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Der linke Blinker des Mercury Cougar leuchtete auf. David bog in die Einfahrt des trüben Einfamilienhauses ein und parkte sein – ehemals das seines Vaters – Auto vor der geschlossenen Garage. Bevor er ausstieg, warf er einen flüchtigen Blick durch das Fenster des Wohnzimmers. Es war zur Routine geworden, dass er, aus reiner Vorsorge bevor er das Haus betrat, das Wohnzimmer von außen inspizierte. Er war nicht erpicht darauf, seine Mutter ein zweites Mal bei etwas Unschicklichem zu hören, geschweige denn zu sehen. Vielleicht konnte man in seinem Fall ebenfalls von Numbing als Folge ihrer damaligen Seitensprünge sprechen. Das wäre jedoch zu weitgehend, schließlich fühlte er keinen besonderen Schmerz bei der Trennung seiner Eltern. Trae hatte ihn am Abend, als sie sich kennengelernt hatten, gefragt, wie das wäre, von seinen Eltern erzogen zu werden. Diese Frage lag ihm deshalb so auf der Zunge, da er ein Waisenkind war. Seine Mutter starb kurz nach seiner Geburt am Kindbettfieber. Die Sterberate würde bei ungefähr 0,016 % liegen, hatten die Ärzte hinter vorgehaltener Hand gemurmelt und so entschieden, dass es nicht nötig sei, Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu behandeln. Offiziell hatten sie nur gesagt, dass sie gesundheitlich in bester Ordnung wäre und es lediglich eine psychosomatische Reaktion auf den Stress sei. Einen Tag später starb sie. Trotz ihres Studiums und ihrer Erfahrung hatten sie den groben Fehler begangen, die Zahlen so zu legen, dass sie unbehandelte Fälle beschreiben würden. Jedoch starben 16 von 100.000 Personen, wenn sie behandelt wurden. Wieso Traes Mutter nicht behandelt wurde, wurde nie an eine höhere Stelle weitergegeben. Man beschrieb es als „nicht heilbaren, infektiösen Krankheitsausbruch“. Wer sein Vater war, konnte nicht ermittelt werden. Es gab keine namentliche Erwähnung oder irgendeinen Hinweis darauf, wer er sein könnte. Aus diesem Grund wollte Trae natürlich wissen, wie es gewesen wäre, wenn er eine Familie gehabt hätte. David – natürlich im pubertierenden Alter – hatte ihm gesagt, es sei wie Cholera. Man würde heftig darunter leiden, aber man hat nur eine zwei prozentige Chance, dabei draufzugehen. Traes Frage war für ihn wie der berühmt berüchtigte Finger in der Wunde gewesen. Besonders nachdem er seine Mutter bei einer Nummer mit einem gewissen Ray erwischt hatte, der zum einen zwar schicke Anzüge trug, aber zum anderen bei weitem nicht so viel verdiente, da er, wenn überhaupt, ein grade mal mittelmäßiger Immobilienmakler war. Also legte er noch einen drauf und erzählte ihm, dass man außerdem mit Schlägen, Bestrafung und im schlimmsten Fall sogar mit Misshandlung rechnen müsse. Dass er in seinem ganzen Leben noch nie mit Misshandlung in Kontakt gekommen war, verschwieg er aber. Es ging ihm nur darum, seinen Eltern eines auszuwischen. Wenn man älter wird, wäre es dann eher wie die Pest. Die Qualen würden schlimmer werden als vorher und die Chance, dass du draufgehst steigt, hatte David gemeint. Wieso, hatte Trae ihn gefragt. Weil sie denken, dass du mehr aushältst und sie dann weniger vor ihren Taten zurückschrecken, war seine Antwort gewesen.

Da das Wohnzimmer frei von Liebhabern und seiner leicht verführbaren Mutter war, nahm er den Rucksack vom Beifahrersitz und stieg aus dem Auto aus. Die Tür schlug er absichtlich mit großer Wucht zu, da er wusste, dass es seine Mutter besonders ärgerte. Während er den Haustürschlüssel aus seiner Hosentasche kramte, winkte er einem kleinen Mädchen zu, das auf einem Dreirad auf dem Bürgersteig fuhr.

„David!“, quiekte sie vergnügt und stieg so schnell, wie ihre kleinen Beine es zuließen, von ihrem Dreirad ab und lief mit offenen Armen auf ihn zu. Ihre blonden Haare waren zu zwei Zöpfen zusammengebunden, die beim Laufen links und rechts auf- und abhüpften.

„Zoe, meine Kleine“, antwortete er und strahlte sie übers ganze Gesicht an. Endlich jemand, der sich ihm gegenüber nicht merkwürdig verhielt oder wirkte, als ob er was zu Starkes geraucht hätte, auch wenn das bei Trae genau der Fall war. Wenigstens würde sie den Tag nicht schlimmer machen, sondern den Vorhang, der sich – metaphorisch gesehen – vor seinen Gefühlen befand, etwas aufziehen und ihm so etwas Licht in der Dunkelheit schenken. Mit einem Lachen auf den Lippen sprang sie ihm in die weit geöffneten Arme, so dass er seinen Rucksack fallen ließ, als er sie auf den Arm nahm. Sie klammerte sich an ihm fest und drückte ihre Wange fest gegen seine.

„Du hast mir so gefehlt“, erzählte sie ihm mit voller Ernsthaftigkeit.

„Du mir auch, Zoe“, erwiderte er und drückte sie noch fester an sich.

„Du drückst mich ja so platt wie ein Pfannkuchen“, witzelte David und lockerte ein wenig seine Arme, die er um ihren kleinen schmächtigen Oberkörper geschlungen hatte.

„Ich liebe Pfannkuchen!“, quietschte sie vergnügt und begann auf seinem Arm zu hoppeln.

„Ist das so?“ Er setzte einen scherzenden verwunderten Blick auf und musterte sie von oben bis unten. Sie nickte heftig mit dem Kopf. Ihr Lächeln offenbarte ihre Zahnlücke, an deren Stelle sich eigentlich ihr rechter unterer Schneidezahn befinden sollte. Anscheinend hatte sie vor kurzem ihren Milchzahn verloren und erwartete dort nun bald ihren dauerhaft bleibenden „Erwachsenenzahn“, wie ihre Eltern es nannten.

„Was hältst du denn davon, wenn wir reingehen und welche machen?“

„Ja! Mit Erdbeeren und ganz viel Ahornsirup!“, schrie sie glücklich. David musste lachen. Am liebsten würde er von zuhause ausziehen und sich eine Wohnung suchen, wo er sie selbst aufziehen könnte. Würde es sie nicht geben, wäre er schon längst von diesem Ort hier verschwunden. Doch sie hielt ihn hier. Ihr Vater war ein Trinker und ihre Mutter nur selten daheim. Er fühlte sich verantwortlich für sie, denn er war sich sicher, dass sie das hier ohne ihn nicht durchstehen würde. Und er ohne sie auch nicht.

„Zoe“, ermahnte er sie und sah sie erschrocken an.

„Bitte David! Bitte. Dieses eine Mal.“, flehte sie ihn mit großen Augen an.

„Na gut. Aber nur dieses eine Mal! Dann darfst du das aber keinem erzählen“, flüsterte er ihr – immer noch lächelnd - geheimnistuerisch zu.

„Juhu“, jauchzte sie und warf sich nach vorne, um ihn wieder zu umarmen. Sie verharrten einen kurzen Moment so und genossen diesen schönen Augenblick der Ruhe. Dann setzte er sie langsam ab und streichelte über ihre Wange.

„Pass auf“, sagte er und beugte sich zu ihr herunter. Sie nickte mit dem Kopf und zog ihr violett-pink gestreiftes T-Shirt, an dessen Kragen sich ein kleines von Motten gefressenes Loch befand, wieder grade.

„Du fährst jetzt nach Hause und sagst deiner Mom, dass wir zusammen Pfannkuchen machen und uns danach noch einen Film ansehen werden. Um sechs bringe ich dich wieder nach Hause.“

„Sieben!“, erwiderte sie und stampfte mit dem Fuß empört auf dem Boden auf.

„Halb sieben und ein Glas Kool Aid“, bot er ihr an, „Einverstanden?“ Sie war einverstanden und nickte so stark, dass David kurzzeitig Sorge hatte, dass ihr kleiner blasser Kopf mit ihren wunderschön dunkelbraunen Augen von ihrem dünnen Hals kullern würde.

„Schön. Na los. Wenn du dich nicht beeilst, fange ich ohne dich an“, drohte er ihr im Spaß.

„Das ist gemein“, antwortete sie und schaute ihn böse an.

„Ich mach doch nur Spaß, Kleine“, beruhigte er sie und hob unschuldig die Hände.

„Außerdem bin ich nicht klein! Ich bin schon fast neun!“, berichtigte sie ihn und zeigte ihm neun Finger, die sie dann selbst noch einmal überprüfte und vorsichtshalber nachzählte. Er lachte herzlich, während sie angestrengt nachdachte ob nach der Acht nicht doch erst die Zehn kam.

„David?“, rief ihn seine Mutter, die in der offenen Tür stand. Er drehte sich kurz um und stöhnte genervt auf. Ihr graues T-Shirt, welches ihr zwei Nummern zu groß war, flatterte im warmen Sommerwind um ihre Hüften und ließ deutlich erkennen, dass sie, wie so oft, keinen BH darunter trug. Zoe wich ein paar Schritte zurück. Sie hatte Angst vor ihr, weil sie öfter hörte, wie sie David anschrie. Und jemand, der ihren über alles geliebten David anschrie, konnte nur böse sein.

„Na, dann fahr mal los. Ich schau mal, ob alles, was wir brauchen, da ist.“

„Okay, ich beeile mich.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und lief auf ihr leicht rostiges Dreirad zu.

„Bis gleich Zoe, ich hab dich lieb“, rief er ihr hinterher.

„Ich dich auch“, antwortete sie abwesend und setzte sich auf den Sitz ihres kleinen Gefährts. Sie winkten sich ein letztes Mal strahlend zu. Dann verschlang ihn die trübe und graue Einsamkeit des gelb gestrichenen Hauses, in dessen Einfahrt er stand. Einen Moment lang blickte er ihr traurig hinterher und wünschte sich, er wäre mitgekommen.

„David!“, rief seine Mutter ein weiteres Mal nach ihm.

„Ja, ich komme doch!“, brüllte er ihr entgegen. Er rollte mit den Augen, hob seinen Rucksack vom Boden auf und ging gemächlich zur Haustür.

„Wieso hast du so lange gebraucht?“, fragte sie besorgt. Es klang aufrichtig. Offensichtlich versuchte sie immer noch, den Anschluss zu ihm zu finden.

„Das weißt du doch ganz genau“, erwiderte er trocken, ohne ihr in die Augen zu sehen.

„Nein, das weiß ich nicht! Ich hab mir Sorgen gemacht!“

David ging wortlos an seiner Mutter vorbei. Er warf seinen Rucksack unter die Garderobe, an der seine Lederjacke und eine schwarze Fleecejacke von den Sacramento Kings hingen. Er hatte sie schon länger nicht mehr getragen. Um genau zu sein das letzte Mal vor drei Jahren, als er sich auf dem Flur zusammengekauert hatte und hören musste, wie Ray es grade seiner Mutter auf dem Sofa besorgte. Das Nicht-Tragen der Jacke war Teil seines persönlichen Numbings.

„Wo warst du?!“, fragte sie erneut und eilte ihm in die Küche hinterher.

Jedenfalls nicht auf unserem Sofa, um mich durchnehmen zu lassen. Ohne zu antworten, öffnete er den Kühlschrank und holte eine Dose Diät Cola und eine halbvolle Tüte Milch daraus hervor. Er schüttelte die Milchtüte prüfend und stellte sie dann auf den großen dunklen Ebenholztisch, der als Ablagefläche exakt ein Meter und fünfzig Zentimeter von der Küchenzeile entfernt stand. Ihr erster richtiger Partner, nachdem Davids Vater sich von ihr getrennt hatte, Owen Sterling, war Tischler gewesen und hatte ihn ihr zu ihrem 34. Geburtstag geschenkt. Er war ein Perfektionist, weswegen der Tisch auch auf den Millimeter genau in dieser Entfernung zur Küchenzeile stehen musste. Und das war auch der Grund, warum sie es nicht mehr mit ihm ausgehalten hatte. Eines Tages hatte er tatsächlich eingefordert, dass man in einer Beziehung treu bleiben sollte. Trotz seines verletzten Stolzes und seiner perfektionistischen Art hätte er ihr sogar vergeben. Doch sobald er begonnen hatte, sie dafür zur Verantwortung zu ziehen, war sie schon fertig mit ihm gewesen. Er schloss die Kühlschranktür und stellte seine Dose neben die Milchtüte auf den Tisch.

„Warst du wieder mit diesem Süchtigen unterwegs?“, fragte sie ihn traurig und fuhr sich mit der rechten Hand durch ihre mokkabraunen Haare. Ihre rot lackierten Fingernägel bildeten einen schönen Kontrast zu dem dunkleren Braun. Gemeint war Trae. Seit sie letzte Woche gerochen hatte, dass ihr Sohn gekifft hatte, fragte sie ständig nach, ob er mit Trae unterwegs gewesen sei. Das war jedoch auch die einzige mütterliche Besorgtheit, die sie je gezeigt hatte.

„Nein, und selbst wenn, geht dich das nichts an“, beantwortete er ihre Frage und wies ihren Annäherungsversuch erneut zurück.

„Wieso musst du sie immer mit darein ziehen? Wenn du etwas willst, dann sag es mir und nicht ihr. Die Nummer zieht nicht mehr, also lass es ganz einfach!“

„Wovon sprichst du? Mit wem soll ich geredet haben?“

„Mit dem heiligen Geist natürlich“, sagte er und hockte sich auf den Boden, um Mehl, Backpulver und Zucker aus dem Schrank unter der Herdplatte zu holen. Als er keine Antwort erhielt, drehte er den Kopf zur Seite und sah sie über die Schulter hin an. Sie stand mit fragendem Gesicht dort und sah ihn an, als hätte er sich einen tanzenden Affen auf die Stirn tätowieren lassen.

„Ach vergiss es“, sagte er genervt und wandte sich wieder den Zutaten für die Pfannkuchen zu. Die Türklingel läutete.

„Wir unterhalten uns nachher! Noch hast du Zeit, dich für das eben zu entschuldigen!“, warnte sie ihn und ging zur Tür.

„Das kannst du auch vergessen!“, rief er ihr hinterher und erhob sich mit den gefundenen Utensilien wieder vom Boden.

„Ich warne dich David! Ich war immer sehr nachsichtig mit dir, aber langsam reicht es mir! Nimm das nicht auf die leichte Schulter!“ Sie öffnete die Haustür und fand die vom Geschrei verängstigte Zoe dort vor.

„Hey Zoe“, begrüßte Faye sie mit einem strahlenden, falschen Lächeln, das so breit war, dass man meinen könnte, sie wolle einem Breitmaulnashorn Konkurrenz machen.

„Hallo Ms. Williams“, grüßte sie ängstlich zurück und fummelte nervös an ihrem T-Shirtsaum herum.

„Komm ruhig rein, Kleine.“

„Danke.“

„Möchtest du etwas trinken?“, fragte Davids Mutter freundlich, was Zoe mit einem eifrigen Kopfschütteln verneinte. Gefrustet von der Ablehnung des kleinen Mädchens hörte sie auf, ihr Fragen zu stellen oder etwas zu erwidern. Schweigend begab sie sich auf den Weg in ihr Schlafzimmer, welches sich im oberen Stockwerk befand.

„Überleg es dir gut! Verdirb es dir nicht noch mehr mit mir als ohnehin schon!“, zischte sie ihm zornig zu, als sie an der Küche vorbeiging. Zoe stand im Raum und fummelte erneut nervös an dem Saum ihres T-Shirts herum. Die Treppenstufen knarzten laut unter den stampfenden Schritten von Davids wütender Mutter.

„Alles in Ordnung, meine Große. Sie ist weg und schreit niemanden mehr an“, beruhigte er sie und nahm sie in den Arm. Sie umarmte ihn ebenfalls und krallte ihre Finger in seinen Rücken.

„Hört auf, immer zu streiten“, bat sie ihn traurig. Sie wurde jedes Mal furchtbar traurig, wenn sich jemand stritt. Kein Wunder, wenn sie ähnliche Szenarien tagtäglich zuhause zwischen ihren Eltern erleben musste.

„Wieso ist dir das so wichtig?“, fragte David sie und fand die Frage im Nachhinein selbst ziemlich blöd, da er dachte, dass er die Antwort darauf eigentlich schon wusste.

„Weil sie bald ganz sehr tot sein könnte und du dann nicht weißt, wie sehr lieb sie dich eigentlich hat“, antwortete Zoe mit wässrigen Augen. Ihre Antwort war bei weitem nicht das, was David erwartet hatte. Ihre Antwort handelte von Tod und davon, dass sie ihn doch eigentlich lieben würde. Beide Aussagen waren sowohl unerwartet, da er nicht wusste, dass sie über so etwas nachdachte und woher sie wissen wollte, dass sie ihn eigentlich liebte. Zudem verwirrte ihn der häufige Gebrauch des Wortes „sehr“. Es wirkte zwar so, als hätte sie es grade erst gelernt und machte deswegen so regen Gebrauch davon, aber es schien – unabhängig von der brüchigen Grammatik - trotzdem angebracht.

„Da mach dir mal keine Sorgen. So schnell stirbt es sich nicht“, sagte er und begann, ihren Rücken zu streicheln. Auch wenn es ihn interessierte wie sie überhaupt auf diesen Gedanken gekommen war, fragte er sie nicht danach. Es war ihm unangenehm, über mütterliche Liebe, die er in der Form nie erhalten beziehungsweise anerkannt hatte, zu reden. Er merkte wie ihre wässrigen Augen langsam sein T-Shirt benässten, und versuchte, sie daher möglichst schnell wieder auf andere Gedanken zu bringen.

„Hey.“ Er hockte sich hin und hielt ihren Kopf mit beiden Händen fest, „Wollten wir nicht Pfannkuchen machen?“ Anstatt etwas zu sagen, nickte sie wieder nur. Diesmal jedoch nur schwach.

„Wie sieht es aus? Möchtest du ein paar Erdbeeren naschen?“ Dieses Mal hatte seine Frage die gewünschte Wirkung, und ihr Gesicht hellte sich mit einem Mal auf. Sie ließ sich von ihm hochnehmen und neben die Spüle setzen, wo die Schale mit den Erdbeeren schon bereits fertig zum Abspülen stand. Gezielt nahm sie sich die größte Erdbeere heraus, die sie auf die Schnelle gesehen hatte, hielt sie zwei Sekunden unter den kalten Wasserstrahl und biss genüsslich von ihr ab. Als sie mit der ersten fertig war, griff sie sofort nach der zweiten und verspeiste auch die in kürzester Zeit.

„Hey, Hey, Hey“, unterbrach David sie, „Wir brauchen auch noch welche für die Pfannkuchen. Es sei denn, du willst deine Pfannkuchen mit Sardinen essen. Die hätten wir auch noch da.“

„Ihhh“, sagte Zoe, wobei sie das Gesicht verzog, als hätte sie grade in eine Zitrone gebissen. Sie überlegte nicht lange und entschied sich doch für die Erdbeervariante und hörte auf zu naschen.

„Darf ich die Eier und die Milch vermischen?“, fragte Zoe und beugte sich interessiert über den Messbecher, in den David grade die Milch aus der Tüte goss.

7

Der restliche Nachmittag verlief ohne weitere Zwischenfälle. Zoe und David aßen Pfannkuchen mit Erdbeeren und Ahornsirup, während sie sich auf dem Sofa sitzend „Frozen“ ansahen. Etwas unpassend für die Jahreszeit, fand David, aber das störte Zoe nicht. Ihr Glas Kool Aid hatte sie nicht bekommen. Stattdessen hielt sie nun ein Glas Orangensaft, den sie durch einen blauen Strohhalm trank, in der Hand und schaute gebannt zu, wie Anna und Kristoff sich grade auf dem Bildschirm küssten. David kannte die Szene in und auswendig. Schließlich sahen sie sich den Film gefühlt jede Woche an, da Zoe auch nicht bereit war, mal etwas Neues auszuprobieren. Sie hing etwas in dem Wunschdenken fest, dass sie eines Tages als Anna in David ihren Kristoff finden würde. Doch so lange sich dieser Wunsch nicht erfüllt hatte, blieb ihr nur der sehnsüchtige Blick auf den Fernseher und ihre Fantasie. Der Abspann des Filmes begann und David schaltete den Fernseher aus.

„Nochmal“, sagte sie müde und begann zu gähnen. Mittlerweile war es viertel nach sechs geworden.

„Oh Nein“, lachte David und nahm ihr das Glas aus der Hand, um es auf den Tisch zu stellen.

„Du musst gleich nach Hause und dann bald ins Bett, so müde wie du bist“, erklärte er ihr und stupste mit einem Finger ihre Nase an.

„Bin nicht müde“, entgegnete sie ihm empört und richtete sich aus ihrer liegenden Pose über seinem linken Oberschenkel wieder auf.

„Natürlich nicht.“ Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„David?“

„Ja, Zoe? Was ist?“

„Wirst du in den Ferien hier sein?“, fragte sie und kletterte auf seinen Schoß.

„Nicht jeden Tag, aber im Großen und Ganzen, ja. Wieso fragst du?“ Er griff ihr unter die Arme und half ihr auf seinen Schoß zu kommen. Sie zuckte mit den Achseln.

„Ich weiß nicht. Ich will nicht, dass du weg gehst. Du sollst hier bei mir bleiben. Dann beschütze ich dich“, erklärte sie ihm und lehnte sich mit dem Rücken an seine Brust an.

„Wie meinst du das?“ David sah sie amüsiert und zugleich verwundert an.

„Was macht ein Pirat mit seinem Schatz?“

„Er vergräbt ihn.“

„Und warum?“, fragte Zoe weiter.

„Ach so. Ich bin dein Schatz, den du vergräbst, damit andere Piraten ihn dir nicht klauen können?“, fragte David, der verstanden hatte, worauf sie hinaus wollte. Sie hatte Angst jemand könnte sie ersetzen, wenn er längere Zeit nicht in ihrer Nähe wäre. Statt etwas zu sagen nickte sie stumm und sah ihn traurig mit ihren großen dunkelbraunen Augen an.

„Mach dir keine Sorgen, meine Große. Du hast mich schon so tief vergraben, dass mich garantiert keiner finden wird“, beschwichtige er sie und streichelte ihre blonden Haare. Ihr trauriger Blick verschwand und machte einem freudestrahlendem Lächeln Platz. Seine Antwort schien sie zufriedenzustellen. Zoe drehte sich in einer etwas schwankenden Bewegung herum und umarmte ihn mit ganzer Kraft und schmiegte sich dabei eng an seine Brust. Davids Blick wanderte zu der Wanduhr aus Eichenholz, die sich an der Wand rechts vom Sofa befand. Sie zeigte zwanzig nach sechs an. Beziehungsweise sollte sie das. Um genau zu sein, zeigte sie eigentlich gar nichts mehr an. Der kleine Zeiger war bei irgendeinem Frühlingsputz abgefallen und nicht mehr aufgetaucht. Lediglich der große Minutenzeiger befand sich noch an der Uhr und funktionierte, wie er es auch sollte. Davids Mutter hatte sie jedoch nie reparieren wollen, da sie Sorge hatte, dass sie dabei beschädigt werden könnte. Deswegen ließ sie sie dort einfach ohne Stundenzeiger hängen. Eigentlich wäre es nicht dramatisch, weil sie ja auch so noch wunderschön – potthässlich würde es besser treffen – sei und dem Raum das gewisse Etwas verleihen würde. Dass das gewisse Etwas in diesem Fall die Wirkung eines Fremdkörpers im Auge hatte, kümmerte sie nicht. Denn dafür, dass sie die Uhr eigentlich so schön fand, sah sie den traurigen Kreis aus Eichenholz mit nur einem Zeiger ziemlich selten an.

„Trink deinen Saft aus und dann bringe ich dich nach Hause“, sagte David und streichelte ihr über den Rücken. Er fühlte den warmen Schweiß durch den dünnen Stoff des T-Shirts hindurch. Sie würde nachher - wenn sie sie nicht schon jetzt hatte - fürchterliche Kopfschmerzen bekommen, dachte er sich. Sie hatte definitiv mehr Flüssigkeit verloren, als sie aufgenommen hatte. Sie kletterte von seinem Schoß hinunter und griff nach dem Glas, das auf der Glasplatte des Couchtisches stand. David erhob sich und stapelte die Teller, von denen sie vorhin gegessen hatten, um sie in die Spüle zu stellen. Das Abwaschen würde er auch erledigen können, wenn er wieder da war. Als er die Teller in die Spüle gestellt hatte, bedeckte er die übrig gebliebenen Pfannkuchen mit einer Plastikhaube, um sie vor Insekten zu schützen. Er hatte die Hoffnung, dass die schlechte Laune seiner Mutter verfliegen würde, wenn er ihr nachher – aus reiner Herzensgüte versteht sich – die restlichen drei Pfannkuchen anbieten würde.

„Fertig“, verkündete Zoe müde, aber auch stolz und reckte ihr leeres Glas mit dem zerkauten Strohhalm in die Höhe.

„Sehr schön, bringst du mir das Glas noch kurz?“, fragte er sie freundlich, während er noch mit dem Gedanken beschäftigt war, wie er seine Mutter am besten besänftigen konnte, ohne dass er sich entschuldigen musste. Grade, als er gedankenversunken den Wasserhahn aufdrehte um den klebrigen Ahornsirup von den Tellern grob zu lösen, klirrte hinter ihm Zoes Glas, in dem sich noch ein Bodensatz Saft befand, auf den harten Fliesen. Erschrocken zuckte David zusammen und fuhr herum. Zoe hockte bereits auf dem Boden, im Begriff die Scherben aufzuheben. Doch bevor er sie warnen konnte, war es schon zu spät. Ihre Hand und die gut vier Zentimeter lange Glasscherbe färbten sich rot. Blut rann aus ihrer Handfläche und tropfte auf den Boden zwischen die Reste des zersplitterten Trinkgefäßes. Sofort begann sie vor Schmerz zu schreien und zu weinen. Sie ließ die Scherbe, die die Form eines Halbmondes hatte, aus ihrer Hand fallen. In Windeseile schnappte David sich geistesgegenwärtig zwei Fixierbinden und eine sterile Kompresse aus dem Erste-Hilfe-Kasten, welchen seine Mutter, nach diversen Schnittverletzungen beim Kochen, in unmittelbarer Nähe zum Herd deponiert hatte. Man konnte ihr zwar vorwerfen, dass sie eine schlechte Mutter, eine Schlampe oder eine engstirnige Person sei, aber man konnte ihr keineswegs Vorwürfe machen, dass sie leichtfertig mit ihrer Sicherheit oder der ihrer Mitmenschen umgehen würde. Speziell aus diesem Grund war es mehr als nur merkwürdig, dass sie sich kaum um Bobby nach dessen Verschwinden, gesorgt hatte. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass er sich nicht mehr in ihrem Kontrollbereich befand. Schließlich kümmerte sie sich um die Sachen, die sie kontrollieren konnte, ganz besonders. Jedoch interessierten sie die Sachen, die außerhalb ihrer Reichweite waren, schon immer recht wenig.

„Was ist denn da unten los?“, tönte es vom oberen Treppenende herunter. David, der gemeinsam mit den Binden und der Wundkompresse die auf dem Boden sitzende Zoe erreicht hatte, hörte sie gar nicht. Er war viel zu konzentriert darauf Zoe schnellstmöglich einen Druckverband anzulegen. Der Schnitt des Glases war sauber und ziemlich tief, wie David feststellen musste. Ihre Hand war genau entlang der in der chinesischen Astrologie genannten „Head Line“ aufgeschnitten. Unter dem lauten Jaulen des kleinen Mädchens packte er eine der Binden aus und drückte die Kompresse auf die blutende Schnittwunde. Dann versuchte er in Windeseile die Technik, die ihm im Erste-Hilfe-Kurs beigebracht wurde, anzuwenden und wickelte die erste Binde drei Mal um ihre Hand. Als nächstes nahm er die andere verpackte Binde und drückte sie auf die Stelle, an der er die Kompresse bereits fixiert hatte und wickelte den Rest der Binde um sein sporadisches Druckpolster und verstaute das Ende in einer der entstandenen Falten. In der Zwischenzeit war auch Faye unten am Ort des Geschehens angelangt und beobachtete, wie David nun die blutige Scherbe vom Boden entfernte und sie in den Mülleimer warf.

„Ist ja gut Kleines. Ist alles in Ordnung. Es hört gleich auf zu bluten“, beruhigte David sie und nahm sie auf seinen Arm, wobei er sorgsam darauf achtete, dass er ihre linke Hand nicht bewegte. Ihre Tränen durchnässten den Ärmel seines T-Shirts und vermischten sich dort mit dem aus ihrer Nase laufendem Sekret. Vor dem Sofa blieb er stehen und setzte sie ab.

„Sieh mich an, meine Süße“, sagte er mit beruhigender Stimme während er sich vor sie hockte und begann ihren Kopf zu streicheln. Zoes Blick wanderte zu ihrer verletzten Hand. Sie schien kurz davor zu sein, einen weiteren Heulkrampf zu bekommen.

„Hey, ich bin hier oben“, riss David sie aus ihrem Tunnelblick. „Alles wird gut werden. Deiner Hand wird es bald besser gehen. Hab keine Angst, es blutet bald nicht mehr so schlimm.“

Doch seine beruhigenden Worte hatten keinen Einfluss auf sie. Sie schluchzte und weinte weiterhin in derselben Lautstärke wie zuvor. Im Hintergrund kehrte Faye die Scherben vom Boden auf. Eigentlich wollte sie David eine Szene machen, dass er sich doch gefälligst um sie kümmern sollte, jedoch konnte und wollte sie das nicht mehr, als sie gesehen hatte, dass er beinahe lehrbuchmäßig reagiert hatte. Es gab also keinen Grund, ihm einen Vorwurf zu machen. Ein erfahrener Sanitäter hätte zwar bemängelt, dass er Zoe nicht erklärt hatte, was er tun würde, um sie nicht zu verunsichern, aber sie wusste genau, dass das bei ihr auch nicht nötig war. Zoe vertraute ihm in jeder Situation blind und würde keine seiner Handlungen anzweifeln. Die Scherben klirrten, als sie im Mülleimer landeten.

„Es ist gar nicht viel Blut.“

Zoe hörte plötzlich auf zu schluchzen.

„Keine Sorge. Es wird dir gut gehen, meine Kleine“, fuhr er fort in dem Glauben, sie damit weiter von der Verletzung an ihrer Hand ablenken zu können. Das tat er auch. Die Angst und die Schmerzen ihrer Wunde waren vergessen. Jedoch weckten seine Worte eine neue noch viel größere Angst in ihr. Sie wusste nicht wieso und wollte es auch nicht wissen. Alles was sie wusste war, dass das, was er sagte, ihr mehr Angst einjagte als der Schnitt, der sich durch ihre linke Hand zog.

„Was ist passiert?“, unterbrach seine Mutter ihn. Beide sahen zu ihr auf. Ihre Haare waren zerzaust und klebten an ihrer schweißnassen Stirn.

„Ich hab ein Glas fallen gelassen, und sie hat sich an einer Scherbe geschnitten, weil sie helfen wollte“, log er ihr vor, um Zoe vor seiner Mutter zu schützen. Er konnte jetzt keine wütende Faye Williams gebrauchen, die der ohnehin schon eingeschüchterten Zoe sinnlos noch mehr Angst einjagen würde. Zu seiner Überraschung wurde sie aber nicht wütend. Weder auf ihn noch auf sie. Im Gegenteil. Sie schien beruhigt zu sein. Beruhigt, weil ihr Sohn ohne sarkastische oder beleidigende Bemerkungen mit ihr geredet hatte. Das kaputte Glas war nun eher sekundär in ihren Augen. Auch sie begann, Zoe zur Beruhigung leicht an der Schulter zu streicheln. Hilfesuchend sah Zoe, die auf dem hellbraunen Ecksofa saß, Faye an.

„Es verheilt bald wieder“, tröstete sie das kleine Mädchen und schenkte ihr ein freundliches Lächeln.

„Ich bringe sie besser mal nach Hause“, meinte David und sah seine Mutter in der Hoffnung auf Zustimmung an. Sie nickte verständnisvoll und streichelte ein letztes Mal Zoes Schulter.

„Wollen wir dich zu deiner Mom bringen?“ Sofort bejahte sie seine Frage. Nichts war ihr lieber, als nach Hause zu ihrer Mutter zu gehen, die sich vermutlich vollkommen überarbeitet um den Haushalt kümmerte, während ihr Vater mit einem Bier in der Hand auf dem alten blassgelben Gartenstuhl sitzen und ein Sportmagazin nach dem nächsten durchblättern würde. Ihm wäre es egal, ob sie wieder da wäre oder nicht, doch ihre Mutter würde sich sicher freuen, ihr kleines Mädchen wiederzusehen, bevor sie zu ihrem nächsten Job müsste. Schließlich arbeitete ihr Mann nicht mehr, seit er vor einigen Jahren wegen seinen Rücken- und Schulterproblemen von seinem Arbeitgeber gefeuert worden war. Seitdem hatte er nicht einmal versucht, sich eine neue Arbeitsstelle zu beschaffen, geschweige denn irgendwie anderweitig Geld zu verdienen. Er gab lieber das Geld, das seine Frau verdiente, für Alkohol, Zeitschriften und diverse Sportwetten aus. Wirklich Erfolg hatte er damit aber bisher noch nicht gehabt.

„Irgendwann wird er kommen, Sarah! Der große Coup! Der Tag, an dem ich mit einer Wette endlich abkassiere und keiner von uns mehr arbeiten muss. Vertrau mir! Ich brauche nur noch etwas Geld, um die Wetten zu finanzieren“, hatte er sie jedes Mal angebettelt nach einer vergeigten Wette und sie jedes Mal überzeugen können. Trotz seiner schlecht platzierten Wetten und seinem verschwenderischen Umgang mit dem Geld, das ihm formal nicht einmal gehörte, schlug sie ihm nie einen Wunsch ab. Ihre blinde Vernarrtheit in sein früheres Ich, das noch Erfolg im Leben hatte und sich nicht mittags um zwölf seine erste Dose Bier öffnete, war das Fundament ihrer Ehe. Früher einmal galt er als gefragter Security bei höheren Anlässen und war auf dem besten Weg, nach ganz oben aufzusteigen. Doch eines Tages nahmen seine körperlichen Beschwerden überhand, und er bekam noch im Krankenhaus sein Kündigungsschreiben. Einen physisch eingeschränkten Security konnte man schließlich nicht gebrauchen. Ein paar wenige Male hatte er versucht, als Türsteher bei einem miesen Nachtclub wieder den qualifizierten Security zu mimen, doch bereits die erste Auseinandersetzung machte sein Rücken nicht mehr mit, und er gab das Security-Dasein auf. Von dem Tag an saß er zuhause rum und vertrieb sich die Zeit mit Trübsal blasen und eine Dose Budweiser nach der nächsten in sich hinein zu kippen. Wie jeder andere in dem kleinen Dorf hatte also auch er eine Geschichte, die nicht als Komödie sondern als Tragödie zu erzählen war.

399
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611 стр. 2 иллюстрации
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9783754170724
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