird mir klar, dass mich dieses Telefonat keinen Schritt weitergebracht hat. Wie konnte das denn passieren? Ich will Mayra Jennings wirklich nicht absichtlich ärgern. Aber womöglich bleibt mir nichts anderes übrig, wenn ich an die Informationen kommen will, die sie mir vorenthält.

Aber andererseits – sie hat auf mich reagiert. Oder? Unsinn. Die Idee, Schneider mit ihr sprechen zu lassen, verwerfe ich dennoch. Obwohl mir das vermutlich einigen Ärger ersparen würde, aber in diesem Augenblick ist mir das völlig egal.

382,08 ₽
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9783754939451
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