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Über das Tao Te King

Wir haben uns dazu entschlossen, das Tao Te King, einen antiken chinesischen Text, der etwa vor 2500 Jahren geschrieben worden ist, als Quelle der Inspiration für dieses Buch zu benutzen. Der Text wird in der Überlieferung Lao Tse zugeschrieben, einem Weisen, der von etwa 551 bis 479 v. Chr. gelebt haben soll. Doch die meisten Gelehrten meinen, dass er in Wirklichkeit eine Sammlung von Sprüchen aus der Überlieferung aus einer Vielzahl von Quellen ist. Der Text wurde vermutlich zwischen dem siebten und zweiten Jahrhundert v. Chr. verfasst.

Jonathan Star zufolge können wir die Bedeutung des Titels Tao Te King folgendermaßen verstehen:

Tao ist die höchste Wirklichkeit, das alles durchdringende Substrat; es ist das ganze Universum und die Art und Weise, wie das Universum wirkt. Te ist die Gestalt und Macht von Tao; es ist die Art und Weise, wie sich das Tao zeigt; es ist das Tao, das sich in einer Form oder Kraft konkretisiert. Tao ist die transzendente Wirklichkeit; Te ist die immanente Wirklichkeit. King meint ein Buch oder ein klassisches Werk. Also meint Tao Te King wörtlich „Das klassische Buch der höchsten Wirklichkeit (Tao) und seiner vollkommenen Erscheinung (Te)“, „Das Buch des Weges und seiner Kraft“, „Das klassische Buch von Tao und seiner (moralischen) Kraft“. (2001, 2)

Nach der Bibel ist das Tao Te King der am stärksten verbreitete Text der Welt. Es gibt unzählige Übersetzungen davon, einige eher wissenschaftliche und am Wortsinn orientierte, andere eher poetische. Das alte Chinesisch ist eine Begriffssprache. Deshalb ruft jedes Wort des Textes tatsächlich eine Menge Bilder ins Bewusstsein, die in vielfacher Weise übersetzt werden können. Deshalb gelingt es keiner Übersetzung, den gesamten Atem oder die Tiefe des Textes ganz zu erfassen. In gewissem Sinne ist jede Übersetzung eines solchen Textes eine Art der Interpretation, und keine liefert und das vollständige Bild dessen, was darin ausgesagt wird.

Da wir keinerlei Art von akademischer Abhandlung über den Text verfassen wollen, haben wir uns dazu entschlossen, auf eine Vielfalt von Übersetzungen zurückzugreifen; die meisten davon sind eher poetischer Natur. Diese fügten wir zu einer Version zusammen, die gut zu dem Kapitel passt, dem ein bestimmter Textabschnitt als Einleitung dient. Hierfür haben wir die Übersetzungen von Mitchell (1988), Muller (1997) sowie Feng und English (1972) benutzt und dabei die hervorragende wörtliche Übersetzung von Jonathan Star in Gemeinschaft mit C. J. Ming als allgemeinen Leitfaden herangezogen.1

1 Aufgrund dieser Vorgehensweise der Autoren hat der Übersetzer die Passagen aus dem Tao Te King aus dem Englischen rückübersetzt, dabei aber von den zahlreichen deutschen Ausgaben herangezogen: Laotse 1978 und Lao-Tse 1995; d. Übers.

Prolog

Es gab etwas, gestaltlos und vollkommen,

chaotisch und vollendet zugleich.

Es war da, noch vor Himmel und Erde.

Still, endlos, leer und einsam,

alles durchdringend, stets in Bewegung,

alles in seinem Dasein haltend, und dennoch nie erschöpft.

Es ist die Mutter des Kosmos.

Da ich keinen besseren Namen weiß,

nenne ich es das Tao.

Es fließt durch alle Dinge hindurch,

innen und außen,

und kehrt zurück zur Quelle von allem …

Die Menschen folgen der Erde.

Der Himmel folgt dem Tao.

Das Tao folgt allein sich selbst.

(Tao Te King § 25)

Das Tao der Befreiung ist ein Streben nach Weisheit, jener Weisheit, die wir brauchen, um tiefgreifende Veränderungen in unserer Welt zustande zu bringen. Wir haben uns dazu entschlossen, diese Weisheit mithilfe des alten chinesischen Wortes Tao zu beschreiben. Es bedeutet einen Weg oder Pfad, der zur Harmonie, zum Frieden und zu rechter Beziehung hinführt. Das Tao kann als ein Ordnungsprinzip verstanden werden, das die allem gemeinsame Grundlage des Kosmos bildet. Es ist sowohl die Art und Weise, wie das Universum funktioniert, als auch die fließende kosmische Struktur, die nicht beschrieben, sondern lediglich verkostet werden kann.2 Das Tao ist die Weisheit im Herzen des Universums selbst, das seinen Sinn und seine Zielrichtung in sich birgt.

Wir benutzen das Bild des Tao und die Texte des alten Tao Te King, doch dieses Buch handelt dennoch nicht vom Taoismus als solchem. Der Gedanke, auf den wir mit der Benutzung des Wortes Tao verweisen, geht in gewissem Sinne über jede existierende Philosophie oder Religion hinaus. Ähnliche Gedanken finden sich auch in anderen Traditionen. So bedeutet zum Beispiel das Dharma im Buddhismus „die Art und Weise, wie Dinge funktionieren“ oder „sich in geordneter Weise selbst entfalten“ (Macy 1991 a, XI). In ähnlicher Weise bedeutet das von Jesus benutzte aramäische Wort, das üblicherweise mit „Königreich“ oder „Reich“ übersetzt wird – malkuta – „die leitenden Prinzipien, die unser Leben zur Einheit hinführen“, und es evoziert „das Bild eines ‚fruchtbaren Arms‘, der sich zur Schöpfung anschickt, oder einer Sprungfeder, die bereit ist, das gesamte grünende Potenzial der Erde freizusetzen“ (Douglas-Klotz 1990, 20). Sowohl Dharma als auch Malkuta bringen dies auf unterschiedliche Art auf den Begriff, doch für die Absicht dieses Buches können wir sie in dem Sinne auffassen, dass sie auf dieselbe Wirklichkeit verweisen wie das Tao – eine Realität, die sich letztlich einer prägnanten und kurzen Beschreibung entzieht, sondern nur auf einer tieferen Ebene intuitiv erfasst werden kann.

Das chinesische Zeichen für das Tao vereint die Begriffe für Weisheit und für das Gehen miteinander und beschwört so das Bild eines Prozesses herauf, der Weisheit in das Handeln, oder mit anderen Worten in eine Form von Praxis umsetzt. Im „Tao der Befreiung“ suchen wir nach dieser Art von „voranschreitender Weisheit“, wie sie dem Gefüge des Kosmos selbst innerlich ist.

Auf der Suche nach dieser Weisheit ziehen wir Einsichten und Erkenntnisse aus so unterschiedlichen Gebieten wie Wirtschafswissenschaften, Psychologie, Kosmologie, Ökologie und Spiritualität heran. In gewissem Sinne bleibt es dennoch unmöglich, die Gestalt des Tao der Befreiung vollständig zu entwerfen. Das Tao ist eine Kunst, keine exakte Wissenschaft. In einem sehr realen Sinne ist das Tao ein Geheimnis. Wir können Wegweiser anbieten, doch wir können keine detaillierte Landkarte zeichnen.

Wir suchen nach Weisheit in der Hoffnung, Einsichten zu finden, welche die Menschheit in die Lage versetzen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gewohnheiten und Systeme hinter sich zu lassen, welche Ungerechtigkeit und die Zerstörung der Fähigkeit unseres Planeten, auf Dauer Leben zu beherbergen, fortschreiben. Wir hoffen dabei neue Lebensweisen zu finden, die es möglich machen, die Bedürfnisse aller Menschen mit den Bedürfnissen und dem Wohlbefinden der umfassenderen planetarischen Gemeinschaft und auch des Kosmos selbst in Einklang zu bringen.

Wir benutzen das Wort Befreiung für diesen Prozess der Veränderung. Bis jetzt wurde dieser Begriff entweder im personalen Sinne der spirituellen Verwirklichung oder im kollektiven Sinne für ein Volk benutzt, das sich aus unterdrückerischen politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Strukturen befreit. Bei unserer Verwendung dieses Begriffs sind beide Dimensionen mit einbezogen, aber gleichzeitig in einen weiteren ökologischen, ja sogar kosmologischen Kontext gestellt. Für uns ist Befreiung der Prozess in Richtung einer Welt, in der alle Menschen in Würde und in Harmonie mit der umfassenderen Gemeinschaft der Daseinsformen leben können, die Gaia, die lebendige Erde, bilden. Befreiung meint von daher, den schrecklichen Schaden wiedergutzumachen, den wir einander und der Erde zugefügt haben. Auf einer tieferen Ebene erkennt Befreiung die Fähigkeit der Menschen als schöpferische, das Leben fördernde Beteiligte an der weitergehenden Entwicklung Gaias.

Wir können Befreiung sogar innerhalb einer kosmischen Perspektive als den Prozess auffassen, im Verlauf dessen das Universum sein Potenzial zu verwirklichen versucht, indem es nach einem je höheren Grad an Ausdifferenzierung, Verinnerlichung (Interiorisation oder Selbstorganisation) und Gemeinschaft strebt. Innerhalb eines solchen Kontextes werden Menschen und Gesellschaften in dem Maße befreit, in dem sie:

 – vielfältiger und komplexer werden und die Unterschiede wahrhaftig respektieren und freudig begrüßen;

 – den Aspekt der Innerlichkeit und des Bewusstseins vertiefen, indem sie kreative Prozesse der Selbstorganisation stärken und

 – die Bande der Gemeinschaft und der Verwiesenheit aufeinander stärken, einschließlich ihrer Verbundenheit mit der umfassenderen planetarischen Gemeinschaft des Lebens.

Dieses Buch setzt mit der Frage ein: Wie geschieht Veränderung? Oder vielleicht etwas genauer: Warum ist es so schwierig, die Veränderungen auf den Weg zu bringen, die wir so dringend brauchen, um Gaia, die lebendige Gemeinschaft der Erde, deren Teil wir sind, zu retten? Ein wesentlicher Beitrag dieses Buches mag im Kontext bestehen, in den diese Frage eingeordnet wird. Hoffentlich kann unser Text als ein Ausgangspunkt für andere dienen, die nach neuen, schöpferischen Zugängen zu befreiender Veränderung suchen.

Was wir geschrieben haben, stellt den Zusammenfluss der Denkströme zweier Autoren dar. Einer davon kommt aus dem Süden, der andere aus dem Norden.3 Leonardo Boff ist wahrscheinlich vielen unserer Leser gut bekannt. Als Theologe hat er über Fragen der Befreiung und der Ökologie gründlich nachgedacht und darüber mehr als hundert Bücher publiziert. Viele Jahre lang hat er in seinem Heimatland Brasilien sowie in anderen lateinamerikanischen und europäischen Ländern Theologie gelehrt. Im Jahr 2001 hat er auch den Right Livelihood Award (auch als „alternativer Nobelpreis“ bekannt; d. Übers.) verliehen bekommen.

Mark Hathaway hat in den letzten zwanzig Jahren in der Erwachsenenbildung gearbeitet und sich dabei für die Themen Gerechtigkeit und Ökologie engagiert. Acht Jahre davon waren der Arbeit als Volkserzieher und Pastoralreferent in einer armen Nachbarschaftsgemeinschaft in Chiclayo, einer Stadt an der Nordküste Perus, gewidmet. Im Lauf der Jahre hat er Mathematik, Physik, Theologie, Schöpfungsspiritualität und Erwachsenenbildung studiert und in katholischen, ökumenischen und interreligiösen Initiativen für Gerechtigkeit und Ökologie gearbeitet. Zurzeit lebt er in Kanada, seinem Heimatland, wo er als Koordinator des Südamerika-Programms der Vereinigten Kirche Kanadas und als freischaffender „Ökologe“ arbeitet, der über die Zusammenhänge zwischen Ökologie, Wirtschaft, Kosmologie und Spiritualität forscht und schreibt.

Das ursprüngliche Herzstück dieses Buches bildete eine Abhandlung, die Mark für die Erlangung seines Magistertitels aus Erwachsenenbildung schrieb. Sie trug den Titel: „Verändernde Erziehung“. Während Leonardos Besuch in Toronto im Jahr 1996 bot sich für die beiden die Gelegenheit zur persönlichen Begegnung. Nachdem Leonardo die Abhandlung gelesen hatte, schlug er vor, in Zusammenarbeit ein Buch zu verfassen, das auch die lateinamerikanischen Perspektiven mit einbeziehe. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis dieser gemeinsamen Anstrengung.

Zwei zentrale Bezugspunkte des Textes sind die vorrangige Option für die Armen und die vorrangige Option für die Erde. Wir betrachten diese beiden Optionen als grundlegend miteinander verknüpft: Dieselben Kräfte und Ideologien, die die Armen ausbeuten und ausgrenzen, zerstören auch die gesamte Lebensgemeinschaft auf der Erde. In diesem Buch gehen wir den Beziehungen zwischen den verschiedenen Faktoren nach, die eine echte Veränderung behindern. Gleichzeitig bemühen wir uns um ein besseres Verständnis dessen, wie sich Veränderung in der Welt auf natürliche Weise vollzieht. Zusammengenommen können diese Einsichten als Leitfaden für diejenigen dienen, die um lebenfördernde Veränderungen kämpfen.

Wir haben uns von einem breiten Spektrum von Perspektiven und Einsichten inspirieren lassen. Diese stammen von vielen unterschiedlichen Personen und spirituellen Traditionen, und wir empfinden all denen gegenüber große Dankbarkeit, die ihre Weisheit mit uns geteilt haben. Wir hoffen, dass diese Fäden im Verlauf des Schreibens zu einem Wandteppich zusammengeknüpft werden, der klar und voller lebendiger Farben zugleich ist. In vieler Hinsicht stellt dieses Unterfangen eine Herausforderung dar. Wir haben uns eher für die Weite der Vision und nicht so sehr für eine engere und gründlichere Analyse der einzelnen Teile entschieden. Damit hoffen wir, den Lesern Dimensionen zu erschließen, die sie selber tiefer erkunden können.

Die Art und Weise, wie der Text zustande kam, möchten wir mit dem Bild der Spirale zum Ausdruck bringen. Zeitweise wird es ohne Zweifel so scheinen, als ob dieselben Themen wieder aufgegriffen würden, doch von einer anderen Perspektive aus. Wenn wir dem Weg der Spirale tiefer folgen, werden es uns diese unterschiedlichen Perspektiven ermöglichen, das Ganze zu erfassen, das größer ist als die Summe seiner Teile, das gewebte Bild, das sich nur zeigt, wenn wir einen Schritt zurücktreten und von einer Analyse einzelner Fäden aus der Nähe Abstand nehmen. Wir hoffen, dass sie dabei das Strömen und die Textur des Tao der Befreiung auf einer tiefen Ebene der Intuition erspüren werden, wo seine geheimnisvolle Weisheit ihr Handeln im Kampf für die Erneuerung der Welt leiten möge.

2 Die Definition des Tao beziehen wir von Dreher 1990; Heider 1986; Feng und English 1989 sowie Star 2001.

3 Im Verlauf dieses Buches werden wir oftmals den Ausdruck „Norden“ (oder der „globale Norden“) benutzen, um damit die überentwickelten Gesellschaften mit einem hohen Konsumniveau anzusprechen, die vorwiegend im Norden zu finden sind, und „Süden“ (bzw. „globaler Süden“) meint dann entsprechend die armgemachten Gesellschaften, wie sie vorwiegend im Süden zu finden sind, besonders in den tropischen und subtropischen Breiten des Globus.

1. In einer Zeit der Krise nach Weisheit streben

Wenn die Besten unter denen,

die nach Weisheit streben, vom Tao hören,

dann geben sie sich sofort Mühe, es zu verwirklichen.

Wenn durchschnittliche Weisheitssucher vom Tao hören,

dann folgen sie ihm zuweilen, und zuweilen vergessen sie es wieder.

Wenn Weisheitssucher ohne Verstand vom Tao hören,

dann lachen sie lauthals.

Lachten sie nicht,

dann wäre es nicht das Tao.

Darum heißt es:

Der Weg im Licht erscheint dunkel,

der Pfad, der nach vorn führt, scheint rückwärts zu laufen,

der gerade Weg scheint krumm zu sein,

die größte Kraft erscheint schwach,

die echteste Reinheit scheint beschmutzt,

wahrer Überfluss scheint nicht genug zu sein,

auf echte Standhaftigkeit scheint kein Verlass zu sein.

Der weiteste Raum kann nicht ausgefüllt werden,

das größte Talent braucht lange, um zu reifen,

der höchste Ton ist schwer zu hören,

die vollkommene Gestalt kann nicht leibhaftig werden.

Das Tao ist nirgends zu finden.

Und doch ernährt es alle Dinge und führt sie ihrer Erfüllung zu.

(Tao Te King § 41)

Heute stehen wir wahrscheinlich vor der wichtigsten Entscheidung in der Geschichte der Menschheit und wahrhaftig auch der Erde selbst. Die sich gegenseitig verstärkenden Entwicklungen einer wachsenden Armut und einer sich beschleunigenden Verschlechterung der ökologischen Bedingungen verursachen einen heftigen Strudel der Verzweiflung und Zerstörung, aus dem zu entrinnen zunehmend schwerer wird. Wenn es uns nicht gelingt, energisch, rasch und weise genug zu handeln, dann werden wir uns bald zu einer Zukunft verdammt sehen, in der die Möglichkeiten für ein sinnvolles, hoffnungserfülltes und schönes Leben in starkem Maß dahingeschwunden sind.

Für die Mehrzahl der Menschen, die sich an den Rändern der Weltwirtschaft abmühen, scheint sich das Leben bereits jetzt am Rand des Absturzes zu bewegen. Jedes Jahr nimmt die Kluft zwischen Arm und Reich noch stärker zu. In einer Welt, in der die Illusionen einer Konsumgesellschaft feilgeboten werden, müssen die meisten einen harten Kampf bestehen, nur um das erforderliche Minimum zum Überleben zu bekommen. Der Traum von einem einfachen, aber dennoch würdevollen Leben bleibt dauerhaft kaum erreichbar. Für viele wird das Leben Jahr für Jahr schwieriger.

Die anderen Lebewesen, die diesen Planeten mit der Menschheit teilen, machen sogar noch eine schwerere Krise durch. Da sich die Menschen einen immer größeren Teil der Gaben der Erde angeeignet haben, bleibt für andere Lebensformen immer weniger übrig. Da wir die Luft, das Wasser und das Land mit Chemikalien und Abfall verpesten, wird das komplexe System, welches das Gewebe des Lebens aufrecht erhält, zunehmend unterminiert. Viele Arten verschwinden für immer. Unser Planet erlebt in der Tat eine der größten Massenvernichtungen aller Zeiten.

Natürlich gibt es Zeichen der Hoffnung. Unzählige einzelne Personen und Organisationen setzen sich mit Fantasie und Mut für eine Veränderung ein. Einige haben Bewegungen ins Leben gerufen, die heute weltweit aktiv sind. Ihre Anstrengungen bewirken sehr konkrete Veränderungen auf lokaler Ebene in der ganzen Welt. Gleichzeitig ermöglichen neue Kommunikationsmittel den Dialog zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen. Die Möglichkeiten, Weisheit und Erkenntnisse miteinander auszutauschen, sind deshalb wahrscheinlich größer als jemals zuvor. Viele Menschen haben ein stärker ausgeprägtes Bewusstsein von ihren grundlegenden Rechten und verteidigen diese aktiver. Auf Gebieten wie Gesundheitsvorsorge und Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wurden echte Fortschritte erzielt. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein hinsichtlich der ökologischen Problematik, und viele Gemeinden bemühen sich, in Harmonie mit der Natur und nicht gegen sie zu arbeiten. All diese Trends eröffnen neue Möglichkeiten für die Erneuerung der Welt.

Doch das sind bloß kleine Lichtblicke inmitten der Dunkelheit. Immer noch gibt es wenige Anzeichen für ein effektives, abgestimmtes Handeln in einer solchen Größenordnung, dass es in der Lage wäre, die zunehmende Armut und den ökologischen Niedergang tatsächlich zu stoppen oder gar einen Prozess in Gang zu setzen, um die Gemeinschaft des Planeten wieder gesunden zu lassen. Institutionen auf Weltebene, insbesondere Regierungen und Konzerne, beziehen in ihr Handeln die dringende Notwendigkeit nach wie vor nicht ein, die Art und Weise, wie wir in dieser Welt leben, von Grund auf zu ändern. Im Gegenteil: Die Grundideen, Motive, Gewohnheiten und politischen Strategien, die so viel Verwüstung und Ungerechtigkeit verursacht haben, beherrschen nach wie vor unser politisches und ökonomisches System. Michail Gorbatschow stellte im Jahr 2001 fest:

„Obwohl es eine wachsende Zahl von mutigen Initiativen von Verantwortlichen in Regierungen und Unternehmen gibt, die Umwelt zu schützen, sehe ich nicht, dass eine politische Führung und der Wille entstehen, Risiken in der Größenordnung einzugehen, die notwendig wäre, um der gegenwärtige Situation gerecht zu werden. Obwohl es eine wachsende Zahl von Menschen und Organisationen gibt, die sich der Bewusstseinsbildung widmen und Änderungen in der Art und Weise, wie wir die Natur behandeln, herbeiführen wollen, erkenne ich immer noch keine klare Vision und keine gemeinsam abgestimmte Vorgehensweise, die die Menschheit rechtzeitig zu einer Kurskorrektur inspirieren könnten.“ (Gorbachev 2001,4)

Joanna Macy und Molly Brown (1998) bezeichnen die zentrale Herausforderung unserer Zeit, nämlich den Wechsel von industriellem Wachstum hin zu einer lebenerhaltenden Zivilisation, als die „Große Wende“. Leider haben wir keine Gewähr dafür, dass wir diese wesentliche Veränderung rechtzeitig hinbekommen, um die Auflösung des sorgfältig geknüpften Netzes zu verhindern, welches das komplexe Leben trägt und erhält. Sollten wir uns als unfähig erweisen, eine solche Veränderung zu bewerkstelligen, dann nicht, weil es an der entsprechenden Technik, an genügend Information oder etwa an schöpferischen Alternativen mangelt, sondern vielmehr, weil es an politischem Willen fehlt und weil die uns drohenden Gefahren so schwer zu ertragen sind, dass sie viele von uns aus Angst schlicht aus ihrem Bewusstsein verbannen.

Wir sind dennoch fest davon überzeugt, dass der gegenwärtige Kreislauf von Verzweiflung und Zerstörung durchbrochen werden kann, dass wir immer noch die Chance haben, effektiv zu handeln und den Kurs zu ändern. Es ist noch Zeit, die Große Wende einzuleiten und unseren Planeten zu heilen. In diesem Buch suchen wir nach einem Weg zur Veränderung, zu einem Wandel, der uns zu einer neuen Weise, in der Welt zu sein, herausfordert – einer Weise des In-der-Welt-Seins, die gerechte und harmonische Beziehungen innerhalb der menschlichen Gesellschaft und innerhalb der größeren planetarischen Gemeinschaft umfasst. Wir suchen nach einer Weisheit – dem Tao ‒, das uns zu einer ganzheitlichen Befreiung hinführt.

Wir sind davon überzeugt, dass die Kraft für diese Veränderungen bereits unter uns vorhanden ist. Sie ist als Keim bereits im menschlichen Geist da. Sie ist im Evolutionsprozess Gaias, unserer lebendigen Erde, am Werk. Sie ist in Wahrheit bereits in den Stoff des Kosmos selbst hineingewoben, in das Tao eingelassen, das durch alles und in allem fließt. Wenn es uns gelingt, einen Weg zu finden, uns auf das Tao einzustellen und uns mit seiner Energie zu verbinden, dann werden wir den Schlüssel für wahrhaft revolutionäre Veränderungen finden, die zu einer echten Befreiung hinführen. Doch das Tao ist keineswegs etwas, dessen wir uns bemächtigen und das wir kontrollieren könnten. Wir müssen es vielmehr zulassen, dass es durch uns wirkt, indem wir uns seiner verändernden Energie öffnen, damit die Erde geheilt werden kann. Mit den Worten von Thomas Berry ausgedrückt:

„Die dynamischen Kräfte, die wir brauchen, um die Zukunft zu gestalten, fehlen uns nicht. Wir schwimmen, über alle Vorstellbarkeit hinaus, in einem Meer von Energie – aber diese Energie wird zur unsrigen letztlich nicht durch Beherrschung, sondern durch Anrufung.“ (2011, 175)

Bevor wir diese Aufgabe in Angriff nehmen, müssen wir die sehr konkreten Hindernisse verstehen, die einer befreienden Veränderung im Weg stehen. Vielleicht ist der erste Schritt in Richtung Weisheit einfach der, dass wir die Notwendigkeit der Veränderung einsehen. Viele von uns wissen die Größe und Schwere der Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, noch nicht angemessen einzuschätzen. Zu einem großen Teil rührt dies daher, dass unsere Wahrnehmung der Realität so deformiert ist, dass sie das verbirgt, was ansonsten offen zutage läge. Wir tendieren dazu, die Welt aus einem sehr eingeschränkten Blickwinkel heraus zu betrachten, sowohl was die Zeit, als auch was den Raum betrifft. Wir blicken selten über unsere unmittelbare Vergangenheit oder Zukunft bzw. über unsere eigene Gemeinde oder Region hinaus.

Teilweise rührt diese verkürzte Sichtweise auch daher, dass viele der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, nur allmählich schlimmer werden, vor allem im Vergleich zu unserer relativ kurzen eigenen Lebensspanne. Wir tendieren dazu, uns sehr schnell an neue Realitäten zu gewöhnen – wenigsten in einem oberflächlichen Sinn ‒, und deshalb erkennen wir den Ernst der Krisen nicht, die uns bevorstehen. Ein einleuchtendes Beispiel dafür ist ein Frosch, der steigenden Temperaturen ausgesetzt wird: Wenn man einen Frosch in kochendes Wasser wirft, dann wird er sofort zu entkommen versuchen. Wenn man ihn hingegen in kaltes Wasser setzt und dieses langsam erhitzt, dann wird er die Gefahr erst bemerken, wenn es bereits zu spät ist, und er wird an der Hitze zugrunde gehen.

Die Krise der Erde: Eine kosmische Perspektive

Um die Schwere der Krise zu ermessen, mit der wir konfrontiert sind, wollen wir deshalb einen Schritt zurücktreten, von unserer alltäglichen Wahrnehmung für einige Augenblicke der Wirklichkeit Abstand gewinnen und eine eher „kosmische“ Perspektive einnehmen. Stellen wir uns vor, dass die gesamte, 15 Milliarden Jahre lange Geschichte des Kosmos auf ein einziges Jahrhundert verdichtet wird.4 Mit anderen Worten: Jedes „kosmische Jahr“ entspricht 150 Millionen irdischen Jahren.5

So gesehen entstand die Erde im siebzigsten Jahr des kosmischen Jahrhunderts, und überraschend bald danach entstand in ihren Ozeanen das Leben, nämlich im Jahr 73. Fast zwei kosmische Jahrzehnte lang beschränkte sich das Leben weitgehend auf einzellige Bakterien. Doch diese Organismen tragen viel zum Wandel des Planeten bei, indem sie seine Atmosphäre, seine Ozeane und seine geologischen Verhältnisse so radikal verändern, dass diese komplexere Lebensformen dauerhaft erhalten können.

Im Jahr 93 beginnt eine neue Phase der Kreativität sowohl durch die Entstehung der sexuellen Fortpflanzung als auch durch den Tod der einzelnen Exemplare. In diesem neuen Stadium beschleunigt sich der Evolutionsprozess rasant. Zwei Jahre später, also im Jahr 95, tauchen die ersten mehrzelligen Organismen auf. Das erste Nervensystem entwickelt sich im Jahr 96 und die ersten Wirbeltiere nicht einmal ein Jahr später. Säugetiere tauchen zur Mitte des Jahres 98 auf, zwei Monate nach dem ersten Auftreten der Dinosaurier und der ersten Blütenpflanzen.

Vor fünf Monaten schlug ein Asteroid auf der Erde ein und zerstörte viele Lebensarten, darunter die Dinosaurier. Doch der Planet erholte sich innerhalb kurzer Zeit und übertrifft nun tatsächlich noch seine vergangene Schönheit. Diese Epoche – das Känozoikum – weist eine überbordende Fülle und Vielfalt des Lebens auf, wie es sie noch nie zuvor gegeben hat.

In diesem atemberaubend schönen Zeitalter entstehen Menschen. Vor zwölf Tagen begannen unsere ersten Vorfahren, aufrecht zu gehen. Sechs Tage danach fängt der Homo habilis an, Werkzeuge zu benutzen, und gestern zähmte der Homo erectus das Feuer. Die modernen Menschen von der Spezies des Homo sapiens sind vor zwölf Stunden geboren worden.

Den Großteil des Nachmittags und Abends dieses kosmischen Tages lebten wir in Einklang mit der Natur, waren mit ihren Rhythmen und Gefahren vertraut. Unser Dasein hatte tatsächlich wenig Einfluss auf die größere Gemeinschaft des Lebens – bis wir vor vier Minuten mit der Erfindung des Ackerbaus das erste Mal Pflanzen kultivierten und Tiere züchteten. Das Ausmaß unserer Eingriffe nahm immer stärker zu, wenn auch langsam, bis dann vor zwanzig Minuten einige von uns damit begannen, Städte zu bauen und in ihnen zu wohnen. Gerade mal vor zwei Minuten wurde der Einfluss der Menschheit auf die Ökosysteme um ein Vielfaches größer, als Europa sich zu einer Technologiegesellschaft zu entwickeln begann und seine eigene Macht durch koloniale Ausbeutung ausdehnte. Genau in dieser Zeit begann auch die Kluft zwischen Arm und Reich schnell zu wachsen.

In den letzten zwölf Sekunden (seit 1950) hat sich der Rhythmus von Ausbeutung und ökologischer Zerstörung dramatisch beschleunigt. In diesem kurzen Augenblick vollzog sich all dies:6

 – Wir haben fast die Hälfte aller größeren Wälder der Erde, der grünen Lunge unseres Planeten, zerstört. Viele der wichtigsten und größten Waldgebiete – darunter die großen borealen Wälder, die Regenwälder in gemäßigten Zonen und die tropischen Regenwälder – unterliegen immer noch einem Prozess beschleunigter Zerstörung. Jedes Jahr wird eine Waldfläche, die größer ist als Bangla Desh, abgeholzt.

 – Wir haben riesige Mengen Kohlendioxid und andere Treibhausgase in die Atmosphäre freigesetzt, was einen gefährlichen Kreislauf globaler Erwärmung und Instabilität des Klimas in Gang setzte. Die weltweite Temperatur hat im Durchschnitt bereits um 0,5 Grad Celsius zugenommen und könnte im Verlauf der nächsten zwanzig kosmischen Sekunden um zwischen 2 und 5 Grad Celsius ansteigen.7

 – Wir haben in der Ozonschicht, der schützenden Haut unseres Planeten, die die schädliche UV-Strahlung herausfiltert, ein gigantisches Loch verursacht. In der Folge hat die UV-Strahlung Rekordwerte erreicht und bedroht die Gesundheit vieler lebender Organismen.

 – Wir haben die Fruchtbarkeit der Böden und ihrer Fähigkeit, Pflanzen zu ernähren, ernsthaft gefährdet. 65 % des einst bebaubaren Landes sind inzwischen bereits verloren gegangen, davon etwa die Hälfte in den letzten neun kosmischen Sekunden, und weitere 15 % der Landoberfläche des Planeten werden zur Wüste. Während der letzten fünf kosmischen Sekunden hat die Erde eine solche Menge an Boden verloren, wie sie der kultivierten Fläche von Frankreich und China zusammengenommen entspricht. Zwei Drittel aller Ackerflächen wurden durch Erosion und Versalzung mäßig bis schwer geschädigt.

 – Wir haben Zehntausende von neuen chemischen Stoffen in die Luft, den Boden und das Wasser des Planeten eingebracht. Bei vielen von ihnen handelt es sich um langlebige giftige Substanzen, die die Lebensprozesse schleichend vergiften.

 – Wir haben tödlichen nuklearen Abfall erzeugt, der über Hunderttausende von Jahren hindurch in gefährlicher Weise radioaktiv sein wird. Das ist eine Zeitspanne, die weitaus länger ist als diese zwölf kosmischen Stunden, in denen der moderne Mensch existiert.

 – Wir haben Hunderttausende von Pflanzen- und Tierarten zerstört. Jährlich verschwinden etwa 50.000 Arten, und die meisten davon aufgrund von menschengemachten Ursachen. Man schätzt, dass die Rate des Aussterbens zehntausendmal größer ist als vor dem Auftauchen des Menschen auf dem Planeten. Und man nimmt an, dass wir derzeit die größte Massenvernichtung der Erdgeschichte durchmachen. Wissenschaftler sagen voraus, dass 20 bis 50 % aller Arten im Verlauf der nächsten dreißig Jahre (das entspricht sieben kosmischen Sekunden) verschwunden sein werden, wenn die derzeitigen Trends anhalten.

 – Die Menschen verbrauchen bzw. verschwenden zurzeit 40 % aller Energie, die für alle auf dem Land lebenden Lebewesen auf der Erde zur Verfügung steht (dies wird als die Nettoprimärproduktion, NPP, des Planeten bezeichnet). Und wenn wir fortfahren wie bisher, werden wir innerhalb der nächsten acht kosmischen Sekunden (das sind fünfunddreißig irdische Jahre) 80 % in Anspruch nehmen und nur 20 % allen anderen Lebewesen übriglassen.

So viel Zerstörung in so kurzer Zeit! Und wofür? Die „Wohltaten“ dieses Prozesses kamen nur einem sehr kleinen Teil der Menschheit zugute: Die reichsten 20 % der Weltbevölkerung verdienen zurzeit etwa zweihundertmal mehr als die ärmsten 20 %.8 Zu Beginn des Jahres 2009 hatten die 793 Milliardäre der Welt zusammen ein Nettovermögen im Wert von 2,4 Billionen US-Dollar (Pitts 2009) – das ist mehr als das jährliche Einkommen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung zusammen. (Zu Beginn des Jahres 2008, bevor die gegenwärtige Wirtschaftskrise einsetzte, gab es 1195 Milliardäre mit einem Gesamtvermögen von 4,4 Billionen US-Dollar; das ist etwa doppelt so viel, wie die ärmsten 50 % im Jahr verdienen!) Und wenn man die Einkommen vergleicht, dann erhält das eine Prozent der Reichsten so viel wie die 57 % der ärmeren Weltbevölkerung.9

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