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Pauline wird angezeigt, wird Anfang Dezember 1938 verhaftet, sechs Tage später tritt das Bezirksgericht Unterrheintal in Rheineck zusammen. Sie zeigt sich den fünf Richtern als einfacher Fall, gesteht alles sofort ein, wird für «fortgesetzten Betrug und Betrugsversuch in sechs Fällen» und wegen «rechtswidriger Täuschung» schuldig gesprochen. Diesmal sucht man im Urteil vergeblich nach Milde, ihre Arbeits- und Mittellosigkeit wird Pauline gar zum Nachteil.«Da sie vollständig mittellos und längere Zeit ohne Arbeit war, wäre es ihr niemals möglich gewesen, für die gemachten Warenbezüge aufzukommen.» Die Rückgabe der gestohlenen Ware, die den Schadensbetrag auf 31 Franken und 20 Rappen, also auf circa zehn Taglöhne reduziert, hilft auch nicht weiter. Zumal sie eine Wiederholungstäterin ist, das wirkt straferschwerend. Einzig ihr freimütiges Geständnis findet Gefallen bei den urteilenden Herren. Doch das Ergebnis ihrer Betrugstour in den Dörfern ihrer Kindheit ist für Pauline erneut vernichtend: fünf Wochen Gefängnis, Verpflichtung zur Rückerstattung der verbliebenen Schadenssumme, Übernahme der Verfahrenskosten und der während ihrer Haft anfallenden Kosten für Unterkunft und Verpflegung. Der Weinfelder Schuldenberg wird um weitere 150 Franken aufgestockt.

Die erste Heirat

Nach ihrer Entlassung aus der Kantonalen Strafanstalt St. Gallen kehrt Pauline Schwarz – noch keine zwanzig Jahre alt – der Ostschweiz endgültig den Rücken. Sie sucht sich neue Arbeit im Zürcher Unterland. Im Februar 1939 tritt sie erst bei einem Bauern in Rafz eine Stelle an, wechselt dann ins Restaurant Pflug. Ein derart häufiger Stellenwechsel war bei Dienstmädchen nicht unüblich. Sie wurden meist schlecht bezahlt, unter Abzug von Kost und Logis, und noch schlechter behandelt, mit wenig Freizeit und viel Arbeit bis weit in den Abend hinein. Sie befanden sich meist auf der Suche nach besserer Arbeit, ausserdem bedeutete ein Stellenwechsel nicht selten die Befreiung von zudringlichen Dienstherren und eifersüchtigen Gattinnen. Im «Pflug» lernt Pauline ihren künftigen Ehemann kennen, den Witwer Armin Schmid; mit seinen neun Kindern braucht er zupackende Hände in Haus und Hof. Pauline wird erst seine Haushälterin, dann seine Geliebte, nach ein paar Monaten seine Frau. Gründe für die schnelle Heirat der beiden gibt es viele. Armin Schmid sucht eine weibliche Kraft, die ihm erhalten bleibt und nicht kurz nach Dienstantritt wieder flieht vor der gewaltigen Arbeit. Ein häufiges Schicksal von Witwern, so kann man es in den Protokollen der damaligen Armenfürsorge nachlesen. Armin hat aber auch als Mann Gefallen an Pauline gefunden. Sie ist jung, mit ihrem dichten braunen Haar und den grauen Augen attraktiv, und er braucht, wie er später, bei der Scheidung, eingesteht, eine Frau in seinem Bett. Aber auch Pauline hat ihre Motive. Auch bei ihr geht es nicht um romantische Liebe. Vielleicht sucht sie mehr Sicherheit in ihrem Leben. Leidet unter Heimatlosigkeit, fühlt sich entwurzelt. Aber vor allem, und das wiegt wohl ebenso schwer, ist sie schwanger. Und trägt zudem, nebst dem Kind im Bauch, einen unerbittlich auf Abzahlung drängenden Schuldenberg auf ihren Schultern. Eine Heirat kann hier vorerst Lösungen bringen. Zudem droht ihr für die Zukunft noch eine Gefahr: Pauline ist nach wie vor deutsche Staatsbürgerin, sie hat bereits eine kantonale Ausschaffung als «unerwünschte Ausländerin» hinter sich, ist inzwischen zwei Mal vorbestraft; man munkelt, dass in ihrer Heimat, im nationalsozialistischen Deutschland, mit Diebinnen, wie sie eine ist, nicht eben zimperlich umgesprungen wird. Rafz ist nah an der Grenze, da bekommt man so einiges zu hören. Mit einer Heirat wird Pauline Schweizerin, im Eilverfahren, sie kann nun nicht mehr ausgeschafft werden.

Damit bleibt sie verschont von einem Schicksal, wie es kurz danach ihren Bruder ereilen wird. Sein in Chur gelerntes Bäckerhandwerk musste Alois wegen Mehlunverträglichkeit aufgeben, nun kämpft er sich als Fuhrknecht durchs Leben oder als Handlanger im Steinbruch. Im August 1939 verliert er einmal mehr seine Arbeit. Auch er kehrt zu seinem verarmten Vater zurück, auch er versucht, sich mit kleinen Diebstählen über Wasser zu halten, ein Fahrrad, das er klaut und verpfändet, ein Nachtessen in der Kneipe, nach dem er zechprellend verschwindet. Und auch er wird erwischt, wird vor Gericht gestellt und wegen Diebstahl, Betrug und Zechprellerei bestraft. Einmal. Zweimal. Dreimal. Schliesslich schafft man ihn nach der Haft bei Schaffhausen über die Grenze. In eine Heimat, die er noch nie betreten hat, in ein Land, in dem die Faschisten das Sagen haben und gerade dabei sind, einen entsetzlichen Krieg zu eröffnen. Vollständig mittelos steht Alois da, am anderen Ufer des Rheins, die zwanzig mitgeführten Reichsmark hat man ihm beim Grenzübertritt abgenommen, wegen Verstoss gegen das deutsche Devisengesetz. Der Ausgeschaffte versucht sich erneut in kleinen Betrügereien, weit allerdings kommt er damit nicht. Er landet als «Volksschädling» vor einem Sondergericht, angeklagt wegen einer Deliktsumme von 150 Reichsmark und eines «niedrigen Charakters». Der Staatsanwalt plädiert auf Todesstrafe, Alois kommt mit acht Jahren Zuchthaus davon. Nach zwei Jahren stirbt er im Zuchthaus Bruchtal bei Mannheim, gemäss ärztlichem Attest an Tuberkulose.

Ob und was Pauline vom Schicksal ihres Bruders überhaupt mitbekommen hat, damals, als sie in Rafz ihre Dienste antritt und Alois sein Urteil in Pfäffikon kassiert, oder später, nach seiner Ausweisung, kann nicht geklärt werden. Bestimmt war er nicht Gast an ihrer Hochzeit – falls sie überhaupt zum Fest geladen hat –, denn zu diesem Zeitpunkt sitzt er bereits im Gefängnis und wartet auf seine Ausschaffung. Und zwei Jahre später, als Pauline im Burghölzli aus ihrem Leben erzählen soll, verwandelt sie ihren Bruder kurzerhand in einen Wehrmachtssoldaten im Kriegsdienst. Sich selbst aber kann sie mit ihrer frühen Heirat retten. Pauline und Armin heiraten im September 1939, also just in jenen Tagen, als Deutschland Polen überfällt. Pauline ist nun keine Schwarz mehr, sondern eine Schmid, und will nun nicht mehr Marie Pauline, sondern nur mehr Pauline heissen. So wie einst ihre Mutter. Die Heirat soll ein Neustart und alles ein wenig anders werden. Selbst der Thurgau ist nun nicht mehr verbotenes Terrain, denn das Kantonsverbot wird durch die Heirat aufgehoben. Auch davon erzählt sie später dem Psychiater bei ihrer Anamnese.

Auf der Flucht vor dem Mann

Als die junge Pauline in die Sprechzimmer der Psychiater im Burghölzli gebracht wird, hat sie also schon einiges in ihrem Leben erfahren. Und sie wird, trotz der Brutalitäten, nicht etwa als flüchtende Ehefrau, als ein Opfer von häuslicher Gewalt in der Klinik aufgenommen, sondern als Strafgefangene, als Wiederholungstäterin, mit dem Auftrag der Beurteilung ihrer Zurechnungsfähigkeit. Nach den ersten Schrecken scheint sie der Wechsel in die Klinik sogar zu beruhigen. Jedenfalls notiert der Arzt am zweiten Tag eine erstaunliche Veränderung bei der neu Eingewiesenen, die tags zuvor noch ein Häufchen Elend war: «Pat. sehr vergnügt, lacht lustig, hat sich in die Situation gefunden. Ruhig.» Einzig wenn man auf ihren Ehemann zu sprechen kommt, wird sie unruhig und anklagend. Sie erzählt, dass die Ehe nur für kurze Zeit gut gegangen und ihr Mann dann ins Militär eingezogen worden sei, sie habe im Haus bei den Kindern und auf dem Hof die Stellung gehalten, es sei ein strenger Anfang gewesen. Gewalt und Rohheit müssen bereits in den ersten Ehewochen alltäglich gewesen sein. Dass sie dabei ihr erstes Kind verlor, verrät sie den Ärzten erst gegen Ende der Beobachtungszeit. «Heiraten habe sie müssen, war gravid, habe dann eine ‹Ausleerete› gehabt», notiert der Arzt. Dass aber auch die neue Schwangerschaft, ein paar Wochen später, die Gewalt des Mannes provozierte, daraus macht Pauline von Anfang an keinen Hehl: «Im Dezember dann, als sie gravid war, habe er wüst mit ihr getan und sei grob geworden. Weil sie schwanger war und weil sie gesagt habe, er könne schon melken gehen. Er sei aber ganze Nächte im Wirtshaus gehockt und habe gejasset, und wenn er im Delirium heimkam, habe er wüst getan. Sehr oft sei das vorgekommen, einfach höch habe er gehabt. Und dann habe er sie immer geschlagen.»

Schwierig gestaltet sich auch das Verhältnis der Stiefkinder zur jungen Pauline. Einige der Töchter sind älter als Pauline, die jüngsten noch Kleinkinder. Und nun hat da plötzlich diese eingeheiratete Frau das Sagen. Kommt dazu, dass die verwaisten Kinder ihre verstorbene Mutter wohl noch immer vermissen. Pauline, die Fremde, hat einen schweren Stand. Und selbst das nachbarschaftliche Ankommen will nicht wirklich gelingen. Man munkelt dies und jenes über die Magd, die so schnell zur Ehefrau aufgestiegen ist, und schon bald werden Wasserkübel zu Zankäpfeln, fliegen böse Worte von Tür zu Tür. Bereits im Februar 1940 muss die Familie Schmid ihre Pacht in Rafz aufgeben, man zieht nach Adlikon-Regensdorf, der Mann geht als Handlanger in Stellung. Die Schuld an diesem Scheitern schiebt Landwirt Schmid seiner Pauline zu. Ihrer Untüchtigkeit. Seine Absenz jedoch im bäuerlichen Betrieb, etwa, weil man ihn bei der Mobilmachung an die Grenzen rief, oder seine Liebe zum Alkohol, das Alleinlassen der Schwangeren mit Kindern und Kegeln und einem Stall voller Kühe, das alles bleibt unerwähnt. Ausser bei Pauline. Sie weist die Vorwürfe dezidiert von sich, betont, dass sie trotz «Nierenbeschwerden in der Schwangerschaft» stets gearbeitet habe, zur Geburt nicht ins Spital gegangen sei. Sie habe zu Hause geboren, alles «sei gut gegangen, am dritten Tag sei sie wieder aufgestanden und habe gewaschen», so wehrt sie sich gegen die Vorwürfe. Und versucht in kindlicher Angst, die Kündigung der Pacht wieder rückgängig zu machen, mit einem gefälschten Vertrag, was ihr später vor Gericht als Urkundenfälschung angelastet wird. Angstvoll und verstörend wirkt auch die Rechtfertigung dieser Täuschung:«Ja, weil es geheissen hat, wegen mir muss man fort von da, aber wegen mir hat man nicht fort müssen, ich habe geschafft. […] Ich habe dann gesagt, wir können schon wieder nach Rafz, das ist der Pachtvertrag. Ich habe gemeint, mit dem könnte ich den Mann halten, wenn er so bös mit mir ist.»

Im Sommer 1940 wird Pauline zum ersten Mal Mutter. Nur wenige Wochen danach nimmt sie den kleinen Jakob und flieht Richtung Zürich. Niemand ist da, der sie unterstützen könnte. Sie bringt den Säugling in eine Krippe an die Fahrgasse, erzählt, sein Vater sei verunfallt und sie müsse Arbeit suchen, nimmt bei einem Bauern in Effretikon eine Stelle an. Und verschuldet sich dabei. Der Pflegeplatz kostet, auch die Besuchsfahrten zu ihrem Buben, dann das Hochzeitsgeschenk für die Schwester, die neue Handtasche für das Fest. So entlockt sie ihrem Dienstherren mehrere Darlehen, wiegt ihn im Glauben, sie lasse sich scheiden. Nach fünf Monaten gibt sie ihr Reduit auf. Ehemann Armin hat seinen Sohn polizeilich suchen lassen, hat die beiden aufgespürt. Und Pauline kehrt zu ihm zurück. «Und dann ist er gekommen und hat gesagt, er will jetzt lieb sein, und ich bin wieder heim», fasst sie die fatale Dynamik zusammen.

Im Frühsommer 1941, «als er wieder so verrückt war mit ihr», wie sie es ausdrückt, flieht Pauline erneut. Diesmal ohne das Kind. Sie nimmt verschiedene Stellen an, unter falschem Namen, gibt sich als Ledige aus, verdingt sich da und dort. Das Geld reicht nirgends hin, zum Abtragen von Schulden schon gar nicht. Zwei Jahre hat sie pausiert, nun beginnt sie wieder zu delinquieren. Beschafft sich mit ihren kleinen Schwindeleien Notwendiges und Geld. Zwischenzeitlich kehrt sie heim, vor allem zu ihrem Buben, lange hält es sie dort aber nicht, nur ein paar Tage, ein paar Wochen. Ehemann Armin gibt sich reuig und fromm, verspricht Besserung, beschwört seine Frau, ihr verwerfliches Lügen und Betrügen doch einzugestehen, vor Gott und der Welt, und sich endlich zu bessern. Er schickt sie zu einem «Stündeler», damit ihr «die Sünden vergeben und ihr geholfen werde». Oder ins Erholungsheim des Evangelischen Brüdervereins. Die grosse Reue jedoch bleibt aus, der Schuldenberg wächst, erneut kehrt Pauline heim. Und ist kurz danach wieder «in anderen Umständen». Verhütungsmöglichkeiten sind für Frauen wie sie weder erreichbar noch alltagstauglich. Doch diesmal führt nicht die neue Schwangerschaft, sondern der kleine Jakob, also das bereits geborene Kind, zur nächsten Eskalation. Denn wieder zu Hause findet Pauline, die Mutter, ihr Bübchen nicht mehr. Der Mann hat es weggebracht, in den fernen Kanton Tessin, angeblich zu Bekannten. Die Fremdplatzierung ihres Kindes, so ganz ohne Rücksprache, einfach über ihren Kopf hinweg, mag Pauline nicht hinnehmen. In den späteren Befragungen erklärt Vater Armin die Fremdplatzierung als Schachzug im Kampf gegen den Zugriff der Behörden: «Die Behörden hätten schon eingreifen wollen, da sei es ihm gelungen, den Kleinen und die jüngste Tochter aus seiner ersten Ehe bei Bekannten im Tessin unterzubringen.» Pauline aber reagiert zutiefst verletzt: «Er habe doch kein Recht ihn fortzutun, sie sei doch die Mutter», erklärt sie später den Ärzten im Burghölzli und bestätigt, dass sie Armin gegenüber mit Suizid gedroht habe:«Ja, das habe ich gesagt, und das führe ich auch durch, wenn ich draussen bin. Der braucht den Bub nicht zu haben.» Sie gibt zu, ihrerseits auch den Mann bedroht zu haben, mit bösen Worten, mit wilden Drohungen. Dass sie mit dem Karabiner direkt auf ihren Gatten gezielt habe, bestreitet sie jedoch vehement: «Wirklich ernst sei es ihr nicht. Das mit dem Gewehr sei nicht wahr, sie habe nicht gezielt.» Sie steht auch zu ihren Lügen und Schwindeleien: «Sie wisse schon, dass sie gelogen habe, der Mann sei daran schuld, weil er sie so viel geprügelt habe.» Von Scheidung jedoch will sie nichts wissen. «Geschieden habe sie sich nicht, weil sie ihn noch immer gern hatte», erklärt sie den Psychiatern – auch dies ist ein fester Bestandteil in den Zyklen häuslicher Gewalt.

14 Tage nach Paulines Einweisung ins Burghölzli notiert der zuständige Arzt: «Pat. stets ruhig, unauffällig. Wir halten sie etwas unter Kontrolle wegen Fluchtgefahr, irgendetwas Auffälliges hat bis jetzt niemand bemerkt.» Sie wird nun ins E3 verlegt, in den «Wachsaal für ruhige Frauen». Sie steht früh auf, wird in der Landwirtschaft oder in der Küche oder auch im Waschhaus zur Arbeit eingesetzt, abends um fünf Uhr gibt es Bettruhe. Therapien gibt es für sie keine, weder Schlaf- noch Insulinkuren, auch keine Elektroschocks, wie man sie neuerdings im Burghölzli anwendet. Und auch Barbiturate oder Opiate, jene Vorläufer der Psychopharmaka, welche die grosse Wut, die laute Unruhe der Patienten bändigen und diese in einen betäubenden Schlaf zwingen, bekommt sie keine gespritzt. Pauline bleibt von all diesem verschont. Schliesslich ist sie ja keine Patientin, sondern zur Beobachtung da. Und sie bleibt, bis auf den Tränen- und Wutausbruch beim Besuch ihres Mannes, zuverlässig ruhig. Selbst die gynäkologische Untersuchung in der Frauenklinik lässt sie ohne Widerspruch über sich ergehen, damit die behauptete Schwangerschaft durch ein medizinisch abgesichertes Resultat, «Grav., ca. mens IV», bestätigt werden kann. Insgesamt zeigt sich ihr Gutachter, der Doktor mit dem Kürzel VS, mit der willigen Pauline zufrieden, solch ruhige Fälle werden in diesen Zeiten mit dem knappen Personal durchaus geschätzt: «Auf der Abteilung ist Pat. unauffällig und ruhig, man hat gar nicht über sie zu klagen. Sie macht alle Arbeiten, schwatzt nicht, erzählt nichts von ihren Angelegenheiten, verbreitet keine Klatschereien, angenehmes Element.»

Das Gutachten

Pauline Schmid, die 23-jährige Strafgefangene, wird im Burghölzli insgesamt während fünf Wochen beobachtet. Sie überrascht offenbar mit ihrer Unauffälligkeit, mit ihrer Bereitschaft, sich in die Anstaltsordnung einzufügen. Zumal sie mit einem schlechten Leumund eingeführt worden ist, als eine, welche die Eigentumsrechte missachte, als Mutter, die im Kampf um ihr Kind zum Ordonnanzgewehr ihres Mannes – jener Leihgabe der Armee an den wehrpflichtigen Gatten – gegriffen habe, aber auch als eine Unglückliche, die manchmal in ihrer Verzweiflung von Suizid spreche. Vielleicht kann sich Pauline ja in der Klinik, im Schutz geregelter Abläufe und karger, aber gesicherter Mahlzeiten tatsächlich beruhigen; möglich auch, dass sie in einer Depression steckt, die sie zahm werden lässt. Oder aber es sind die Geschichten, die man sich im Waschsaal oder beim Kartoffelschälen in der Küche zuflüstert, die sie gefügig machen, Gerüchte vom Umgang mit Widerspenstigen, mit sogenannt Renitenten, deren Schreie nicht selten durch die Wände zu hören sind. Vielleicht hat sich herumgesprochen, dass dabei kräftige Männer zum Einsatz kommen, mit Händen, die furchtlos zupacken, will jemand nicht schon abends um fünf Uhr in sein Bett, und die diese Widerständler zu fesseln wissen, in einer Rückenlage, die Hände in langen Lederhandschuhen, die Füsse in festen Gurten, nächtliches Austreten für die Notdurft nicht vorgesehen, die Bestrafung von Pannen am Morgen sehr wohl. Oder jemand hat ihr hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert, dass hier der Teller leer bleibe, wenn man nicht genug oder nicht dasjenige arbeite, was verlangt wird; dass einen Ähnliches erwartet wie jene junge Frau, die genug hatte vom täglichen Zwang zur Strickerei, diesem dösigen Geklapper der Nadeln Tag für Tag, und die stattdessen einen Zeichenstift verlangte und umgehend kein Essen mehr bekam, bis sie sich wieder in den Maschenzwang fügte. Möglich, dass sich die Patientinnen und Internierten heimlich solche Geschichten erzählten, vielleicht aber auch schwiegen sie stumm vor sich hin, und man erfährt davon erst, wenn man später in Archiven nach vorhandenen Zeitzeugnissen sucht. Und dabei Texte aufstöbert wie diejenigen der mutigen Pflegerin Agnes Roth, eine, die schockiert war und zu dokumentieren begann, was sie sah, was sie hörte, was ihr zugetragen wurde und wofür sich niemand in der Welt zu interessieren schien.2 1948 erschien ihre kleine Broschüre, eine Sammlung von «Wahren Berichten und Selbsterlebnisse aus Irrenhäusern», frech betitelt mit «Ich klage an», publiziert im Selbstverlag an der Zürcher Loogartenstrasse, ein schmächtiges Büchlein voller Ungeheuerlichkeiten. Darin berichtet sie empört von den unmenschlichen Zuständen, vom Sadismus der Ärzte und des oft ungeschulten Personals, alles anonymisiert, die Orte des Schreckens dennoch leicht identifizierbar. «Die Heilanstalt macht krank», bilanziert die Autorin, man werde dort «lebendig begraben», werde «eine Null, eine Nummer, ein Zettel in der Anstaltskartei». Inwiefern Pauline selbst Zeugin von solchem Umgang mit Renitenz wird und ob es ihr eigenes Verhalten beeinflusst, dazu ist in den Akten nichts aufzufinden. Möglicherweise verhält sie sich ganz einfach aus taktischen Gründen ruhig, weil sie weiss, dass sie als Strafgefangene nur zur Begutachtung in der Anstalt weilt. Und weil sie sehr wohl verstanden hat, dass es dabei um nichts Geringeres als um ihre Freiheit geht.

Die Rolle der Psychiatrie

Das Gutachten wird am 23. Dezember 1941, einen Tag nach ihrer Rückführung ins Bezirksgefängnis, ausgestellt. Das Dreipunkteprogramm auf der Kopfseite umreisst den damals klassischen Auftrag der Justiz an die Psychiatrie, die Klärung der Zurechnungsfähigkeit, ob also Pauline über «die Fähigkeit der Selbstbestimmung oder die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der Tat erforderliche Urteilskraft» verfügt, wie gross allenfalls der «Grad der Verminderung» ist und welche vorsorglichen Massnahmen «aus sicherheitspolizeilichen oder andern Gründen» von den Gutachtern empfohlen werden. Der Auftrag illustriert die bereits erwähnte Rolle der Psychiatrie in der Verwaltung jener Bürger, die in Hoffnungslosigkeit feststeckten, dabei zu sogenannt «Arbeitsscheuen» und Säufern wurden, zu Menschen, die sich nicht einordnen konnten oder wollten, die auf der Suche nach Arbeit viel herumzogen, die irgendwo unterschlüpften und es nicht immer so genau nahmen mit der Würde der Amtsträger und manchmal auch nicht mit dem Eigentum der anderen. Mit zu ihnen gehörten die «Liederlichen», meist Frauen mit ungehörigem Sexualleben, die man der Unzucht und Prostitution bezichtigte, oder dann die unehelich Schwangeren, die es samt ihrer Fruchtbarkeit zu bevormunden galt, unabhängig davon, unter welchen Umständen sie in die für sie misslichen «anderen Umstände» geraten waren. Die meisten waren in Armut geboren oder wurden durch ökonomische Krisen in die Armut gedrängt, waren ausbeuterischen Arbeitgebern ausgeliefert oder gewalttätigen Männern, die nicht selten – in stummer Wut oder lautem Gepolter – in Trunksucht verelendeten. Allen gemeinsam war ihr lebenslanger Kampf auf eher unwirtlichen Gleisen, nicht selten auf der Flucht vor dem Zugriff der Behörden oder auch vor der Strafjustiz. Die Gemeinden und Kantone aber versuchten, das Lumpengesindel loszuwerden, mit Abschiebungen über die Kantonsgrenze hinaus, mit Einweisungen in Arbeits-, Trinker- oder Heilanstalten oder mit dem Wegsperren hinter Schloss und Riegel. Dabei wurde zwischen strafrechtlichen und sozialen Übeltätern nicht immer streng unterschieden, sowieso galten Alkoholismus und Liederlichkeit als Vorstufen kriminellen Verhaltens. Diese «Vertreter der Unordnung», wie Schriftsteller Friedrich Glauser – selbst mehrmals in Anstalten interniert – die Gruppe einst ironisch nannte, wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer zahlreicher. Sie füllten die Straf- und Heilanstalten, landeten im Armenhaus oder wieder auf der Strasse, die erhoffte Nachhaltigkeit der Massnahmen liess auf sich warten.3

Hier nun bot die Psychiatrie einen möglichen Ausweg. Könnte man die soziale Sperrigkeit, die sogenannte Devianz, zu einer diagnostizierbaren Krankheit erklären, liessen sich die Fragen der Zurechnungsfähigkeit, der Strafe und der allgemeinen Sicherheit neu regeln. Der Umgang mit den Störenfrieden hätte dann nicht mehr in erster Linie die Strafe zum Ziel, sondern den Schutz der Gesellschaft vor diesen Kranken. Die Psychiater zeigten sich offen für das Anliegen der Richter und Behörden, es stärkte ihr Bemühen um wissenschaftliche Anerkennung und lockte sie mit der Ausweitung ihrer Rolle auch über die Anstaltsgrenzen hinaus. So setzten ihre Vertreter die Frage des Zusammenspiels von Strafjustiz und Psychiatrie prioritär auf die Themenlisten ihrer Fachtagungen. Und mit Verve beteiligte man sich auch an jener Debatte, die nach einer Vereinheitlichung des Strafrechts suchte, einer Reform, die der Bundesrat gegen Ende des 19. Jahrhunderts angestossen hatte und die nicht zuletzt auch die Klärung des strafrechtlichen Umgangs mit all diesen «Psychopathen» verschiedenster Couleur vorantreiben sollte.4

Einer, der sich dabei mit gewichtiger Stimme einmischte, war der Zürcher Psychiater Auguste Forel, bis 1898 Direktor des Burghölzli. Professor Forel hatte einen sozialpolitischen Blick, war gleichzeitig beseelt von der Vision, das Volk vor Schäden durch eben jene «Psychopathen» zu schützen. Er verstand das Verbrechen – bis auf wenige Ausnahmen – als Ausfluss von Geisteskrankheit. Strafe half da wenig, die Täter sollten weniger für kurze Zeit ins Gefängnis als auf unbestimmte Zeit in speziellen «Anstalten für moralische Defekte» versorgt werden. Sein grosses Ziel war, die Verbrechensbehandlung ganz zur Sache der Psychiatrie zu erklären, die Strafjustiz wäre dabei nur mehr ihre Gehilfin. Der schlangenumwundene Asklepiosstab also als Dirigentenstock im Umgang mit dem Bösen. Für diese Reform forderte der ambitiöse Psychiater eigens ein schweizerisches Irrengesetz, das den Primat der Psychiatrie über das Strafrecht juristisch absichern sollte. In diesem neuen Verständnis liesse sich zudem auch auf die wachsende Gruppe jener Unsteten zugreifen, die ihre Strafe bereits abgesessen hatten oder die im Sinne des geltenden Strafrechts gar nie strafrechtlich belangt werden konnten, die aber mit ihrer Widerborstigkeit und ihrem Unglück die Behörden ständig auf Trab hielten.

Die Psychiatrie arbeitete dem von Auguste Forel postulierten Modell auch diagnostisch zu. In den Lehrbüchern wurde um 1895 neu die «konstitutionelle Störung» eingeführt, eine Ergänzung zu den bereits etablierten «angeborenen» und «erworbenen Störungen». Sie ermöglichte das Erfassen dieser «Psychopathen» und «abnormen Charaktere» in Abgrenzung von bereits verankerten Krankheitsbildern wie «geistiger Idiotie» oder «schwerer Debilität». Es ging dabei nicht um eine grundlegende Störung der Intelligenz, aber um «unwiderstehlich krankhafte Triebe und Neigungen oder tiefe moralische Defekte», also um den Umgang mit «verbrecherischen oder sonstigen antisozialen Neigungen», denen strafrechtlich nicht beizukommen war.5 Diese Definitionen in den Lehrbüchern lesen sich wie ein diagnostisches Aufrüsten im Kampf gegen soziale Unverträglichkeit, sie lassen weite Möglichkeiten auch willkürlicher Deutungen zu. Mit seinem Ansatz setzte Professor Forel Elemente einer eugenisch orientierten Denkart in die Psychiatrie, die von Eugen Bleuler und dessen Sohn Manfred, seinen späteren Nachfolgern im Burghölzli, weiter ausgebaut wurden. Mit seinen frühen Forderungen nach Zwangssterilisationen und Kastration positionierte sich Auguste Forel in der Frage eugenischer Volkshygiene als Vorläufer für ganz Europa.

Abschliessend sei noch erwähnt, dass sich die Professoren aus Zürich, Bern und Basel mit ihren Plänen nur zum Teil durchsetzen konnten. Eine so breit angelegte Medikalisierung von Abnormität wollte nicht allen gefallen, zu schnell drohte aus dem «einig Volk von Brüdern» ein «einig Volk von Psychopathen» zu werden. Einspruch kam deshalb von verschiedener Seite. Wache Bürger und Juristen sahen Persönlichkeitsrechte bedroht, die Strafrechtler fürchteten eine Unterwanderung des Grundprinzips von Schuld und Strafe. Erfolgreich blieb die Stärkung der Rolle der Psychiatrie im Strafvollzug dennoch. Ihre Gutachtertätigkeit bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit wuchs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rapide an. Die Jahresberichte der Heilanstalt Burghölzli illustrieren diese Entwicklung, sie verzeichnen eine achtfache Zunahme im ersten Jahrhundertviertel, einen Anstieg von 54 auf insgesamt 426 angefragte Gutachten. Später dann brachte das neue Schweizerische Strafrecht von 1942 den Psychiatern weitere Arbeit. Es sorgte für eine klare Trennung von strafrechtlichen und administrativen Massnahmen, sodass es neu die strafrechtlich verordnete Verwahrung gab, während parallel dazu die Versorgung auf administrativem Weg weiterhin gängige Praxis blieb. Psychiatrische Gutachten blieben bei beiden Verfahren wichtig. Wie weit die Empfehlungen dann schliesslich umgesetzt wurden, lag oft im Ermessen der einzelnen Behörden. Dabei entpuppten sich die vielen kantonalen Erlasse als bunte Flickenteppiche, mannigfaltig verwebt und verknüpft. Gemeinsam war ihnen der rudimentäre Rechtsschutz der Betroffenen und das Fehlen verbindlicher Fristen bei der Bemessung solcher Massnahmen. Man entzog den Versorgten damit wichtige Grundrechte und schuf eine Kategorie von Bürgern zweiter Klasse. Die Psychiater unterstützten mit ihrer Gutachtertätigkeit diese Disziplinierung sozialer Not. Auch wenn damit kein einziger der Widerborstigen von der gesellschaftlichen Bühne verschwand und die erhoffte Entlastung der psychiatrischen Heilanstalten ausblieb.

Schlagende Argumente

Pauline Schmids Gutachten umfasst 17 Seiten, verweist auf fünf Zusatzakten, wird von zwei Ärzten unterzeichnet. Es ist an die Bezirksanwaltschaft Zürich adressiert und stützt sich auf drei Pfeiler der Information: Es sind dies die Polizeiakten, dann «die mündlichen Berichte des Ehemannes der Angeklagten» und schliesslich die eigenen Beobachtungen der Ärzte während Paulines Aufenthalt. In der «Vorgeschichte» beschäftigen sich nur wenige Zeilen mit Paulines Kindheit und Jugend, der Rest des Berichts konzentriert sich auf Paulines Leben als Kriminelle, ihre Delikte werden zu einer Art Biografie aufaddiert, mit detaillierten Angaben zu Zeit, Tatort und Beteiligten, in offensichtlicher Anlehnung an vorliegende Polizeirapporte. Zusätzlich wird im gesamten Bericht wiederholt auf Ehemann Armin zurückgegriffen, er, der die Verhaftung initiiert und die Begutachtung ins Rollen gebracht hat. Seine Aussagen wandeln sich unter den schreibenden Händen der Ärzte schleichend zu Tatsachen. Anfänglich zitiert man ihn noch korrekt und wahrt die nötige Distanz: «Bereits zu Beginn der Ehe hat Schmid, nach seinen eigenen Angaben, bemerkt, dass die Frau ihn ständig belog.» Doch wenige Zeilen später werden seine Behauptungen zu ausgewiesenen Fakten:«Schmid musste sein Pachtgut in Adlikon-Regensdorf bald wieder aufgeben, weil die Frau zu untüchtig war. Sie konnte den Haushalt nicht besorgen, hielt keine Ordnung und liess alles verkommen. Die Kinder wurden verwahrlost und zum Lügen angehalten.» Für die Rekonstruktion ihres Vorlebens werden noch weitere Informanten zugezogen, wer genau das ist, bleibt aber intransparent. «In Rafz genoss Frau Schmid bereits als ledig einen schlechten Ruf», liest man im Gutachten, und weiter, dass ihr Ehemann Armin bereits «vorher von verschiedenen Seiten vor der Heirat mit dieser übel beleumdeten Ausländerin gewarnt worden sei». Gewichtig werden auch die beim alten Vater eingeholten Anschuldigungen eingearbeitet, Pauline «habe ihm schon immer viel Schwierigkeiten gemacht, habe ihn früher, als sie noch zu Hause war, bestohlen und belogen», zitieren die Psychiater den stadtbekannten Quartalssäufer, «oft habe sie sich dem übermässigen Alkoholgenuss hingegeben» und habe auch sonst überhaupt «vielfach einen anormalen Eindruck gemacht». Den Vorwurf des Alkoholismus widerlegen die Ärzte zwar nach ihren Untersuchungen, die von Vater und Ehemann beobachtete Abnormität jedoch erheben sie in den Status einer Frühdiagnose. Die siebenseitige «Leumundserhebung» mit der – wenn auch fehlerhaften – Auflistung aller Delikte zeigt schliesslich zweifelsfrei, dass es sich bei Pauline um eine chronische Schwindlerin und Betrügerin handelt, die berechtigterweise unter Verdacht steht, geistig nicht ganz normal zu sein.

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9783039199549
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