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Wenn diese Art des Nahrungserwerbs auch nicht immer erfolgreich war, so erfreuten sich die Wölfe doch eines gesicherten, stressfreien und weitestgehend unbehelligten Daseins. Die wenigen Reibereien mit Menschen verliefen zwar mitunter gewalttätig, waren dafür aber sehr selten (z. B. die fatale Begegnung mit dem Jäger nach dem Verzehr von Großmutter und Rotkäppchen).

Die meisten Berichte über solche Begegnungen waren außerdem stark von den Humanmedien geprägt, und daher durch den Anti-Wolf-Aktivismus propagandistisch dahingehend beeinflusst, dass die Wölfe immer als Verlierer dargestellt wurden. Alles andere wäre Defätismus, Subversion oder schlichtweg Verrat gewesen.

Als schließlich längere Zeit keine Wölfe mehr aufzutreiben waren und das Interesse und die Motivation der Bevölkerung schon wieder nachzulassen drohte,9 kam es zu einer erneuten Krise. Der Rat der Dorfwichtigen bemerkte an winzigen, beinahe ätherischen Anzeichen, dass die durch Wölfe verursachte zivile Ausnahmenotfallsituation kaum mehr jemanden interessierte. Kürzung der Spesen und Rücknahme der Abwehrmaßnahmen schwebten sozusagen fast greifbar über der Agora.

Nach nächtelangen Beratungen gelangte der Dorfrat zu dem Schluss, dass wohl ein geändertes Bedrohungsszenario eingetreten sei. Die Experten wurden befragt, ob es nicht vorstellbar wäre, dass z. B. auch Bären Schafe fressen könnten. Die flexibleren der Experten riefen sofort: »Ja! Ja! Bär! Bär!« – Es müssten unverzüglich Maßnahmen gegen diese noch viel größere Gefahr getroffen werden. Die dämlicheren Experten bestanden darauf, zuerst einmal das Wolfsproblem grundsätzlich, endgültig und ein für alle Mal zu lösen. Natürlich gerade nach eben derjenigen Methode, deren Entwicklung sie demnächst, bei nur geringfügiger Erhöhung ihrer Mittel, vervollkommnen würden.

Es kam alles, wie es kommen musste: Alte und neue Bärenexperten warnten eindringlich vor den lange verkannten Risiken durch die immanente Bärenplage (bzw. den lange unbekannten Risiken, hatte doch niemand in dieser Gegend jemals einen Bären gesehen!). Die Klatschweiber erzählten jedem immer wieder von den überaus schrecklichen Gefahren. Der Dorfrat dankte den Experten für die zum Glück noch rechtzeitig erfolgten Warnungen und versprach, unverzüglich Maßnahmen einzuleiten. Die Wolfssicherheitskräfte bildeten sofort eine »Sonderkommission Problembär«, der Zimmermann erklärte, wie die Zäune um die (mittlerweile schaffreie) Weide bärensicher verstärkt werden könnten, usw. usw.

Kurzfristig drohte der »WolfBuster 600®« – ein verbessertes Nachfolgeprodukt des (zwar bewährten, aber trotzdem wenig eleganten und inzwischen auch schon veralteten) »Wolf-B-Gone®«-Sprays – zum kommerziellen Flop zu werden. Der immer noch etwas sonderbare, aber inzwischen steinreich gewordene Dorfbewohner, dessen sonstige Aktivitäten inzwischen nicht mehr belächelt oder gar offen verspottet, sondern nach Möglichkeit imitiert wurden, konnte jedoch glücklicherweise durch ein sofort vermarktetes Upgrade sein Produkt zum »Bearliminator Extended 599®« und damit zum überhaupt-noch-nie-dagewesenen Kassenschlager verbessern.

Die Dorfbewohner hätten nun zufrieden sein können, allerdings waren sie – ohne es selbst zu bemerken – in eine Art Spirale geraten. Na ja, einige merkten es natürlich schon, aber je nach charakterlicher Veranlagung nützten sie die Lage schamlos aus, um sich selbst zu bereichern, oder – naserümpfend – fühlten sich weitaus überlegen und bezahlten die immer häufiger werdenden Steuern, Abgaben, Gebühren … mit hochmütiger Verzweiflung.

Den Bären folgten (unvollständige Aufzählung): Hyänen, Löwen, Greife (ursprünglich eigentlich Krähen, aber zum Glück hatte das niemand bemerkt), Kentauren, Zyklopen, Harpyien, Gorgonen, Sirenen sowie die Hydra, Sphinx und Chimäre (besonders Letztere galt als äußerst tückisch).

Obwohl alle diese Gefahren gerade noch knapp von der verängstigten Bürgerschaft abgewendet werden konnten, war das Leben im Dorf doch nie mehr wie früher. Der mittlerweile selbst zum Greis gealterte Junge bereute bitterlich, dass er seinerzeit »Wolf! Wolf!« gerufen hatte. Niemand wollte seine alte Geschichte noch hören. Er wurde von der Dorfjugend (die sich inzwischen nicht einmal mehr von Zombie-Cerberussen ängstigen ließ) verlacht und »Wopa! Wopa!« gerufen. Immer öfter dachte der inzwischen schon selbst beinahe weise gewordene ehemalige Junghirte, er hätte damals einfach die Klappe halten sollen. Bei den (damals noch) zahlreichen Schafen in der Herde wäre es vielleicht gar nicht aufgefallen, wenn eins fehlte – und er hätte sich im Lichte des inzwischen Vorgefallenen bestimmt sehr, sehr bemüht, dass nie wieder ein Wolf ein Schaf aus seiner Herde fräße, und selbst wenn, dann hätte er das Problem viel diskreter gehandhabt.

Es gab allerdings auch wirklich schlimme Auswirkungen: Da ein sehr hoher Anteil der gemeinsamen Bemühungen des Dorfes für die Abwehr der immer gefährlicher werdenden Bedrohungen gebraucht wurde, begann es bald an anderen Dingen zu mangeln. Die Greise des Dorfes, die früher immer von irgendeiner freundlichen Dorfbewohnerin nebenbei mit Essen versorgt worden waren, mussten zunehmend selbst für ihre Ernährung sorgen. Die Kinder, die früher von einigen Dorfbewohnern beaufsichtigt wurden, blieben sich selbst überlassen, weil keiner mehr Zeit für sie hatte. Viele etwas größere Dorfjugendliche glaubten, keine andere Zukunftsaussicht zu haben, als später in die Dorfdeppenbranche einzusteigen. (Wir erinnern uns – dies war die Aufnahmevoraussetzung für die Sicherheitstruppen, und obwohl inzwischen viele Reformen stattgefunden hatten, um »die Effizienz zu steigern«, war dieses Kriterium immer unverändert geblieben.) Aus Verzweiflung über diese Berufsaussichten und viele andere – tatsächliche oder eingebildete – Fehler im System, tranken manche zu viel Wein, andre wurden gewalttätig, manche hockten nur mehr herum und starrten Tag und Nacht ins Herdfeuer, und wieder andere begannen, in diesem Feuer die Kräuter zu verbrennen, die neuerdings haufenweise auf den ehemaligen Weiden wuchsen, um den Rauch zu inhalieren. Vielen früher durchaus vernünftigen und achtbaren Dorfbewohnern war inzwischen schon alles egal – sie mieden Dorfrat und Dorfversammlung, kümmerten sich um nichts mehr und versuchten nur noch, ihre verbliebenen Habseligkeiten vor den Sicherheits-Spendeneinsammlern zu verbergen.

Am schlimmsten war, dass einige der Dorfbewohner auf die Idee kamen, die Schuld an sämtlichen Misslichkeiten einfach den Bewohnern anderer Dörfer in die Schuhe bzw. Riemensandalen zu schieben. Übersiedlungs- und Arbeitsverbote wurden erlassen, der Warenverkehr überwacht, und die Abkömmlinge von Nachbardörfern wurden mit Misstrauen und Schmähungen drangsaliert. Einige etwas weiter entfernte Nachbardörfer wurden verdächtigt, heimlich Wölfe zu züchten oder zumindest demnächst die Mittel dazu zu besitzen. Die inzwischen ja ohnedies kaum ausgelasteten Sicherheitskräfte überfielen dann diese Dörfer, sorgten für völliges Chaos, suchten intensiv nach Wolfsspuren, nahmen alles, was sie brauchen konnten, mit und zogen nach kürzerer oder längerer Zeit – völlige Verwüstung zurücklassend – wieder ab.

Die Nachbardörfer konnten wenig dagegen tun, waren ihre eigenen Dorftrottel doch mengenmäßig weit unterlegen und sie selbst in der Abwehr von Bedrohungen wenig geübt. Der eine oder andere der erzürnten Nachbardörfler versuchte zwar, es den Wolfsbekämpfungstruppen heimzuzahlen – dies führte aber nur zu verstärkten Maßnahmen, weil es ein Beweis niederer feindlicher Gesinnung war.

Begreiflicherweise geriet das Dorf bei den Nachbarn bald in etwas zwielichtigen Ruf. Alle verkauften ihnen gerne Baumaterial für monstersichere Zäune10 und Wachtürme, Nahrungsmittel, Öl (natürlich Oliven-) und Sicherheitsbedarfsartikel. Inzwischen waren Sklaven und Beutegut aber praktisch die einzigen Handelsprodukte unseres Dorfes, während der berühmte »MonsterRepulsor Supreme®« beispielsweise zur Gänze in einem ganz anderen Dorf an der Küste gefertigt wurde. Vielerorts wurden die Dorfbewohner von ihren Mitmenschen als gemeingefährliche, unzivilisierte Irre, mit denen man am besten so wenig wie möglich zu tun hätte, gemieden.

Mit geringfügigen Einschränkungen hätte alles ewig so weitergehen können, war doch die Furcht vor Wölfen – oder eigentlich die Reaktionen, die diese Furcht ­hervorriefen – keinerlei zeitlicher und kaum einer materiellen Beschränkung unterworfen.

Doch es kam anders: Die Römer – die dem Vernehmen nach ursprünglich von einer Wölfin aufgezogen worden waren und deshalb keinerlei Berührungsängste hatten – eroberten schließlich Griechenland. Sie nahmen viele Einwohner mit, als Haussklaven, Ärzte(sklaven), Lehrer(sklaven) … und als Geschichtenerzähler(sklaven). Letztere waren es dann natürlich auch, die die Kunde überall und bis zum heutigen Tage verbreiteten:

»Wolf! Wolf! …«

Na ja – das ist halt eine alte Geschichte! Die Zivilisation ist inzwischen viel weiter entwickelt. Mittlerweile haben wir (mehr oder weniger) demokratisch gewählte Führer, verantwortliche Medien, noch mehr Experten und hochgebildete Sicherheitsfachleute.

Aber lassen Sie uns die Lage einmal näher besehen!

3

Warum immer wieder neue Katastrophen auftauchen

Die Sozialpsychologie hat erkannt, dass der Glaube an eine »greifbare Gefährdung es ermöglicht, das eigene Unbehagen zu erklären und zu rechtfertigen« [3]. Zuerst also kommt das Unbehagen – dann die Erklärung. Um unsere Gedankengänge etwas anschaulicher zu gestalten, wollen wir in Anlehnung an die so lehrreiche Aesopsche Fabel im vorangegangenen Kapitel diese »Erklärung« für das Sich-bedroht-Fühlen im Folgenden als »Wolf« bezeichnen und definieren also:

Ein Wolf im Sinne dieses Buches ist eine Gefahr, die durchaus eine real existierende Ursache haben (oder gehabt haben) kann. Wichtigstes Merkmal ist, dass die Gefahr über alles realistische Maß hinaus übertrieben und die angebotene »Rettung« üblicherweise einfach, linear und weitgehend frei von Sachkenntnis propagiert wird. Die Rettung beinhaltet dann »eo ipso« – »aus sich heraus« – die Überwindung allen Übels, da das Übel zuvor auf ein singuläres Problem reduziert worden ist.

Individuelle Ängste betreffen vor allem das eigene, ganz private Wohlbefinden.1 In einem Weltbild, in dem das Leben nach dem Tode oder der Ruhm der Nation zunehmend an Bedeutung verloren2 haben, stehen Gesundheitsüberlegungen oft im Zentrum der Sorgen von entsprechend disponierten Personen. Unwissenheit, Hypochondrie, Geschäftemacherei, der Wunsch nach einfachen Lösungen, Profilierungssucht, und natürlich auch echt empfundene Besorgnis bilden eine oft recht verwirrende Mischung. Aber auch mangelnde subjektive Zufriedenheit erzeugt weitreichende Ängste.

Ein eindrucksvolles Beispiel von zunächst sehr ­persönlichen Ängsten waren die Auseinandersetzungen um Silikonimplantate in den USA der späten 80er und 90er Jahre. Im Laufe dieses »Skandals« spielte sich ein Team aus Journalisten, Anwälten, Ärzten und vermeintlich »GeschädigtInnen« gegenseitig Dollarmilliarden an Schadenersatz von den Herstellern zu.

Ursprünglich waren die Anfang der 60er Jahre entwickelten Implantate bei ihren Trägerinnen3 recht beliebt. Abgesehen von ihrer Verwendung zur Wiederherstellung nach Brustamputationen, wurden die Objekte auch häufig zur optischen Optimierung reiferer Damen verwendet. Natürlich bleiben alte Schreckschrauben auch mit aufgepumpter Oberweite im Kern solche – sie selbst sehen das aber oft anders (und ihre Chirurgen offiziell auch). Letztlich ist es aber dasselbe Problem wie das der Penislänge bei Männern.

Persönliche Befindlichkeitsstörungen, wie sie bei älteren, sehr auf ihr Äußeres fixierten Damen nun einmal auftreten können, wurden in der Folge diesen Silikonpolstern zugeschrieben, da ja irgendetwas schuld sein muss und bloßes Alter als Erklärung nicht akzeptabel wäre. Tatsächlich war bei einigen Implantaten dieses Typs Silikon aus den Kissen in den Körper ausgetreten. Laut Klägerinnen bzw. deren Anwälte führte dies zu Brustkrebs. Nachdem diese Behauptung wissenschaftlich widerlegt wurde, sollten Autoimmunerkrankungen wie Rheuma und verschiedene neurologische Leiden durch die Implantate bedingt sein. Die Folge waren Schadenersatz- und Schmerzensgeldprozesse in Milliardenhöhe. Der betreffende Typ von Implantaten wurde 1992 verboten, und zwar trotz ausführlicher unabhängiger wissenschaftlicher Studien, die nachwiesen, dass die »erlittenen Schäden« sämtlich nicht existent oder nicht ursächlich auf die Implantate zurückzuführen waren. [4] Nichts konnte festgestellt werden, das nicht bei älteren Damen auf natürliche Weise ebenso zustande käme.

Nach einigen Änderungen wurden die Implantate 2006 wieder zugelassen. Die wissenschaftliche Wahrheit hat allerdings, wie so oft, gegenüber dem »gesunden Volksempfinden« den Kürzeren gezogen – auch wenn Letzteres zunächst erst von Medien inszeniert werden musste. (Dem zugrundeliegenden Krankheitsbild der multiplen somatoformen Störung4 widmen wir uns ein wenig später.)

Woher kommt aber das öffentliche Aufsehen bei einem so überaus persönlichen Detail wie Brustvergrößerung? Die psychologische Erklärung beruht auf der »availability heuristic«: Demnach wird eine Angelegenheit als umso wichtiger und dringender empfunden, je öfter sie einem bewusst (gemacht) wird. [4] Ein »Problem«, das oft genug von den Medien in die allgemeine Aufmerksamkeit gerückt wird, wird von der Mehrheit bald als »dringend« empfunden. Durch zeitnahe demoskopische Umfragen kann diese Tatsache natürlich »statistisch-wissenschaftlich« abgesichert und somit durch Rückkopplung verstärkt werden. Dies schafft wiederum unmittelbaren Handlungsbedarf für politische Vertreter, Talk-Show-Produzenten und »Experten«. Beachtenswert ist aber, dass die ursprüngliche Realität des »Problems« bei diesem Mechanismus kaum eine Rolle spielt.

Zusätzlich zum bequemen Erklärungsmodell für individuelles Unbehagen bietet das Angst-Phänomen auch offenkundige Vorteile für soziale Gemeinschaften. Es kann zum Beispiel durch die überlaute Warnung vor einer in der Realität relativ geringfügigen Gefahr von schlimmen realen Fehlleistungen abgelenkt werden. Vielleicht dient es sogar als Bemäntelung für die leidige Tatsache, dass die wirklich großen Probleme gar keine einfachen Lösungen zulassen. Die öffentliche Aufmerksamkeit wird jedenfalls elegant von komplexen, konkreten Schwierigkeiten auf bedeutungsarme Wehwehchen gelenkt, für die dann (besonders durch »interessierte Kreise«) einfache (monokausale) Lösungen ­versprochen werden. Ein willkürlich gewähltes Beispiel5 für einen solchen Prozess liefert die regelmäßig ausbrechende »Brutalisierungsdiskussion«:

Von Zeit zu Zeit – eigentlich selten, wenn man das Ausmaß an Gewalt, Demütigung und Fremdbestimmung an diesen Anstalten bedenkt – dreht ein Schüler6 durch und massakriert Lehrer und/oder Schüler seiner Schule (wen wohl sonst?). Bei den folgenden Ermittlungen stellt sich dann unter anderem regelmäßig heraus, dass der Betreffende auf seinem Computer (oder irgendwo anders) gewalttätigen Einflüssen ausgesetzt war. (Die Computerspiele sind die zeitgemäße Version, historische Vorläufer sind Fernsehen, Film, Theater, Bücher und wahrscheinlich auch Klatschgeschichten, öffentliche Hinrichtungen, Gladiatorenspiele und altgriechische Tragödien.) Reaktiv wird dann sofort durch Medien und Politik (egal ob rechts oder unrechts) ein Verbot der entsprechenden »Unterhaltung« gefordert, mit der Begründung, der ansonsten naturgemäß friedfertig-reine Knabe sei erst durch das betreffende Medium sozusagen zwangsläufig zur blutdürstenden Bestie mutiert.

Die Zweckdienlichkeit von computersimulierten Massakern als Trainingsmethode angehender Massenmörder ist aber insofern zu hinterfragen: Wenn ein zartes, jugendliches Gemüt durch Killerspiele zum Meister des Amoklaufes werden kann, wieso können dann z. B. virtuelle Golf-, Fußball- oder Tennisspiele niemanden für die (überaus lukrative) Profi-Liga qualifizieren oder wenigstens vor den Folgen von Bewegungsmangel und Überernährung bewahren?7

Da praktisch alle Jugendlichen (männlich, weiß, Mittelschicht – wir erinnern uns) ähnlichen Einflüssen ausgesetzt sind, wundert man sich, warum sich Lehrer überhaupt noch aus ihren Schützengräben und Bunkern wagen – die ­Verdun-Front 1916 müsste vergleichsweise ein Erholungspark gewesen sein. Die Vermutung, dass das Problem möglicherweise doch etwas weniger ubiquitär sein könnte, erweist sich bei näherer Betrachtung als zutreffend.

Das Missverhältnis zwischen einem vollständigen Verbot des Mediums X oder Y und dem (trotz aller bereits früher ergriffenen Patentlösungen) alle paar Jahre stattfindenden Amoklauf eines zornigen Einzeltäters ist beträchtlich. Besonders eigenartig ist, dass echte Ursachenforschung meist unterbleibt bzw. durch eine »Patentlösung« geradezu verhindert wird. Der blutdürstige Video-Aficionado hat seine bedauernswerten Mitmenschen ja nicht mit virtuellen Waffen massakriert (z. B. einer Laser-Raketen-Zap-O-Matic8), sondern es werden bei solchen Dramen regelmäßig reale Waffen verwendet.

Es kann zudem auch eine gewisse soziale Vorgeschichte vermutet werden. Hatte der bewusste Jugendliche außer Brutalo-Ballerspielen (bzw. -Videos, -Filmen, -Büchern, …) und dem offensichtlich frustrierenden Schulbesuch keinerlei Umweltkontakt? Wie also entwickelte sich denn der so augenfällig gewordene Aggressionsstau? Wer hat die »tickende Zeitbombe« ticken gehört oder nicht gehört oder nicht hören wollen?

Einfache, monokausale »Erklärungen« zu postulieren ist wesentlich bequemer als die individuelle Aufarbeitung eines tragischen, aber immer singulären Ereignisses mit allen seinen Wechselbeziehungen. Noch schwieriger – wenn man das Geflecht an Ursachen und Wirkungen einmal tatsächlich untersucht hätte – wäre es dann, eine fundierte Schuldzuweisung zu treffen, und noch viel mühsamer ist es, danach wirklich zweckmäßige Maßnahmen durchzusetzen. Gerade schon irreal wäre der Gedanke, diese später auf ihre Zweckmäßigkeit hin zu evaluieren, gegebenenfalls anzupassen oder zu entsorgen.

Eine solche Vorgehensweise übersteigt bei weitem die Sendezeit oder den Seitenrahmen – und besonders Geduld, Interesse und Intelligenz des geneigten Publikums und seiner Vertreter. Es kann deshalb von der öffentlichen Wahrnehmung unbeachtet bleiben, dass (auch jugendliche) Amokläufer eine Vorgeschichte und ein Umfeld haben und meistens auch Gründe, warum sie ihr eigenes (und konsequenterweise auch fremdes) Leben als nicht erhaltenswert einschätzen.

Dieser im öffentlichen Bewusstsein ablaufende Verdrängungsmechanismus – komplizierte, schwer lösbare Fragen gegen einfach zu bewältigende Detailprobleme auszutauschen – wird uns im Folgenden noch öfter begegnen.

Die Grenzen zwischen den individuellen, gruppenfokussierten und allgemein gesellschaftspolitischen Ängsten sind natürlich fließend. Auch sind Letztere nicht so universell verbreitet, wie es zunächst erscheint. Vermutlich beschäftigt die Sorge um die Nahrungszufuhr des nächsten Tages insgesamt viel mehr Menschen als zum Beispiel die Angst vor Strahlungsenergie, die durch Elektrogeräte im Stand-by-Betrieb abgegeben wird (Elektrosmog).

Bei manchen Ängsten gelingt es trotzdem, sie global zu verbreiten – ungeachtet der überaus geringen Chance eines beliebigen Erdenbürgers, jemals dem betreffenden Problem zu begegnen. Hier ein Beispiel für Besorgnis von globalem Ausmaß:

Eingedenk der umfassenden Sicherheitsmaßnahmen, die dem geneigten Leser beim Besteigen eines Flugzeuges ganz bestimmt schon aufgefallen sind, hier eine Quizfrage: Wie viele Flugzeugabstürze hat es wohl gegeben, die durch einen Bombenanschlag verursacht worden sind? Zum Beispiel in dem Zeitraum von 1984–2004?

Es müssen sehr viele gewesen sein, die Sicherheitsmaßnahmen sind ja auch extrem umständlich (Gepäcksidentifizierung und Einzelbefragung der Passagiere, biometrische Merkmale feststellen), teuer (transportable Spektrometer, Unterdruckkammern, Hunde, …) und unangenehm (z. B. Preisgabe persönlicher Intima – elektronisch im Vorfeld und akut bei der Durchsuchung).

Da steht man also als zahlender Kunde bzw. »Gast« mit seinen in 100-ml-Gebinde abgefüllten Flüssigkeiten, einzeln in transparente, verschließbare, genau 1l fassende Plastikbeutel verpackt, in einer sehr, sehr langen, sich kaum bewegenden Schlange.

Es ist besser, in der langen Warteschlange (und beim Bezahlen des »Security«-Zuschlags) nicht daran zu denken (außerdem ist es zugegebenermaßen für die bei einem Anschlag persönlich Betroffenen unerheblich).

A b e r:

 Die Gesamtzahl der Bombenanschläge9 im Zeitraum 1984–2004, immerhin also in 20 Jahren, beträgt 18. Bei zwölf dieser Anschläge wurden Menschen getötet. Die durchschnittliche Zahl der Bombenanschläge auf ein Flugzeug ist also weniger als einer pro Jahr (1994–2004 sind’s insgesamt fünf, die Tendenz ist also fallend), und das bei stark wachsender Anzahl10 von Flügen.

 Typische »Terroristen« waren nur für einen Teil dieser Anschläge verantwortlich, die überwiegende Zahl geht auf gewöhnliche Verrückte, kriminelle Racheakte und ähnliche Konflikte zurück.

 Durch Selbstmörder verursachte Flugzeugabstürze gab’s zehn. – Nein, nicht in zwanzig Jahren, sondern insgesamt seit Beginn der Aufzeichnungen (1955). Der Anschlag 9/11 (2001 auf das World Trade Center in New York) war natürlich in jeder Hinsicht besonders spektakulär, aber ein überaus seltenes Einzelereignis.

 Entsprechende Kontrollen zeigten, dass es nur wenige Probleme bereitet, »Gegenstände«, etwa auch durch Mitarbeiter des Flughafens, an Bord von Maschinen zu bringen bzw. bringen zu lassen. Jedes Sicherheitssystem hat unvermeidbarerweise Lücken.

 Überhaupt noch nie wurde bisher an Bord während des Fluges aus Flüssigkeiten Sprengstoff hergestellt und zur Explosion gebracht (aus Muttermilch schon gar nicht). Einige Experten bezeichnen ein derartiges Vorhaben auch als »sehr schwierig und wenig erfolgversprechend«.

 Jährlich sterben insgesamt mehr Menschen durch Eselstritte als durch Flugzeugabstürze jedweder Art und Ursache.

Es wird also sehr viel unbequemer und teurer Aufwand wegen eines winzig kleinen Risikos getrieben. Die Problematik bei Flugreisen ist aber wahrscheinlich vielschichtiger. Das offensichtlich stark aufgebauschte Bedrohungsszenario ist geeignet, das in vieler Hinsicht lästige Bedürfnis der Menschen nach Nichteinmischung, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung11 usw. auf ein kontrollierbares Ausmaß einzuschränken.

Natürlich war 9/11 für einen wesentlichen Anteil der potentiellen Flug-Kundschaft ein schwerer Schock, den die Berichterstattung in den Medien nicht eben gemildert hat. Wenn es allerdings um die Sicherheit vor (massiv übertriebenen) Gefahren geht, sind auch ansonsten sehr selbstbewusste Menschen überraschend leicht bereit, sich ins »Unvermeidliche« zu fügen.

An diesem Spiel sind natürlich nicht nur Behörden beteiligt. Die Sicherheitsbranche mit allem notwendigen Personal, Detektoren, Röntgenapparaten usw. erzielt jedenfalls beträchtliche Umsätze (die letztlich irgendwo auf der Rechnung auftauchen).

Vielleicht besteht aber auch ein aus tiefenpsychologischer Urangst resultierendes Schuldgefühl beim Fliegen. Die metaphorische »Angst vorm Fliegen« [6] lassen wir hier weg, sie spielt aber möglicherweise indirekt, im Sinne von »abheben«, »sich gehen lassen« bzw. »Kontrollverlust« eine Rolle. Ein Kontrollverlust, der durch äußerliche, fremde Kontrollen wieder ausgeglichen wird.

Ein möglicher zusätzlicher Einfluss könnte auch vom vielfach geäußerten Unmut von EntscheidungsträgerInnen12 stammen, die das zunehmende Gedränge mit schwerbepackten Prolos auf dem Weg zwischen Executive Lounge und Gate unzumutbar finden. Ein bisschen mehr Flugangst könnte das Jet-Set-Territorium vielleicht endlich wieder ein wenig exklusiver werden lassen. Ohnehin geht man vielerorts den Weg, die billigen Chartervieh-Massentransporte so weit wie möglich von den Business-Executive-Platinum-Card-Holdern zu trennen, am besten gleich mit verschiedenen Flughäfen.

Genug Tiefenpsychologie (fürs Erste)! Sowohl individuelle Ängste, die Probleme bestimmter Interessengruppen und schließlich auch noch globale Sorgen bedrücken uns. Die Furcht erschließt aber auch eine zuverlässige Einkommensquelle. Sogar relativ harmlose Produkte können mit diesem Argument besser verkauft werden. Oder fürchten gerade Sie etwa in diesem Augenblick nicht, dass Ihr Deo (oder Tampon) zum falschen Zeitpunkt versagt? Können Sie sicher sein, dass … (Auftritt eines beruhigend aussehenden, seriös gekleideten Schauspielers …) Ihre Bank-, Versicherungs- oder Gesundheitsleistungen auch »sicher« sind. Oder wollen Sie etwa, dass Ihre Familie in einem Auto zerschmettert wird, bei dem nicht sämtliche erdenklichen Warnlämpchen eingebaut wurden? Sorgen Sie sich nicht bei jeder Mahlzeit darum, ob sie auch wirklich das täglich notwendige Quantum an Spurenelementen aufgenommen haben? Und was ist mit den Kindern? All dies nicht zu bedenken, wäre wahrhaft leichtfertig (versichert der lächelnde Herr aus der Werbung).

Cum hoc ergo propter hoc (lat.: zugleich, also deswegen) und post hoc ergo propter hoc (danach, also deswegen), sind beides altbekannte logische Fehler, »passieren« aber ständig, und zwar vermutlich nicht immer unbeabsichtigt. Ihre Auswirkungen bestimmen unser Handeln, oft bis hinein in den Alltag.

Von Kosteneffizienz und Risiko-Nutzenanalyse kann bei hysterischen Reaktionen natürlich keine Rede sein. Der vermeintliche Schutz vor ernsten Gefahren entzieht sich, wie nichts sonst, der materiellen Logik.

Ein Beispiel: 2001 – beinahe »cum hoc …« zu den Anschlägen auf das World Trade Center in New York – wurde (vermutlich) von einem frustrierten Mitarbeiter eines Biowaffenlabors13 »waffenfähiges« Anthrax (Ameritrax) an ein paar Leute verschickt (22 Infizierte, davon 5 Tote). In der Folge wurden nicht nur ca. 9 000 Verhöre durchgeführt, ohne den/die Täter finden bzw. verurteilen zu können, es war – unterstützt durch 9/11 – offensichtlich jede erdenkliche Maßnahme gerechtfertigt, ja sogar geboten. Briefen wurde allergrößtes Misstrauen entgegengebracht. Schon verschütteter Staubzucker oder Fußpuder konnte die sofortige Sperre eines Großflughafens auslösen. Pharmakonzerne und Schutzmaskenhersteller verbuchten Traumgewinne. Die Gefahren des Bioterrorismus wurden von hunderten »Experten« überwacht, die unverzüglich ans Licht der erregten Öffentlichkeit drängten und laufend Rettungsmaßnahmen vorschlugen. Der letztendlich Hauptverdächtige erlag (angeblich) mittlerweile einer Überdosis eines Grippemittels (Paracetamol).

An diesem und dem vorigen Beispiel sehen wir – die panische Reaktion auf die Anthraxbriefe (so viele Opfer wie ein durchschnittlicher Busunfall) oder die hysterische Angst vor Flüssigsprengstoff in Flugzeugen (Vororte-Züge oder U-Bahnen sind offensichtlich stärker durch Bombenanschläge gefährdet) stehen in keinem Zusammenhang zur realen Gefahr.

Wenn sehr viele engagierte, kluge Menschen mit fast unbeschränkten (und nicht nur finanziellen) Mitteln sehr viel Zeit der Lösung von Problemen widmen, sollte man vermuten, dass irgendwann einmal keine Probleme mehr da sind, weil inzwischen alle weitgehend befriedigend gelöst wurden. Sozusagen: Alle Wölfe sind ausgerottet – wir haben gesiegt! Dieser Fall darf, kann und wird niemals eintreten.14

Konsequenterweise können wir die Ursache des Entstehens immer neuer Bedrohungen – nach der alten kriminalistischen Methode »cui bono/cui prodest« (lat.: gut für wen?/wem nützt’s) – beim Expertentum vermuten.

Deren unerfüllte Begehrlichkeiten nach Ruhm und Reichtum in Verbindung mit Kreativität und »Insider­informationen« – es handelt sich in der Regel höchstens um Fanatiker, keineswegs um Idioten – bildet eine ständig sprudelnde Quelle neuer (potentieller) Gefahren. Wenn man sich schon nicht vor dem fürchtet, was tatsächlich beweisbar ist, so doch noch besser vor dem, was sein könnte [z. B. 8], bzw. nicht ausgeschlossen werden kann, worüber noch zu wenige Daten vorliegen, was möglicherweise eintreten wird, oder was ganz sicher in einer Zeit, die keiner der Anwesenden je erleben wird, passiert. [4] Solche Szenarien werden dann per Pressemitteilung an den Boulevard weitergegeben.

Besonders diejenigen Journalisten, die die Pressekonferenz verpasst haben oder schlichtweg nicht verstehen konnten, worum es geht (häufig!), neigen dazu, dann noch eins draufzusetzen. Der isolierte, spinnende Außenseiter wird plötzlich zum »… führenden Wissenschaftler …«, besser noch zum »… führenden internationalen Wissenschaftler …«, jedenfalls aber zum anerkannten Vertreter des Mainstream. Junktime fallen weg – manchmal erst in der Redaktion. Substanzlose Spekulationen werden zu gesicherten Fakten – schließlich will man die Leser/Seher möglichst nicht durch selbständiges Denken überfordern. Außerdem ist Platz kostbar – die Werbung muss schließlich auch noch reinpassen.

Beim nächsten Interviewtermin wird dann der nächstpassende öffentliche Mandatsträger ganz sicher gefragt, was er denn von der aktuellen Bedrohungslage halte und welche Maßnahmen er denn … Ebenso sicher wird dieser Mandatar dann irgendeinen Aktionsplan ankündigen, denn zuzugeben, er wäre uninformiert oder ein Scheinproblemchen hysterischer Spinner wäre ihm egal, käme politischem Suizid gleich.

… Und schon ist ein neuer Wolf auf die bebende Bevölkerung losgelassen!

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9783904123433
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