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»ALLES VERGESSENE SCHREIT IM TRAUM UM HILFE«
Maria Zeh


1978 lernte ich die damals 75-jährige Maria Zeh aus Stuttgart kennen. Ich arbeitete an einem Dokumentarfilm für den Westdeutschen Rundfunk mit dem Titel »Alles Vergessene schreit im Traum um Hilfe«1. Maria Zeh sollte eine der Hauptprotagonistinnen sein.

»Wir brauchen beides: die Erinnerung, um zu wissen, wer wir sind, und das Vergessen, um zu werden, was wir sein wollen. Und beides lässt sich nicht trennen.« So las ich in einer Kolumne von Elke Heidenreich. Doch was passiert mit Erlebnissen, die man nicht vergessen kann? Die so prägend sind, dass sie einem den Weg, das zu werden, was man sein will, nicht mehr offen lassen? Dies war die Fragestellung des Films.

Das Interview mit Maria Zeh zeichneten wir in meiner damaligen Wohnung in Stuttgart auf, denn sie scheute sich, drei fremde Männer – das Filmteam – in ihrer Wohnung zu empfangen.2 Das zweite Gespräch führte ich zusammen mit Helma Fehrmann3 bei ihr zu Hause. Maria Zeh war eine große, gepflegte, sehr elegante Frau mit einer starken Präsenz. Auffallend waren ihre unbändige Neugierde und Offenheit: Sie wollte nichts im Leben verpassen.

Maria Zeh war 1903 in Stuttgart zur Welt gekommen. Im ersten Interview erzählte sie von ihrer Kindheit in einer warmherzigen, kinderreichen Familie in einem Stuttgarter Vorort am Neckar, vom Besuch der Marxistischen Arbeiterschule und von ihrem Engagement in der oppositionellen Lehrerschaft. »Ich hatte Freundinnen, die waren Pfarrerstöchter und Lehrerinnen, und die haben mich mitgenommen in die Marxistische Arbeiterschule. Das war für mich eine neue Welt. Ich war seit 1931 verheiratet, sportlich sehr aktiv, und das hat mich so gepackt, dass ich da richtig eingestiegen bin. Zu der Zeit war ich nicht mehr berufstätig. Mein Mann war Beamter auf Lebenszeit geworden; da wurde ich als Doppelverdienerin entlassen. Ich war 28 Jahre alt. Die Arbeit hat mir gefehlt. Ich war soziale Helferin in einem Betrieb, und das bin ich mit Leib und Seele gewesen. Obwohl es uns wirtschaftlich gut ging, war ich schockiert und hab mich dann da richtig reingestürzt. Da ist mir natürlich eine ganz neue Welt eröffnet worden. Ich habe viele Bildungslücken bei mir entdeckt und nicht nur Genossinnen, sondern Freundinnen gewonnen. Mein Mann war Sportler, er war gut und in jeder Beziehung großzügig. Ich hab ihm gesagt, dass ich in Kurse gehe, mit Mädchen, und die kamen auch zu uns, da war er ein großer Gastgeber. Es waren meist Lehrerinnen aus der Umgebung von Stuttgart, und sonntags war bei uns der Treff. Das war die Zeit der Erwerbslosigkeit und Geldnot. Als der Faschismus begann, wurden die Lehrerinnen entlassen, und die Anlaufstelle war ich. Sie kamen alle zu uns in ihrer ersten Ratlosigkeit

Anfang der 30er Jahre trat Maria Zeh in die Kommunistische Partei ein. »Das war eine Zeit, wo man den Faschismus schon geahnt hat, und damals wurden wir speziell geschult für die illegale Arbeit. Man hat uns gesagt, wenn der Faschismus kommt, dann werden wir von der Marxistischen Arbeiterschule dran sein, weil das als kommunistisch gilt. Es wurde auch gesagt, wenn einer andere belastet, der belastet sich selbst. Also: Wenn man anfängt, auf einem Treppengeländer zu rutschen, dann kann man sich nicht mehr halten. Genauso ist es mit den Aussagen: Wenn man einmal anfängt, gibt’s kein Ende mehr. Daran hab ich mich immer gehalten. Ich habe dann aktiv in der oppositionellen Lehrerschaft mitgearbeitet, dort kamen Blätter raus, wurden Informationen verschickt, gab es Schulungen usw.

Das wurde dann immer härter, es kamen die ersten Verhaftungen, und die Sache wurde ernst. Manche meiner Freundinnen konnten nicht mehr zu Hause sein, und ohne viele Worte hatte ich dann die Aufgabe, nach Quartieren, Geld und Papieren zu gucken, sodass sie in die Illegalität konnten. Geld hatten sie auch keines. So kamen halt alle zu uns. Als die ersten abgerückt sind, mussten die dann auch versorgt werden, man musste Geld überbringen und so weiter – da ist man immer so in Sorge gewesen, dass keiner hochgeht, dass man an sich selbst nie gedacht hat. Ich hab das aus selbstverständlicher Kameradschaft gemacht. Da hab ich erst gemerkt, wie viele Bekannte ich anpumpen konnte. Meine Schwiegermutter war gut gestellt und hat mir immer Geld geschenkt für Modellkleider oder Schuhe, da ging alles Geld hinein. Für mich hat es gar nichts mehr gegeben außer der illegalen Arbeit. Die Kurierdienste waren immer eine gefährliche Sache, deshalb hab ich mein Äußeres damals sehr geschützt. Ja, und dann kam der große Tag meiner Verhaftung, alle Männer, die mit uns arbeiteten, waren ja schon verhaftet worden. Mein Mann hatte am 30. Juli 1935 Geburtstag. Ein Freund hat uns angerufen, wir sollen zu ihm kommen, es gibt für ihn ein Fest. Dort sind wir hingefahren, es war eine lustige Nacht, und alle haben dort geschlafen. Morgens kam das Mädchen und sagte, wir sollen aufstehen. Ich sag: ›Mein Mann hat doch Urlaub.‹ Dann hat mein Mann gesagt, wir müssten auf eine Behörde. Das war die Gestapo. Dann bin ich nicht mehr wiedergekommen

Zwei Tage und Nächte wurde Maria Zeh im Stuttgarter Gefängnis Büchsenstraße verhört. »Vor allem wollten sie Namen wissen, wer die Leute unterstützt, die Papiere besorgt, Flugblätter gemacht und verteilt hat usw., und natürlich wussten die schon vieles ganz genau. Ich hab mir – aufgrund meiner marxistischen Schule – eine Geschichte ausgedacht, und bei der bin ich geblieben. Später kam ich zur Untersuchungshaft ins Frauengefängnis in der Weimarstraße. Es gab täglich viele Gegenüberstellungen, und der Mußgay4 hat gesagt: ›Guck doch der ihre Augen an, die sagt nichts.‹ Ich hab jeden Tag – wie ein Examinand – meinen Text aufgesagt, genau das, was ich bei der Gestapo gesagt hab. Das ist sehr schwierig, wenn man überhaupt nichts zu schreiben hat. Es ist schrecklich, in einer Zelle zu sitzen, ohne alles. Dann kamen immer mehr Verhaftungen und Gegenüberstellungen. Da war einer, dem ist’s Blut runtergelaufen, der Rudi Bergmann: ›Der hat gerade alles gesagt, und so geht’s Ihnen auch.‹ Da gab es auch Genossinnen, die gesagt haben, was die Gestapo weiß, das kann man ruhig zugeben. Aber das hab ich nicht gemacht

»Unwürdig, die Frau eines Beamtenoffiziers zu sein«

»Eines Nachts kam ein Wärter und brachte mich in einen Saal, in dem ungefähr zwanzig Personen und mein Mann waren. Er sagte, er lässt sich nicht scheiden, und die Gestapo hat gesagt: ›Sie werden geschieden!‹ Mein Mann war so traurig und sagte: ›Was haben Sie aus meiner Frau gemacht?‹ Man kann sich ja vorstellen, wie man aussieht, wenn man monatelang da drin hockt. Ich durfte keine Garderobe rein- oder rausgeben und musste immer das Gleiche anhaben, wegen Schmuggelgefahr. Am 24. Dezember, an Heiligabend 1935, kam ein junger Gestapomann und hat mir die Scheidungsurkunde gebracht: ›Unwürdig, die Frau eines Beamtenoffiziers zu sein.‹ Er war ein kleiner Beamter und älter als ich. Ich vergesse nie die Glocken von der Hospitalkirche, da musste ich mit kaltem Wasser siebzig Treppen runterwaschen. Am selben Abend! Ich war geschieden! Die meinten, wenn ich geschieden bin, würde ich vielleicht was sagen

Sechs Monate lang blieb Maria Zeh in Einzelhaft im Gefängnis Büchsenstraße, bevor sie in das Frauengefängnis Weimarstraße verlegt wurde. Auch dort wurde sie weiter verhört und blieb in einer Zelle allein. »Bei den Verhören, da hat man täglich zu mir gesagt: › Sie verrecken ja doch bei uns. Sie verrecken bei uns! Sie kommen nimmer raus!‹ Ganz genauso ging das achtunddreißig Monate lang. Wenn man dann einen Widerstand in sich aufbringt, dann bekommt man diese Kraft. Da war so eine ungeheure Lebenssehnsucht, je näher man am Abkratzen war. Ich hatte die ganz feste Überzeugung, die Gewissheit, dass der Faschismus nicht siegt. Das gab mir die ganze Kraft. Ich hatte ganz großes Glück, dass ich hier sitze

Maria Zeh ist überzeugt, dass sie selbst nur überleben konnte, weil ihre Freundin Lilo Herrmann5 sie nicht verraten hat. »In der Zelle, in der Mußgay immer gesagt hat, die verreckt da drin, in der Zelle hat der sich später aufgehängt. Nachdem er alle Kameraden verraten hatte, nach 1945, hat er sich in der Zelle 36 aufgehängt

Die Biene in der Zelle

Maria Zeh erzählte, wie sie sich alleine in der Zelle mit Turnübungen beschäftigte, um nicht in Apathie zu verfallen, wie wichtig die Geräusche um sie herum waren, und dass man ständig Gefahr lief, in den Wahnsinn abzugleiten, weil auch die Gedanken keinen Fluchtweg hatten. »Da kam eine Biene in meine Zelle – in die dunkle Zelle eine Biene! Sie flog herum und wieder davon. Abends kam sie wieder rein, und dann hab ich mit ihr gesprochen: ›Auf welchen Wiesen warst du? Wo gibt’s hier die Auen? Hat es da draußen nach Gras gerochen?‹ Da war man so unglaublich erregt und war von einer solchen Lebenssehnsucht erfüllt. Man wusste ja, du bist eingeschlossen, aber manchmal war es auch so, als ob die guten Gedanken der Menschen wie ein warmer Mantel um einen waren. Es gab auch Hochstimmungen. Aber vor allem das Gefühl: Du hast niemanden verraten. Du wirst niemanden verraten! Man hat nicht nur gelitten, aber eben immer damit zu tun gehabt, nicht schwach zu werden. Das Schlimmste war die Hitze. Gegen die Kälte konnte man Kniebeugen machen und turnen, aber die Hitze und bloß so ein bisschen Wasser, gerade genug für einen Vogel, sich zu waschen

Am 25. Februar 1938 fand ihr Prozess vor dem Oberlandesgericht Stuttgart statt. Nach ihrer Verurteilung zu zweieinhalb Jahren Gefängnis wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« wurde sie noch im Februar 1938 in das Frauengefängnis Gotteszell verlegt. »Dort kam ich auch wieder in Einzelhaft, mit Steinboden, schwerer Arbeit, keine Zeit für Turnen, schlechter Verpflegung. Dort bin ich zusammengebrochen; ich hatte hohes Fieber. Als meine Strafe rum war, bin ich aber nicht heimgekommen, sondern da hieß es: Ich komme ins KZ

Nach insgesamt achtunddreißig Monaten Einzelhaft – mehr als zweieinhalb Jahren alleine in der Zelle – wurde Maria Zeh in das KZ Lichtenburg an der Elbe überführt. »Auf dem Transport hab ich Frauen getroffen, die hatten Illusionen: Wir kommen auf ein Schloss. Aber nach dem, was ich erlebt hatte in den achtunddreißig Monaten, konnte ich mir das nicht vorstellen. Die Lichtenburg war ein altes, vermodertes Schloss bei Torgau. Als wir dort ankamen, hieß es, rechts die Kommunisten, links die Juden. Da gab es gleich Schläge mit der Peitsche, Zimmer6 hat die geheißen, von der wurden wir gleich durchgeprügelt. Viele sind gar nicht mehr hochgekommen. Ich kam auf einen Strafarbeitsblock. Dort musste ich vierundzwanzig Öfen heizen und nebenher Syphiliskranke im Endstadium und solche mit offener Tbc pflegen. Das hab ich so lange gemacht, bis ich derart geschwollene Arme und Beine hatte, dass ich nicht mehr konnte. Dann kam ich ins Revier. Dort hat mich der Arzt angeschrien, Sonntag7 hieß der: ›Warum melden Sie sich nicht?‹ Und ich hab gesagt: ›Mir hat man achtunddreißig Monate lang gesagt, ich verrecke hier, und jetzt hab ich gedacht, das ist der Anfang.‹ Doch dann hat mich die Oberschwester Margarete ins Revier genommen, und da hab ich gemerkt, dass mir vieles fehlte. Ich hatte wohl einen Kurs in Krankenpflege mitgemacht als junges Mädchen, aber Wörter wie Hexamethylen, Tetramine usw. kannte ich nicht

Die Frauen-Konzentrationslager

Bis zur Zeit der ersten Begegnungen mit Maria Zeh in den Jahren 1978/1979 hatte ich – damals 24-jährig – noch nie von der Existenz reiner Frauen-Konzentrationslager gehört. Zwar war ich in mehreren KZ-Gedenkstätten gewesen, doch hatten mich dabei weniger die Orte, sondern vielmehr die Menschen interessiert, die dort während der Nazizeit eingesperrt waren. Erst 1983 besuchte ich die Kleinstadt Moringen in der Nähe von Göttingen, wo sich von Oktober 1933 bis März 1938 das erste Frauen-KZ befand. Unfassbar war für mich die Lage des riesigen Gebäudekomplexes8 unmittelbar an der Hauptstraße der kleinen Stadt. Als Moringen – konzipiert für ca. 400 Häftlinge – nicht mehr ausreichte, um die inhaftierten Frauen aufzunehmen, wurde Ende 1937 das Frauen-KZ Lichtenburg eröffnet.

Maria Zeh, die im August 1938 in die Lichtenburg kam, gehörte zu den ersten Häftlingen in diesem neu errichteten Frauen-KZ. Ende 1938 waren dort ca. 800 Frauen eingesperrt. Das Lager verfügte anfangs über einen Lagerkommandanten, 26 Aufseherinnen, eine Ärztin, einen Arzt, eine Krankenschwester und vier Hilfsschwestern im Krankenrevier.9 »Im Revier hatten wir als Häftlinge eine große Macht. Man wusste ja gleich, wer Genossin ist, wer Verräter ist und so – da konnte man die Leute, die schwerste Arbeiten verrichten mussten, für ein paar Tage ins Krankenrevier stecken. Manche sind natürlich doch gestorben, weil sie wirklich krank und elend waren. Ich erinnere mich an eine Bibelforscherin. Der SS-Mann hat sie so gestoßen, dass sie aus der Nase geblutet hat. Da sagte sie: ›Herr, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.‹ Am andern Tag saßen wir bei unserem kärglichen Mahl, da kam die Oberin und sagte: ›Was Sie jetzt sehen, dürfen Sie niemandem sagen.‹ Sie hat uns ins Kellerverlies geführt, und da lag diese Bibelforscherin. Sie lag auf einem Betonbett. Das kann man nicht beschreiben, in dieser Uniform, die wir hatten, wir sahen ja gar nicht mehr wie Frauen aus. Wir mussten sie ausziehen. Sie war grün und blau am ganzen Körper, zusammengeschlagen, totgeschlagen. Da dachte ich, ich kann nicht mehr, hab gezittert und trotzdem gewusst: Das nützt niemandem, wenn ich jetzt zusammenbreche. Es muss ja weitergehen. Vor allem müssen die Kameradinnen wissen, was da unten geschieht. Obwohl die Aufseherin gedroht hatte, dass wir selbst da runter kommen, wenn wir darüber sprechen, hat man gleich den Genossinnen gesagt, was sich da unten abspielt. Das werde ich nie vergessen. Das lässt mich noch heute nachts aufwachen. Ich muss dann genau sehen, wo ich bin, weil es Dinge gibt, da kann man nicht mit Worten benennen, was da in einem vorgeht. Ich kann’s nicht. Es ist nach so vielen Jahrzehnten immer noch da, so tief sitzt das. Die Haftpsychosen haben wir einfach. Manchmal, am schönsten Tag, kann ich nicht aus dem Haus gehen, obwohl ich die Natur so liebe. Das sitzt so tief, dass ich die Wohnung nicht verlassen kann. Aber wenn man im Revier war, konnte man den Menschen helfen. Da konnten wir auch den Jüdinnen helfen. Wir haben Arznei und alles geklaut. Ich hatte den Schlüssel zur Apotheke, denn ich hatte das Vertrauen der Oberin. Sie hat mir gesagt, sie habe sich die Häftlinge anders vorgestellt. Man habe sie geworben, um den Abschaum der Menschheit zu bewachen, und nun war sie erstaunt über die ›Qualität‹ der Häftlinge

Maria Zeh konnte erreichen, dass andere Häftlinge, die eine medizinische Ausbildung hatten, zu ihrer Unterstützung ins Revier kamen. So auch die Ärztin Dr. Doris Maase.10 »Da hat das Leben wieder einen Sinn bekommen. Da waren wir ein Team und konnten helfen. Wir mussten mit einem Medizinkasten durch das Lager, und dabei wurden Verbindungen geknüpft. Die Jüdinnen wollten immer Alkohol und Medikamente. Ich war so jung, ich hatte noch nie Medikamente genommen, keinen Kaffee, keinen Alkohol; wir haben nicht geraucht, wir haben leicht gelebt, aber die waren das schon gewohnt

Erst beim Abtippen dieses Gesprächs wurde ich auf den erwähnten Alkohol aufmerksam. Ich fragte nach, und Maria Zeh erzählte, dass die Jüdinnen sich betäuben wollten, bevor sie zur Vergasung geschickt wurden. Deshalb habe sie den reinen Alkohol aus der Lagerapotheke gestohlen. Vor laufender Kamera wollte sie allerdings nicht darüber sprechen, weil sie fürchtete, dies könnte noch heute als kriminelle Handlung angesehen werden. Tausende Jüdinnen wurden vergast – und Maria Zeh hatte ein schlechtes Gewissen, geklaut zu haben? Dieser tiefgründige Ehrbegriff schien mir nahezu unverständlich. Allerdings erfuhr ich in diesem Zusammenhang auch, dass Maria Zeh im Alter schwer alkoholkrank war und ein gemäßigter Umgang mit Alkohol ihr große Disziplin abverlangte.

»Ich bin mit Sehnsucht geboren und sterbe mit Sehnsucht«

»Doris Maase und ich konnten im Revier helfen. Zum Beispiel konnten wir eine, die gefährdet war durch Transport, drei Tage im Revier lassen. Du warst immer in so einem Fieber, du bist ja auch immer mit einem Fuß im Strafblock gestanden. Aber trotz allem, man hatte eine wahnsinnige Sehnsucht nach dem Leben, die hab ich heute noch. Ich bin ein Mensch, der mit Sehnsucht geboren wurde und mit Sehnsucht stirbt. Ich hab Sehnsuchtsgedanken, wenn andere schon halb tot sind. Dann denk ich immer an das, was noch kommt. Du weißt ja, wie alt ich bin. Aber ich hab ja auch immer so viel zu tun. Damals haben wir uns immer alles erzählt und auch die Liebesbriefe gelesen. Doris Maase und Lina Haag11 bekamen welche – ich hab keine bekommen

Die Hilfe für andere, sagte Maria Zeh, sei eine wirkliche Erfüllung gewesen, durch die die eigenen Sorgen und sogar der Hunger in Vergessenheit gerieten. »Ich hatte dadurch einen Vorteil, dass ich Faltboot gefahren, Ski gelaufen bin, jung verheiratet war. Ich hatte schon ein anderes Leben. Doch je mehr ich mich daran erinnerte, desto größer war natürlich die Sehnsucht. Doch dann kam ein Einschnitt: Ich hätte ja nie geglaubt, dass ich wieder rauskomme. Selbst als Himmler kam und manche Leute zur Entlassung ausgesucht hat, sagte er zu Doris Maase und zu mir: ›Die haben zu fanatische Augen. Die kommen nicht raus.‹ Das war sehr schwer, als die anderen gingen, und ich blieb da! Auch von dieser Verlassenheit kann ich jetzt noch nachts aufwachen, die kriege ich nicht mehr los. Unter den Aufseherinnen gab es sympathische Frauen, aber es gab auch ganz große Kanaillen. Eine mit Namen Mandl12, die hat ausgesehen wie ein Engel, blond und blauäugig. Die hat mit einer unerhörten Unbarmherzigkeit zugeschlagen, bis die Haut geplatzt ist. Und eines Abends, die Kameradinnen waren alle weg, stand ich so da, 1001 war meine Nummer, und die Schwester sagte: ›Was denken Sie jetzt, 1001?‹ Ich sagte: ›Was soll ich Ihnen sagen, was ich jetzt denke, wenn alle fort sind?‹ Sie sagte, sie hätte nichts machen können. In meiner Akte stehe ›Rückkehr unerwünscht‹. Ich hab bloß eines gewusst: Du darfst jetzt nicht zusammenbrechen! So ging’s halt weiter. Und eines Tages hat es geheißen: ›Drei Tage nichts essen und trinken!‹ Das war die Vorbereitung für den Abtransport

Moringen und Lichtenburg waren Kindergärten im Vergleich zu Ravensbrück

Maria Zeh wurde im Mai 1939 in das gerade neu eröffnete Frauen-KZ Ravensbrück verlegt. Dort waren zu dieser Zeit ca. 1000 weibliche Häftlinge registriert. Der Lagerdirektor, die SS-Wachmannschaften und die Mehrzahl der Aufseherinnen kamen ebenfalls von der Lichtenburg. Auch der SS-Arzt Dr. Walter Sonntag wurde nach Ravensbrück versetzt. »Wir haben Ravensbrück eröffnet, wir waren einer der ersten Transporte. Dieser Transport war so schrecklich, weil wir keine Notdurft verrichten durften. Es war so trostlos, es gab nur Sand. Ich bin am Neckar aufgewachsen, und dann kommst du dahin an einem schönen Sommertag und hast nur Sand. Und der Ton dort! Man sagt ja, Moringen und Lichtenburg wären Kindergärten gewesen im Vergleich zu Ravensbrück

Die Ankommenden erlebten einen Schock. Sie begriffen schnell, dass die Arbeit in den Außenkommandos, im Straßenbau oder beim Entladen von Baumaterialien weitaus bedrohlicher war als die in den Büros der Lagerverwaltung, in der Küche, Wäscherei oder im Krankenrevier. Maria Zeh hatte das Glück, gleich nach ihrer Ankunft wieder gemeinsam mit Doris Maase im Revier eingesetzt zu werden. Mit denjenigen, mit denen sie bereits in der Lichtenburg zusammengearbeitet hatte, konnte sie ihre Hilfe für die Kameradinnen in Ravensbrück fortsetzen. »Als dann im September 1939 der Krieg ausbrach, sind wir, die wir uns gegenseitig anvertraut hatten und auch gefährliche Arbeiten im KZ gemacht haben, wir sind uns bloß in die Arme gefallen und haben gesagt: ›So, jetzt kommen wir nicht mehr raus.‹ Politischer Gegner zu sein und Krieg, da kommen wir nie mehr raus. Wir waren ganz am Boden. Es war der Abschied von der Jugend, vom Leben und überhaupt. Es hat doch keiner gedacht, dass wir da noch mal herauskommen. Und sofort wurde alles strenger: Das Essen wurde gekürzt, die Knute saß loser, es gab immer mehr Gründe, uns zu quälen. Es war wie eine Bestätigung, uns zu vernichten, das hat man ganz deutlich gespürt. Wir spürten, dass abgerechnet wird

Im November 1939 wurde Maria Zeh zu einem Verhör in die Ravensbrücker SS-Kommandantur gerufen. »Da wurde ich alles Mögliche gefragt, und dann sagt der: ›Was würden Sie denn machen, wenn Sie freikämen?‹ ›Ja‹, sag ich, ›ich habe keine Heimat mehr, ich weiß nicht, was ich mache. Arbeiten, wenn ich Arbeit kriege.‹ Ich wusste nicht, wo ich hin sollte. Meine Mutter war ja gestorben. Die hing mit einem Bild als Mutter von fünf Soldaten in Berlin, bei dieser faschistischen Mutterverehrung, und von mir wurde niemals gesprochen. Nur meine Brüder – fünf Soldaten. Dann sagte eine Freundin: ›Ich kauf dir einen Kamm, ich glaube, du wirst entlassen.‹ An einem schönen Tag hat es geheißen: ›Nach vorne. Entlassen!‹ Da bin ich so erschrocken, ich wollte gar nicht raus

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9783956140198
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