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Im Anschluss an die Vorgeschichte präsentiert der Bericht «Eigene Untersuchungen und Beobachtungen» zur Strafgefangenen Schmid. Auch hier gibt es bemerkenswerte Ungereimtheiten. So betont man die grosse Ruhe bei ihrem Eintritt: «Frau Schmid war auffallend ruhig, als sie in die Anstalt kam. […] Die Internierung machte ihr wenig Eindruck, sie lachte darüber und fand sich rasch in die ungewohnte Situation.» Im Aufnahmestatus der Krankenakte jedoch wird sie als weinendes Häufchen Elend beschrieben. Auch die behauptete Minderintelligenz zeigt sich schillernd, einmal wird Pauline als «oligophren» (als minderintelligent) beschrieben, bei der später durchgeführten Untersuchung fehlen dafür typische Hinweise: «Gedächtnis, Auffassungs- und Merkfähigkeit sind intakt. Die Orientierungsfähigkeit ist normal», stellt der Arzt fest.

Aufschlussreich sind die psychiatrischen Untersuchungen im engeren Sinne, die als Gesprächs- und Beobachtungsprotokolle wiedergegeben werden. Sie ähneln den vorgängig schon zitierten Polizeiverhören, sind deliktorientierte Einvernahmen mit dem Fokus auf die Lügen und Schwindeleien und auf allfällige Widersprüche, in denen sich Pauline bei ihren Rechtfertigungen verfängt. Die Werthaltung der Ärzte schwingt bei ihren Einschätzungen immer mit, etwa bei der Frage, wann Grundbedürfnisse bei Menschen wie Pauline zu Luxus mutieren: «Sie brachte eine Menge Waren, die sie gar nicht braucht. So besass sie drei Paar Finken und brachte noch ein viertes Paar mit.» Den bürgerlich kultivierten Ärzten fehlt das Verständnis für die Handlungslogik einer in Armut festgefrorenen oder sich mittellos auf der Flucht befindlichen Frau, für die das Anlegen eines Vorrats an Finken durchaus Sinn machen kann. Die von ihr ausgeführten Tatmotive treffen fast durchgehend auf Unverständnis, Erklärungen wie jene, «sie habe dem Mann imponieren wollen» oder «sie musste Essen kaufen und die Schulden für die Milch bezahlen», werden von den Gutachtern als «ganz unzureichend» vom Tisch gewischt. Zudem werden die Wiederholungen ihrer Taten als Ausdruck verminderter Denkkraft gelesen und nicht etwa als Folge von Mundraub, bei dem das Diebesgut sozusagen aus der Hand in den Mund verschwindet und Nachschub erzwingt. Dass Pauline auf ihrer Flucht Namen und Zivilstand verschweigt, wird nicht nur als Delikt geahndet, sondern auch moralisch geächtet, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich mit ihrem Verhalten ja nur in der Logik des geltenden Rechts bewegt, das für verheiratete Frauen bei Erwerbstätigkeit eine Zustimmung des Ehemannes verlangt. Und das Mitnehmen ihres Babys auf der ersten Flucht, dessen Platzierung in einer Krippe werden nicht als Ausdruck verzweifelter Mutterliebe anerkannt, sondern in die Nähe einer Kindesentführung gerückt:«Den Knaben Jakob brachte sie heimlich fort. […] Schmid musste das Kind polizeilich suchen lassen, es befand sich in einem Kinderheim in Zürich. Die dort aufgelaufene Rechnung musste er bezahlen.»

Am eindrücklichsten zeigen sich patriarchale Deutungsmuster im Umgang mit häuslicher Gewalt. Pauline führt ihren schlagenden Mann nicht nur als Ursache für den erlittenen Abort an, sondern überhaupt als Grund ihrer Straftaten: «Während der Schwangerschaft habe der Mann sie stets geschlagen, darum habe sie gedacht, sie könnte seine Gunst mit Lügenmärchen zurückgewinnen.» Auch für ihre hilflose Fälschung des Pachtvertrags, der die Rückkehr auf den früheren Hof ermöglichen sollte, oder für ihr Prahlen mit einem Kassenbüchlein mit ein paar angesparten Tausendern nennt die Angeklagte die Gewalt des Mannes und ihre Hoffnung auf Versöhnung als Tatmotive. «Sie habe ihn lieb gehabt und wollte ihn nicht verlieren, und wenn er so grob mit ihr war, so müsste sie etwas erfinden, um ihn zu versöhnen», erzählt sie, oder dass sie dachte, «mit dem kann ich den Mann halten, wenn er so bös mit mir war». Ihre Reden finden kein Gehör, die Ärzte klagen im Gutachten über die «ermüdende Eintönigkeit» dieser «unzureichenden Erklärungen». Damit argumentieren sie im Gleichklang mit dem damaligen Zeitgeist. Ein schlagender Mann war weder Bedrohung, noch galt sein Tun als Verletzung der körperlichen Integrität, vielmehr stand er für die natürliche männliche Autorität, der sich die Frau zu unterwerfen und zu fügen hatte.

Ein Blick in die Rechtsprechung bestätigt diese patriarchale Akzeptanz häuslicher Gewalt. Eindrückliche Illustrationen dazu finden sich in einer Untersuchung zu Luzerner Scheidungsurteilen in den 1940er-Jahren.6 Grundsätzlich war die «schwere Misshandlung» als Scheidungsgrund zwar anerkannt, seit 1912 verankert im Zivilgesetzbuch (ZGB) in Art. 138. Doch in der Gerichtspraxis änderte dies wenig. Nur gerade 6 von den insgesamt 89 Frauen der Untersuchung waren erfolgreich, als sie sich in ihrer Scheidungsklage auf den Artikel beriefen. Die patriarchalen Fallstricke im Netzwerk von Artikeln und justiziablen Argumenten waren zu dicht ausgelegt. Im Recht wurde die schwere Misshandlung gar nicht erst weiter definiert, diese Interpretation überliess man den Richtern. Diese aber legten den Tatbestand generös aus, Schläge, Tritte und Stösse gehörten nicht dazu. Die Forderung der Frauen, die Tatbestände klarer zu fassen, blieb chancenlos, Parlament und Bundesrat vertrauten darin der geschlossenen Gesellschaft männlicher Richter und Rechtsgelehrter. Auch das damals geltende Eherecht bot keine Hilfe für gewaltbedrohte Frauen. Der Mann war als Oberhaupt der Gemeinschaft eingesetzt; wie diese Vormacht ausgestaltet und durchgesetzt werden sollte, entschieden die Männer selbst. Im Wissen um ein in der Alltagspraxis verankertes Züchtigungsrecht – gegenüber den Kindern, aber auch der Ehefrau –, das ihnen den Rücken stärkte. Im Gerichtssaal wurde dieses Deutungsmuster klassenspezifisch weiter verfeinert. Von einem Mann aus dem Mittelstand erwartete man bei Konflikten auch die Kraft des Wortes, also verbale Potenz, in der Unterschicht jedoch galt physische Gewalt als natürlich und standesgemäss und wurde akzeptiert. Dies führte sogar dazu, dass Klagen betroffener Unterschichtsfrauen, die «rohe Gewalt» gemäss Art. 138 des ZGB als Scheidungsgrund anführten, bis in die 1940er-Jahre überhaupt gar nicht zugelassen wurden. Eine Rechtsauslegung, die übrigens in Kommentaren renommierter Vertreter der Gerechtigkeit auch in den 1950er-Jahren noch Unterstützung fand. Und so ist es nicht erstaunlich, dass damals kaum eine gewaltbetroffene Frau mit ihrer Scheidung erfolgreich war. Denn von den untersuchten Fällen prozessierten über achtzig Prozent im Armenrecht, die Klägerinnen gehörten also zu jenen Frauen, die ihre Prügel standesgemäss sowieso verdienten.

Die juristischen Feinheiten zum Schutz der ehelichen Gewalt gingen aber noch weiter. Grundsätzlich galt Gewalt im Privatraum als eine juristisch zweitrangige Sache. Misshandlungen in der Ehe waren nur dann einklagbar, wenn sie sich sichtbar «vor Dritten ereigneten». Das Hören von Schreien aus der Nachbarwohnung allein etwa reichte als Beweis nicht aus. Die Beweislast war erdrückend einseitig verteilt. Ausserdem erlosch das Klagerecht bei versöhnlichem Verzeihen nach Ablauf von sechs Monaten. Eine Regelung, die dem bekannten Gewaltzyklus mit seiner Spiralbewegung von Gewalt und Versöhnung bequem in die schlagenden Hände spielte. Es brauchte ein weiteres halbes Jahrhundert, bis zornige Feministinnen die unbequeme Frage in die Politik holten und zur öffentlichen Sache erklärten. Und schliesslich auch hierzulande die Anerkennung der häuslichen Gewalt als Straftat erstritten, und zwar als eine, die von Staates wegen verfolgt werden muss. Umgekehrt ging man übrigens mit der Aggressivität von Frauen ganz anders zu Gericht. Auch das belegen die erforschten Scheidungsurteile. Zeigten Frauen Widerstand, wurden sie schnell wegen ihres «zügellosen Mundwerks» geächtet, als streitsüchtig und rechthaberisch abqualifiziert. Alles charakterliche Mängel, die ihnen im Urteil eine Mitschuld an der Zerrüttung der Ehe bescherten. Mit beachtlichen Konsequenzen, denn schon eine Mitschuld seitens der Frau entband den Mann von jeglichen Unterstützungsleistungen.

Aggressionen waren also für Frauen tabu, bei Männern dagegen als Disziplinierungsmethode gegenüber Frauen akzeptiert. Armin Schmid gesteht, dass er Pauline geschlagen hat, doch dies bleibt ohne Folgen, schliesslich hat er nur dann zugeschlagen, «wenn sie gegen ihn in heftigster Weise aggressiv geworden sei». Er, der Mann und Kläger, wird in seiner Integrität nie angezweifelt, bleibt im Gutachten durchgehend unangetastet und zweifelsfrei gut. Die Ärzte stützen sich dabei auf seinen Ruf. «Schmid selber soll vor seiner zweiten Heirat einen guten Ruf gehabt und zu keinen Klagen Anlass gegeben haben», betonen sie. Dagegen wird die von ihm beklagte Aggressivität seiner Frau unter ein diagnostisches Vergrösserungsglas gerückt. Seine Schilderungen werden in der Rezeption der Ärzte emotional zusätzlich angereichert, etwa wenn ein singulärer Vorfall im Gutachten in ein allgemeines, sich wiederholendes Verhalten Paulines umgewandelt wird: «Wenn sie mit dem Mann eine Auseinandersetzung hatte, sprang sie ihm an den Hals, zerriss ihm die Kleider oder legte mit dem Ordonnanzgewehr auf ihn an. War sie wütend und wollte ihn strafen, so lief sie einfach davon, drohte, mit dem Kinde zusammen sich das Leben zu nehmen, oder brachte es fort, so dass der Mann es nicht finden konnte.» Pauline, die Flüchtende, die sich gegen Gewalt wehrt, wird ihrerseits zu einer aggressiven Furie. Diese Verstärkung von Paulines Emotionalität in der ärztlichen Wahrnehmung dient letztendlich diagnostischen Zwecken. Es geht um den Nachweis einer «affektiven Unbeherrschtheit», wie sie die Psychiater auch bei der Wiederbegegnung zwischen Pauline und ihrem Mann zu beobachten meinen: «Bei einem Besuch empfängt sie ihn mit Vorwürfen: warum er ihr den Mantel, die Konfitüre, die Finken und vieles andere nicht mitgebracht habe?», notieren die Klinikärzte, obwohl gerade sie wissen müssten, wie karg die Patientinnen und Patienten der dritten Klasse in diesen Kriegswintertagen in der täglichen Kost und im wärmenden Komfort gehalten werden. Auch Paulines Verzweiflung über die Fremdplatzierung ihres Sohnes im fernen Tessin findet kein Verständnis bei den Ärzten, wird einzig ihren unbeherrschten Trieben zugeschlagen: «Wie er dazu komme, ohne ihr Wissen das Kind zu versorgen, warum sie als Mutter nicht gefragt werde? […] Frau Schmid wird immer heftiger. Sie habe allein das Recht, über das Kind zu verfügen, niemand dürfe es ihr wegnehmen, sie sei die Mutter. Sie weint heftig und überschüttet ihn mit Vorwürfen.» Und selbst ihre Weigerung, sich auf die etwas gar einfachen Appelle ihres Mannes einzulassen, nämlich «in sich zu gehen und sich zu bessern» und «ein neuer Mensch zu werden», wird – mit missbilligendem Unterton – als Krankheitssymptom gewertet: «Frau Schmid reagiert nicht darauf, sie verlangt, dass er ihr Butter mitbringe, weint und ist beleidigt.»

Der moralische Defekt

So formen die Ärzte ihre Beobachtungen zu Symptomen und Diagnosen. Das Gutachten spricht von «Trotz, Reizbarkeit, Neigung zu Affektausbrüchen und Launenhaftigkeit» und erkennt darin dieselben Schwächen, die Pauline bereits zu ihren Straftaten antrieben: «Erregt irgend etwas ihre Wünsche, so konnte sie sich nicht beherrschen. Sie wusste sich immer wieder Geld und Waren zu verschaffen, die ihr gerade begehrenswert erschienen.» Zu guter Letzt verkehrt sich sogar das ruhige und kooperative Verhalten Paulines in sein Gegenteil, wird zum Beweis ihrer krankhaften Affektstörung, die nur mit einer strengen Kontrolle in Griff zu bekommen sei: «Sie kann sich in einer Umgebung, in der sie streng unter Aufsicht steht, auch beherrschen, das zeigt ihr ruhiges Verhalten in der Anstalt.»

Pauline wird im Burghölzli aber nicht nur auf ihre Affekte hin geprüft, sondern auch auf ihre Intelligenz. Diese wird in einem kurzen, an gängigem Schulwissen orientierten Test abgeklärt, mit ein paar Rechnungen, einigen Fragen zur Staatskunde und Geografie, etwa wer die Schweiz regiert – in Paulines Optik sind dies die sieben Bundesräte – oder die Namen der Halbkantone, die sie nur mit Mühe zusammenbekommt. Dafür weiss sie, dass die Gründung der Eidgenossenschaft vor 650 Jahren stattfand, dass man den 1. August feiert, «weil sie da zusammengestanden sind», und auch die Geschichte von Wilhelm Tell kann sie rudimentär erinnern, «das ist in der Schule im Lesebuch, wo er mit seinem Bübli auf dem Rütli gewesen ist». Die Psychiater erkennen in den Antworten insgesamt einen deutlichen Intelligenzdefekt, die Distanz einer bildungsfernen Haushälterin zu solchen Inhalten bleibt unreflektiert. «Frau Schmid kann zwar einfache Rechenaufgaben lösen, versagt jedoch schon bei kleinen Bruchrechnungen, und schwierige Aufgaben gehen gar nicht. Im sprachlichen Ausdruck ist sie primitiv und ungeschickt. Definitionen zu geben gelingt ihr nur mit Mühe.» Interessant ist, dass ihre etwas hilflosen, aber gleichzeitig kreativen Strategien zur Vermeidung von Scham nicht etwa als Ausdruck von praktischer Intelligenz gelesen werden, sondern ebenfalls als Indiz der Beschränktheit: «Eine kleine Geschichte, die sie eben gelesen hat, kann sie nicht wiedererzählen, hilft sich aber damit, dass sie etwas anderes erfindet und hinzufügt. Dadurch wird der Sinn verändert, was ihr aber anscheinend nicht bewusst wird. Es fällt bei mehreren Gelegenheiten auf, dass sie, wenn sie etwas nicht ganz sicher weiss, doch eine Antwort gibt, die sehr oft unklar ist oder sogar falsch.» Auf dem Radar der ärztlichen Messungen von Intelligenz findet also weder die Geschicklichkeit, mit der die Betrügerin Schmid sich bei ihren Schwindelgeschichten durch die Welt bewegt, positive Beachtung, noch ihre im Eigeninteresse praktizierte Verhaltenslogik bei den Verhören. Sie gibt nämlich in den Befragungen zu ihren Delikten immer genau nur so viel preis, wie unabdingbar ist, und garniert diese Taktik mit kleinen Beschönigungen, operiert also mit einer Aussagetechnik, die üblicherweise für Gerichtsverhandlungen mit hohen Anwaltshonoraren eingekauft wird. Dabei zeigt sie sich durchaus auch kooperationsbereit, nämlich dann, wenn es ihr taktisch nützen könnte: «Solche Sachen mache sie nicht mehr, wenn er [Armin Schmid] verspreche, dass er sie besser behandeln wolle», versichert sie.

Bemerkenswert ist die Vehemenz, mit der Pauline sich gegen die befürchtete Diagnose einer Minderintelligenz wehrt, und zwar offenbar dezidiert und wiederholt. «Sie sei eine gute Schülerin gewesen, sie halte sich für intelligent. Keinesfalls will sie unter dem Verdacht stehen, dass sie ihre Delikte aus Dummheit oder Unkenntnis begangen habe», notieren die Ärzte, und weiter: «Mit aller Energie verwahrt sich Frau Schmid dagegen, dass sie etwa nicht gewusst haben soll, dass Lügen und Betrügen verboten ist. Sie habe das Geld einfach für den Haushalt gebraucht, habe die Milchrechnung bezahlen müssen und Kleider anschaffen. Auf andere Weise konnte sie kein Geld bekommen, also habe sie es so gemacht. Und dass sie dafür ins Gefängnis soll, sehe sie nicht ein. Erstens sei sie schwanger, und zweitens habe sie Schmerzen an einer Zehe, und drittens sei der Mann an allem schuld. Dummheit könne man ihr gewiss nicht vorwerfen und geisteskrank sei sie auch nicht.» Diese streitbaren Widerworte in den Verhören lassen vermuten, dass Pauline um die grundsätzliche Bedeutung des Verfahrens gewusst hat, dass sie sehr wohl verstanden hat, dass die Diagnose «Schwachsinn» für ihresgleichen nicht Entlastung, sondern ein überaus bedrohliches Damoklesschwert bedeutete, dass ihr dies zwar die Strafe verkürzen konnte, aber die persönliche Freiheit rauben würde, als künftig Bevormundete in der Obhut behördlicher Macht.

Und wo Gefahr droht, wächst das Rettende nicht zwingend, entgegen den hoffnungsvollen Versen, die ein deutscher Dichter dereinst in unser Kulturgut setzte. Es wächst selbst dann nicht, wenn das Drohende, wie im Falle von Pauline, deutlich erkannt wird. Die mächtigen Pflöcke, die das psychiatrische Urteil abschliessend in den Lebensweg der jungen Frau rammt, werden künftig ihre Schritte steuern, begrenzen und – über Jahre – auch in neue Sackgassen führen. Zuerst wird dabei festgehalten, dass keine organischen Hirn- oder Nervenschäden vorliegen, auch keine Schädigungen infolge Alkoholmissbrauchs, keine Epilepsie und auch keine «Störungen im Gedankengang, noch Wahnideen oder Halluzinationen», also keine «Geisteskrankheit im engeren Sinne». Jedoch liegt nach Meinung der Ärzte zweifelsfrei ein Mangel an Intelligenz bei der Patientin vor: «Aber selbständig denken, überlegen, sich ein Urteil bilden kann sie nicht. Sie hat nur sehr primitive Begriffe. […] Trotz allem kann sie nicht verbergen, dass ein deutlicher Intelligenzdefekt, eine Debilität, bei ihr besteht.» Erhärtet wird die Diagnose durch die «Neigung zum ausschmückenden Fabulieren», was als verbreitetes Symptom bei Schwachsinn erkannt wird, genauso wie ihr Bemühen, dem «Mann zu imponieren», den «Mann zu blenden». Solches Verhalten wiederum sei einem «starken Geltungsbedürfnis» geschuldet und gelte zusammen mit dem «Gefühl, dass man sie nicht für voll nimmt», als ein ebenfalls verbreitetes Symptom bei Debilität. All dies schreiben die Ärzte. Und weiter, dass bei Pauline die bereits skizzierte «Affektstörung» dazukomme, auch dies eine Begleiterscheinung des Schwachsinns, was zu «unbeherrschten Auftritten gegenüber ihrem Mann und zu ihren Betrügereien» geführt habe. «Wenn gleich sie wusste, dass Lügen, Betrügen und Stehlen verboten und strafbar sind, so war sie doch im Moment, wo sich das Gelüsten in ihr regte, nicht imstande, darüber nachzudenken und ihrer Einsicht entsprechend sich zu verhalten», bilanzieren die Ärzte in ihrem Bericht.

Es zeigen sich angeblich aber noch weitere charakterliche Mängel bei Pauline Schmid. Es fehlt der Delinquentin weitgehend an einem «Gefühl für Gut und Böse». Sie will partout nicht einsehen, «dass sie selbst für ihre Taten zur Verantwortung gezogen wird, sie beschuldigt den Mann, sie geschlagen zu haben und vermeint dadurch all ihre deliktischen Handlungen entschuldigt», klagen die Psychiater. Die Weigerung, sich reuig zu zeigen, kommt Pauline teuer zu stehen, lässt sich nahtlos in das von Forel und seinen Mitdenkern ausgelegte Deutungsmuster der «moralischen Idiotie» einpassen. Dabei könnte man deren Argumentation doch auch gegen den patriarchalen Strich lesen, als durchaus logisches Verhalten einer Frau im Kosmos der männlichen, göttlichen Ordnung. Einer Frau, die intuitiv erkannt hat, dass sie in dieser Welt kein Recht auf einen eigenen Subjektstatus zugestanden bekommt, weder in den Wissenschaften noch im Recht, sondern stets dem Mann untergeordnet wahrgenommen wird. In dieser Logik ist es nur folgerichtig, dass sie ihre Handlungen letztlich von den Taten ihres Mannes abzuleiten versucht. Aber so radikal denken die Ärzte ihre patriarchale Ordnung nicht weiter. Ihre Wahrheit geht den umgekehrten Weg. Pauline ist zwar tatsächlich ein Subjekt ohne Subjektstatus, da sie «in den Momenten ihrer Handlungen niemals imstande zu überlegen und ihrer Einsicht entsprechend zu handeln» ist, aber dies hat nichts mit der männlichen Vormacht zu tun, sondern mit der bemängelten Affektstörung, mit ihrer weiblichen Triebhaftigkeit. Entsprechend vernichtend zeigt sich das abschliessende Fazit der klinischen Diagnose:«Es besteht bei ihr ein weitgehender Mangel an Moralgefühl, ein schwerer moralischer Defekt!»

Die Folgen dieser Diagnose sind für Pauline verheerend. Sie gestalten sich wie eine Serienschaltung in der Beleuchtungskunst, ein Impuls löst den anderen aus, Abzweigungen im Strompfad sind nicht vorgesehen. Generell wird für alle Handlungen von Pauline Schmid eine «Verminderung der Zurechnungsfähigkeit» angenommen: «Zahlenmässig lässt sich der Grad dieser Verminderung nur schätzen. Es scheint uns aber die durch die Debilität und Affektlabilität gegebene Herabsetzung der Urteilsfähigkeit doch so gross zu sein, dass man die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit als ziemlich schwerwiegend, etwa um 50 %, einschätzen darf.» Auch die angeforderte Prognose, bei der die Ärzte das Feld der Diagnostik verlassen und fraglos vom Gewesenen auf Künftiges schliessen, gestaltet sich entsprechend düster: «Prognostisch scheint uns der Fall ungünstig. Weder die Debilität noch die Charakterschwäche lassen sich beeinflussen.» Paulines Schwächen sind als genetische Defekte unheilbar, sie braucht, will man künftigen Schaden verhindern, enge fürsorgerische Begleitung. «Dass Frau Schmid in einem Milieu, in dem sie unter ständiger Aufsicht steht, sich einigermassen halten kann, hat sie in der Anstalt bewiesen. Sobald sie aber auf sich allein angewiesen wäre, sobald Pflichten an sie herantreten und sie auch gewisse Rechte besitzt, wird sie wieder versagen.» Die Ärzte gehen in ihrer Prognostik noch einen Schritt weiter, ergänzen das klinische Terrain mit Armutsanalysen: «Sie hat durch ihr bisheriges Verhalten gezeigt, dass sie nicht fähig ist, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen und dass sie durch die Art ihrer Lebensführung sich und andere gefährdet, sowie sich und ihre Familie der Verarmung aussetzt.» Der Satz liest sich bitter im Wissen, dass sich Pauline seit ihrem 14. Lebensjahr selbstständig und ohne Unterstützung durchs Leben schlagen musste. Die abschliessende Empfehlung der Psychiater, die Strafgefangene in einem ersten Schritt zu entmündigen, ist für diese zwingend und wird skeptisch ergänzt durch den Hinweis auf weitere zu erwartende Massnahmen. «Ob es gelingen wird, sie unter Aufsicht eines Vormundes zu einem geregelten Leben und zu einer Beherrschung ihrer kriminellen Neigungen zu bringen, ist aber unsicher.» Die Ärzte schlagen deshalb vor, die Klientin im Falle einer Scheidung – ansonsten hat sie ja bereits ihren Ehemann als Vormund – «an eine Stelle unter genügender Aufsicht zu plazieren und beim nächsten, zu erwartenden Rückfall» eine länger dauernde «korrektionelle Versorgung» anzuordnen. Einig sind sich die Ärzte auch darin, dass Pauline mit ihrem «moralischen Defekt» unfähig ist, Kinder zu erziehen: «Man sollte ihr weder den kleinen Jakob noch das zu erwartende Kind anvertrauen, sondern ihr die elterliche Gewalt über die Kinder entziehen.» Und sollte die Frau geschieden werden und später neue Heiratspläne schmieden, wird bereits jetzt ihre Eheunfähigkeit klinisch bestätigt, mit dem Appell an den künftigen Vormund, dereinst entsprechend zu intervenieren. Am Schluss ihres Gutachtens zeigen sich die urteilenden Psychiater fast schon grosszügig: «Gegen eine der Bevormundung vorhergehende Anhörung der Patientin haben wir ärztlicherseits nichts einzuwenden.»

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