Читать книгу: «Vico - Il Conte», страница 3

Шрифт:

Kapitel 4


München-Stadelheim, 14. Oktober 2019, nachmittags

Ein Krüppel.

Sie haben mir wirklich einen Krüppel geschickt! Ich wollte es nicht glauben, dachte, der Tratsch, der seit ein paar Wochen draußen die Runde macht, sei nichts weiter als dämliches Geschwätz, mit dem meine Leute davon ablenken wollen, dass sie ohne mich ziemlich aufgeschmissen sind. Doch als ich den Besucherraum betrete, sitzt da tatsächlich ein Hänfling in einem Rolli und lächelt mich treuherzig an. Ein scheiß Labrador auf Rädern.

»Hallo!«, ruft er mir überschwänglich entgegen. Wie kann man nur so ekelhaft gut gelaunt sein, wenn man dem Mann gegenübertritt, dem man künftig auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein wird? Er sollte vor Angst zittern und nicht einen auf Kindergeburtstag machen.

»Adriano Panucci, der Capo hat mich nach München beordert, ich soll den Contabile ersetzen. Es ist mir eine große Ehre, Sie endlich kennenzulernen, Boss«, stellt er sich vor.

Stronzo! Wessen Boss ich bin und wen ich mit meiner Kohle rumhantieren lasse, bestimme ich immer noch selbst. Glaubt der Kerl, mit der Schleimerei kann er bei mir punkten?

Eine reinhauen kann ich ihm für diese Frechheit natürlich keine. Onora lo zoppo, einen Krüppel zu schlagen zeugt von Ehrlosigkeit. Aber nicht nur das. Jene, die verwundet aus einem Einsatz für die Famiglia hervorgehen, genießen hohes Ansehen. Habe ich noch nie kapiert, ist doch kein Verdienst, einen Job zu vermasseln. Denn das hat er wohl, sonst säße er nicht in dem Rolli. Aber irgendwas außer dem Namen Panucci muss an der halben Portion ja dran sein, glaubt zumindest der Capo. Oder? Hat er mir diesen Gnom als eine Art Botschaft geschickt? Dass wir jetzt in einem dieser Besucherräume sitzen, die normalerweise den Treffen mit den Anwälten vorbehalten sind und uns ohne Anstandswauwau unterhalten können, beeindruckt mich jedenfalls wenig. Wahrscheinlich hat der Knabe beim Wachpersonal einfach die Mitleidskarte gezogen. Ich mustere ihn abschätzig und lehne mich lässig an den wackligen Tisch, neben zwei Stühlen das einzige Möbelstück in dem kargen Raum.

»Wie ist das passiert?«, frage ich und rucke mit dem Kopf in Richtung Rolli.

»Rückenmarksläsion aufgrund einer Schussverletzung«, sagt er aalglatt.

Vai a cagare! Glaubt der echt, ich frag jetzt nach, was das ist? Ob er wohl noch ficken kann?

»Seitdem habe ich meine Zeit genutzt, um mich weiterzubilden …«

Jetzt erzählt mir der Streber glatt was von einer Business School und haut mir einen Haufen Zertifikate um die Ohren, die mir so was von am Arsch vorbeigehen. Wahrscheinlich hat der Capo den nicht hergeschickt, weil er so gut ist, sondern weil sie die Nervensäge in Padolfi satthatten.

Tosh brauchte jedenfalls keine dämlichen Diplome, der hat einfach aufgepasst, wie der alte Finanzmanager die Dinge gehandhabt hat, und den Rest hat er sich selbst beigebracht. Das wichtige Zeugs hat er eh von mir gelernt. So ein blöder Angeber war Tosh auch nicht. Na ja, das wäre ihm allerdings auch nicht so gut bekommen.

Dieses magere Bürscherl könnte Tosh jedenfalls niemals das Wasser reichen. Unwillkürlich sehe ich meinen Schützling vor mir, an dem Tag, als er Teil der Famiglia wurde. Es ist Tradition, dass sich das Blut eines Anwärters mit dem seines Mentors mischt. Meist fügen sich die beiden einen kleinen Schnitt in die Handflächen zu und legen sie aufeinander. Wie in einem lächerlichen Karl-May-Film. Pah! Das reichte mir nicht. Mit einem entzückenden, japanischen Filetiermesser zeichnete ich ein hübsches Muster auf Toshs nackten Oberkörper, bis er blutüberströmt vor mir stand. Keinen Mucks hat er gemacht. Trotzdem war da nichts als pure Dankbarkeit in seinen Augen, als ich ihm den Siegelring der Famiglia an den Finger steckte. Dann kam das übliche Geseier über Treue und Ehre, aber Tosh hat noch einen draufgesetzt und todernst hinzugefügt, dass er sein Leben für mich geben würde.

Was er schlussendlich auch getan hat. Komisch, dass bisher niemand auf den offensichtlichen Grund dafür gekommen ist, warum Tosh auf diese Zyankalikapsel gebissen hat: Wer auch immer ihn umgebracht hat, Tosh wusste, dass er sterben würde, und er wollte nicht riskieren, vorher etwas auszuplaudern, was mich in eine ähnlich dumme Lage bringen könnte. Zum Beispiel, indem er zugibt, dass ich Domenicos Tod befohlen habe. Sein Mörder wird mich schon nicht umsonst da rausgelockt haben, der dachte, er kann mir Toshs Geständnis präsentieren und mich direkt des Verrats bezichtigen. Aber Tosh hat sich lieber auf die Zunge, beziehungsweise auf die Zyankalikapsel gebissen, als mich zu verpfeifen.

Auf Tosh konnte ich mich echt hunterpro verlassen. Das einzige Mal, dass er nicht sorgfältig gearbeitet hat, war, als er diesen Computerfuzzi um die Ecke gebracht hat, und ich hinter ihm aufräumen und den Selbstmord inszenieren musste. Andererseits war ihm zu diesem Zeitpunkt sein Mörder vielleicht schon dicht auf den Fersen, durchaus möglich, dass Tosh einfach nicht mehr dazu gekommen ist, die Sache ordentlich zu Ende zu bringen.

»Ich würde mich wirklich über eine Chance freuen«, trällert Adriano.

Hat er das aus einem Bewerbungshandbuch? Wie werde ich Mafiaboss in zehn Schritten, oder was?

»Ich könnte Sie auch hier herausholen, Boss, sobald ich mir einen Überblick verschafft habe.«

»Soso. Ich dachte, du bist schon eine Weile im Gespräch für diesen Posten. Wäre es da nicht angebracht gewesen, sich im Vorfeld einen Überblick zu verschaffen?«, schnauze ich ihn an.

Verlegen kratzt er an einem eitrigen Pickel auf seiner Wange herum. »Ja, das wäre mir auch lieber gewesen, damit Sie gleich sehen, wie nützlich ich Ihnen sein kann, aber ohne Ihren Segen will keiner mit mir reden …«

Sehr gut. Das würde ich auch niemandem geraten haben.

»Also, soll ich Sie …?«

»Nein.« Ich bin doch nicht auf diesen Wicht angewiesen, wenn ich hier rauswill. Nein, ich muss erst wissen, wer Tosh auf dem Gewissen hat. Denn ich könnte meinen Arsch darauf verwetten, dass es dem Mörder in Wahrheit darum ging, der nächste Padre von München zu werden. Doch dazu sitze ich zu fest im Sattel. Es sei denn, jemand setzt dem Capo in Padolfi den Floh ins Ohr, dass ich für Domenicos vorzeitiges Ableben gesorgt habe.

Aber scheinbar ist ja niemand in der Lage, Toshs Mörder zu schnappen, weder die Bullen noch meine Leute. Am meisten hatte ich mir ja von Dr. Walther und dem Schneider versprochen. Ärger ohne Ende hatten wir schon mit denen. Aber diesmal haben sie auf ganzer Linie versagt. Stattdessen hockt der Walther plötzlich mausetot in seiner Wanne. Stupido! Als ob es irgendwen interessieren würde, wo der alte Trottel seinen Schwanz reinsteckt. Seine Frau sicher nicht.

Jedenfalls ziehe ich es vor, hierzubleiben, bevor ich nicht weiß, mit wem ich es zu tun habe. Die Geschäfte kann ich auch von hier aus leiten. Klar, ein paar Dinge laufen im Moment nicht ganz rund, aber Toshs Mörder soll ruhig glauben, er hätte mich schon außer Gefecht gesetzt.

Aber warum kommt der Scheißkerl nicht aus seiner Deckung? Wer ist es? Na ja, dieser Milchbubi, der frisch aus Padolfi hergerollt ist, ist schon mal raus.

»Na schön, du darfst mir zeigen, was du als Geldwäscher so draufhast.«

»Ehrlich?« Adriano strahlt. »Toll! Ich werde Sie nicht enttäuschen, Boss.«

Ach ja? Na, das werden wir ja sehen. Aber ich brauche eh jemanden für die Finanzen, und um ein paar Scheinchen zu waschen, muss man ja nicht latschen können. Vielleicht ist diese Schießbudenfigur echt dafür geeignet.

Wenn Adriano aber versagt, gebe ich seinem Rolli so einen kräftigen Schubs, dass er erst in Padolfi wieder zum Stehen kommt. Soll er dem Capo sein Scheitern erklären. Ich bin dann jedenfalls fein raus, denn ich habe den ja nicht ausgesucht.

»Das Gesundheitsamt hat das Blue Parrot mit irgendwelchen fadenscheinigen Ausreden dichtgemacht. Wenn ich rauskomme, will ich, dass der Laden wieder brummt«, befehle ich.

Kakerlaken in der Küche sind etwas, was zuverlässig die Gäste vertreibt. Was recht ärgerlich ist, denn das Blue Parrot ist seit Jahren ein Garant dafür, dass nichts in München passiert, von dem die Famiglia nichts mitbekommt. Dass Dr. Walther mal eben Harakiri begehen kann, ohne dass wir auch nur ahnen, dass da was im Argen ist, zeigt doch, wie sehr wir das Restaurant brauchen.

»Äh …«, sagt Adriano unsicher.

»Du wolltest doch eine Herausforderung, oder, Kleiner?«

»Ja ja, klar, das ist super! Ich … hm … mir fällt sicher was ein, sobald ich mir das Blue Parrot angesehen habe.«

»Du kannst jederzeit herkommen, und um einen Rat bitten«, sage ich generös.

»Danke, Boss! Das bedeutet mir so viel. Das mache ich ganz bestimmt. Sie sind so nett!«

Nett?! Vaffanculo! Die in Padolfi wollten ihn loswerden. Eindeutig. Hat dem die Kugel auch noch das Hirn zermatscht?

»Darf ich gleich was fragen, Boss?«, fragt Adriano und legt schon los, ohne meine Zustimmung abzuwarten: »Silvers verfügte doch über ein ansehnliches Privatvermögen, was ist denn damit …«

»Silvers hatte Familie«, unterbreche ich ihn.

Mehr muss ich nicht sagen. Für die Angehörigen verstorbener Mitglieder zu sorgen, ist Ehrensache. Außerdem ist Toshs Kohle bei der kleinen Mayra erst mal sehr gut aufgehoben. Nicht nur, dass sie sich um den ganzen Kram mit der Beerdigung und der durchgeknallten Mutter gekümmert hat, obwohl die Sache mit dem Grab natürlich sentimentale Mädchenscheiße war. Ich würde ihr sogar zutrauen, Toshs Mörder zu finden. Wenn sie mal einsehen würde, dass ich es nicht war. Aber seit Tosh unter der Erde ist, ist die Frau scheinbar völlig durch den Wind. Wahrscheinlich muss sie nur mal wieder kräftig durchgevögelt werden – ein neuer Stecher kann bei den Weibern ja Wunder bewirken. Eine Aufgabe, der ich mich durchaus annehmen würde, sobald ich hier rauskomme.

Wie auch immer. Solange die Chance besteht, dass sie Vernunft annimmt, haben alle Weisung, die Finger von ihr zu lassen. Marco und Hugo weichen von sich aus nicht von ihrer Seite. Mir nur recht. So kommt auch Toshs Mörder nicht an sie ran. Nur, falls der Killer auf die Idee verfallen sollte, Tosh könnte im Bett was ausgeplaudert haben. Als ob!

»Darf ich gehen, Boss?«, fragt Adriano unsicher.

»Geht das denn?«, spotte ich und er wird tatsächlich rot. »Verschwinde. Ich erwarte exzellente Arbeit.«

»Naturalmente! Danke, Boss!«

Er wendet und rollt hinaus, während ich mir eine Zigarre anzünde und darüber nachdenke, was Adrianos Auftauchen für mich bedeutet.

Ich muss unbedingt mehr Druck machen. Ich kann nicht ewig hier drinhocken. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sie jemanden aus Padolfi herschicken, aber einen Krüppel, der der Contabile werden soll? Sieht so aus, als fürchten die Bosse in Italien, ich könnte die Lage hier nicht mehr im Griff haben.

Leider kann ich unmöglich die Hälfte der Famiglia aus dem Weg räumen, in der Hoffnung, dass der Verräter dann schon dabei sein wird – also ich kann natürlich schon, aber das lassen sie mir dann doch nicht durchgehen. Toshs Mörder zu erledigen, wenn der sich sogar Chancen auf meinen Posten ausrechnet, wird möglicherweise heikel genug.

Dann dieser Nachfolger von Dr. Walther, der hat mir gerade noch gefehlt. Ich habe wirklich Besseres zu tun, als nach Flecken auf der blütenweißen Weste dieses italienischen Adeligen zu suchen. Aber es hilft ja nichts. Es wird höchste Zeit, wieder ein bisschen mitzumischen.

Kapitel 5


München-Maxvorstadt, 16. Oktober 2019, nachmittags

Zwei Tage nach meinem letzten Treffen mit Schneider bricht vor meinem Büro ein Tumult aus, der schließlich eine junge Frau in mein Büro spült.

Eine sehr junge Frau, klein, aber mit einer augenfälligen fraulichen Figur. Recht attraktiv, wenn man diesen Typ mag. Allerdings versteckt sie ihre Kurven in einem absolut blödsinnigen Kostümchen, dessen Pastellfarbe ihrer Großmutter gut zu Gesicht stünde, aber doch nicht ihr. Sie sollte Rot tragen, das würde wunderbar zu ihrem kastanienbraunen Haar passen, das am Hinterkopf zu einem strengen Dutt zusammengefasst ist, der ebenfalls nach Oma aussieht.

Wahrscheinlich glaubt sie, dieser absurde Aufzug sei nötig, um niemanden zu provozieren, aber wer keine vernünftige Begrüßung herausbringt und seine ersten Worte wie eine Kampfansage klingen lässt, braucht sich doch um so etwas wirklich keine Gedanken zu machen.

»Oberstaatsanwalt D’Vergy?«, trompetet sie, kaum, dass sie einen Fuß in meinem Büro hat. »Mayra Jennings.«

Das ist die Jennings? Ich bin ein wenig überrascht. Man soll ja nicht schlecht über einen Toten reden, aber was zum Teufel hat Tosh Silvers geritten, eine so junge Anwältin zur Testamentsvollstreckerin und Betreuerin seiner Mutter zu bestimmen? Das macht doch niemand, der noch alle Sinne beisammen hat, jedenfalls nicht, wenn man einen Mann wie Cortone an den Hacken hat. Ich sollte wirklich froh sein, dass sie nicht als Nebenklägerin auftreten wird. So ein Mädel wie die verspeist Carlo Cortone doch zum Frühstück, die setzt mir womöglich den ganzen Prozess in den Sand.

»Ich verlange eine Erklärung!«, sagt sie in absolut unangemessener Lautstärke und marschiert auf mich zu.

»In welcher Angelegenheit kann ich Ihnen denn behilflich sein, Frau Jennings?«, sage ich betont arglos, als hätte ich nicht die geringste Ahnung, mit wem ich es zu tun habe.

Inzwischen ist sie vor meinem Schreibtisch angekommen und sieht sich stirnrunzelnd um. »Ist ihr Büro noch nicht fertig eingerichtet?« Ihr Blick huscht durch den Raum. »Haben Sie mal daran gedacht, einen Innenarchitekten zu engagieren?«

Mache ich sie nervös, oder ist sie von Natur aus so frech? Ich antworte nicht.

Derweil hat sie den rustikalen Konferenztisch entdeckt und stöckelt hinüber. Sie beginnt, mit einiger Mühe einen der schweren Stühle in Richtung meines Schreibtisches zu zerren. »Oder ist Ihrer Behörde das Geld für die Büroausstattung ausgegangen?«, mault sie.

Weder bittet sie um Hilfe, noch biete ich sie ihr an. Offensichtlich hat sie meine Intention durchschaut und keine Lust, mitzuspielen. Interessant. Möglicherweise wusste Tosh Silvers ja doch, was er tut.

Schnaufend lässt sie sich auf den Stuhl fallen. Ich würde mir ja gerne einreden, dass sie meinetwegen so außer Atem ist, aber ich fürchte, das liegt eher an der ungewohnten sportlichen Betätigung. Mayra Jennings wäre nicht die Erste, die nach dem Jurastudium in die gleiche Falle tappt: Das Sportprogramm fällt immer öfter wegen dringender Überstunden flach, die Vorbereitung des nächsten Prozesses ist wichtiger als gesundes Essen, und ehe man sich versieht, ernährt man sich ausschließlich von Salamipizza und bewegt sich nur noch vom Schreibtisch weg, wenn man zu Gericht muss. Hätte ich in ihrem Leben etwas zu sagen, würde ich das unterbinden. Aber das geht mich ja nun wirklich nichts an.

Ich mustere die Anwältin unverhohlen, während ich darauf warte, dass sie meine Frage beantwortet. Doch sie starrt mich ebenfalls schweigend an. Wobei sie genau wie ich keine Miene verzieht. Erstaunlich. Doch, ich glaube, Silvers hat eine gute Wahl getroffen.

Aber plötzlich kommt mir ein anderer Gedanke. Was, wenn die Jennings zu Cortones Mannschaft gehört? Immerhin hatten Silvers und Cortone geschäftliche Beziehungen zueinander. Vielleicht verzichtet die Jennings deshalb darauf, sich vor Gericht ein paar meiner Lorbeeren zu stibitzen.

Eigentlich ganz gut, dass sie sitzt, so verschwindet zumindest ein Teil dieses schrecklichen, bonbonfarbenen Gewandes unter meinem Tisch. Dass ich mir den Rest ansehen muss, reicht mir schon. Wie sie wohl in einem Dirndl aussehen würde? Diese Kurven würden sich doch wunderbar in einem weit ausgeschnittenem … Stopp! Verflucht, D’Vergy! Gehts noch? Dirndl? Seit 72 Stunden wieder in München und schon über Dirndl fantasieren?

Um mich abzulenken und weil ich sehe, dass sie versucht, ein krampfhaftes Schlucken vor mir zu verbergen, beschließe ich, sie vom Haken zu lassen. Zu sehr darauf konzentriert, nicht zu blinzeln und dabei das Schlucken vergessen - kann passieren.

»Da wir nun geklärt haben, dass ich nicht der richtige Ansprechpartner für Schöner Wohnen bin und Sie nicht so aussehen, als sollte man Modefragen mit Ihnen diskutieren, warum lassen Sie sich nicht von meinem Assistenten einen Termin geben und überlegen in der Zwischenzeit, wie Sie Ihr Anliegen verständlich vorbringen können?«

Sie zuckt nicht mal mit der Wimper. »Sie haben Bettina Brandelhuber vorladen lassen.«

»Und das interessiert Sie, weil …?«, frage ich harmlos.

»Ich bin Frau Brandelhubers Betreuerin.«

»Die entsprechende Vollmacht können Sie vorlegen?«

»Die befindet sich längst in Ihren Unterlagen«, erwidert sie, und ihre Augen funkeln.

»Oh, das tut mir leid, Frau Jennings. Sieht so aus, als hätte ich mich auf unsere Besprechung nicht ausreichend vorbereitet«, spotte ich.

Ihre hübschen Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, doch wieder geht sie auf meine höflich vorgebrachte Provokation nicht ein. »Frau Brandelhuber lebt aufgrund ihrer Alkoholkrankheit in einer soziotherapeutischen Einrichtung. An guten Tagen kann sie sich zumindest an den Namen ihres Sohnes erinnern. Ich glaube nicht, dass sie schon begriffen hat, dass er tot ist. Was bitte soll diese Frau Relevantes zum Mord an Tosh Silvers auszusagen haben?«

»Was relevant ist und was nicht, entscheide ich«, sage ich knapp und lasse für einen Augenblick die Maske des netten Beamten fallen.

»Lassen Sie die Frau in Ruhe!«, sagt sie trotzig.

»Frau Jennings, wenn Ihnen ausschließlich daran gelegen wäre, dass ich Frau Brandelhuber nicht behellige, hätten Sie ein Einschreiben mit einem ärztlichen Attest schicken können. Ich verstehe durchaus, dass Sie sehen wollen, mit wem sie es zu tun bekommen, aber Sie sollten das nicht so deutlich zeigen, das schwächt Ihre Position zu sehr«, rate ich ihr wohlwollend. Womit es mir tatsächlich gelingt, sie einen Moment lang sprachlos zu machen. »Aber da sie nun schon mal hier sind … vielleicht verraten Sie mir, wie Sie überhaupt zu diesem Mandat gekommen sind?«

»Möglicherweise hat es etwas damit zu tun, dass ich mich persönlich für meine Klienten einsetze, und keine popeligen Einschreiben schicke«, entgegnet sie ein wenig zu patzig.

Aber auf den Mund gefallen ist sie jedenfalls nicht. Gefällt mir. Nach all der Heimlichtuerei und dem Gemauschel um den Suizid meines Vorgängers ist dieses offene Scharmützel mehr als wohltuend. Obwohl es dafür sorgt, dass ich mir Dinge vorstelle, die ich mir besser nicht vorstellen sollte. Ob sie wohl immer so aufmüpfig ist?

»Nur schade, dass Sie sich nicht für Jasemina Brandelhuber eingesetzt haben, als diese in Cortones Limousine eingestiegen ist.«

Kaum merklich wandern ihre Augenbrauen kurz zueinander. Hätte ich nicht genau darauf gelauert, im Leben wäre mir das kurze Aufflackern ihrer Wut nicht aufgefallen. Ihre Mimik ist nicht leicht zu lesen. Faszinierend.

»Es gab nichts, was ich hätte tun können.«

»Natürlich.« Ich nicke verstehend, auch wenn ihr an meinem Verständnis wahrscheinlich herzlich wenig gelegen ist.

Wir verfallen wieder in unser anfängliches Blickduell. Wirklich bedauerlich, dass ich keine Zeit habe, dieses Spiel den ganzen Tag lang fortzusetzen. Aber ich habe erfahren, was ich wissen wollte: Mayra Jennings war dabei, als Jasemina in den Wagen eingestiegen ist, und sie weiß oder ahnt, dass Cortone drin saß. Recht wahrscheinlich also, dass sie uns anonym darüber in Kenntnis gesetzt hat.

Dann arbeitet sie eher nicht für Cortone, was ich recht erfreulich finde. Alles andere kann warten, mein nächster Termin leider nicht. »Wenn das dann alles wäre, Frau Jennings …« Ich wedle mit einer Hand, als sei sie eine lästige Fliege, die ich aus dem Büro scheuchen möchte.

Entrüstet schnaubt sie durch die Nase, steht aber auf und bewegt sich zur Tür. Wie wäre es mit einem »Vielen Dank für Ihre Zeit, Herr D’Vergy?«, denke ich amüsiert. Schließlich ist sie unangemeldet hereingeplatzt. So lasse ich sie nicht davonkommen. »Wäre es nicht angebracht, meine Möbel wieder an ihren angestammten Platz zu stellen, egal, wie sehr sie Ihnen missfallen?«

Sie hält mitten in der Bewegung inne und dreht sich demonstrativ langsam um. »Es wäre höflich, Ihren Besuchern eine Sitzgelegenheit anzubieten.«

»Die Höflichkeit ist das Bestreben, anderen gefallen zu wollen«, zitiere ich Baron de Montesquieu, einen der Lieblingsphilosophen meines Vaters. »Ich habe nicht das Bedürfnis, anderen zu gefallen, und Sie auch nicht, sonst würden Sie andere Farben tragen.«

»Höflichkeit ist Klugheit, folglich ist Unhöflichkeit Dummheit«, schießt sie sofort zurück, wirft den Kopf in den Nacken und rauscht aus meinem Büro.

»Rot würde Ihnen stehen«, rate ich ihr unbeeindruckt, dann fällt auch schon die Tür hinter ihr ins Schloss.

Jetzt muss ich mein Grinsen nicht mehr verbergen. Die Frau zitiert Schopenhauer, ist das zu fassen! Das nächste Mal können wir auf das Blickduell verzichten, und stattdessen versuchen, uns mit Aphorismen zu überbieten. Wobei die Anwältin keine Chance haben dürfte. Wer mit Conte Fernando D’Vergy unter einem Dach aufgewachsen ist, sollte in der Lage sein, ein ganzes Dinnergespräch ausschließlich mit wortgetreuen philosophischen Zitaten zu bestreiten. Und ich wäre doch sehr erstaunt, wenn in anderen Häusern tagtäglich eine ähnlich illustre Gesellschaft zu Gast wäre wie in dem meines Vaters.

Ich freue mich wirklich auf den Moment, an dem sie wiederkommen wird. Wiederkommen wird sie. Schließlich hat sie im Gegensatz zu mir keine einzige Antwort auf ihre Fragen erhalten, weder auf die, die sie gestellt hat, noch auf die, die sie eigentlich beantwortet haben wollte. Und bis es so weit ist, werde ich daran arbeiten, meine Fantasien über sie in den Griff zu bekommen. Wie es sich für einen Oberstaatsanwalt gehört.

382,08 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
376 стр. 45 иллюстраций
ISBN:
9783754939451
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
182