Читать книгу: «Die Schule», страница 2

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„Herein“, murmelte Ms. Robinson mit ihrer hohen Stimme, als David an die Tür klopfte. Er öffnete die Tür und betrat den Raum. Ohne, dass er dazu aufgefordert wurde, setzte er sich auf den kleinen schwarzen Ledersessel gegenüber von Ms. Robinson. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Die Direktorin hatte ihn scheinbar nicht bemerkt. Sie saß immer noch in derselben Position wie vorher, mit dem Kopf über einem Haufen Papierkram und unterschrieb Briefe. Neben ihrer rechten Hand stand eine rote Kaffeetasse von den San Francisco 49ers auf dem Tisch, in der sich noch der kalte Kaffee vom Vortag befand. Ihre dunklen Haare hatte sie sich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, damit sie nicht auf die Blätter herunterhingen.

Ob Tales wohl auch schon etwas mit ihr hatte? So nötig wie beide es haben, würde es mich jedenfalls nicht wundern.

In dieser Hinsicht war er trotzdem neidisch auf Tales. Viele der jungen Lehrerinnen waren teilweise mehr als einfach nur ansehnlich und zudem gut proportioniert.

„David“, stöhnte Ms. Robinson zugleich genervt und angestrengt auf.

„Hm“, brummte er den Anschein gebend, er wäre interessiert an dem, was sie gleich sagen würde.

„Deine Mutter und ich haben uns unterhalten“, fing Ms. Robinson an und legte den Kugelschreiber aus der Hand.

„Wo? Auf einer Swinger Party oder bei der Partnervermittlung?“, entgegnete er wütend.

„Hältst du wohl den Mund! Denk ja nicht, dass, nur weil wir verwandt sind, du mir gegenüber sagen kannst was du willst!“, schrie sie empört. Sie hatte sich wohl vor sich selbst erschreckt, da sie nach ihrer Schimpftirade verwirrter aussah als David. Ms. Robinson war ein eigentlich sehr zurückhaltender und schüchterner Mensch Schülern gegenüber, aber wenn sie müde und überarbeitet war, wie grade jetzt, dann konnte sie energischer werden, als sie es selber für möglich hielt.

„Und genau das ist auch der Grund, warum ich dich herbestellt habe. Ich muss mit dir etwas Wichtiges besprechen, David.“

Sie hatte sich wieder etwas beruhigt.

„Wenn Mom etwas will, soll sie es mir sagen und nicht an dich outsourcen. Wenn es wieder darum geht, dass ich sie zu Unrecht hasse und mich mit ihr versöhnen soll, dann bin ich hier raus.“

Mit diesem Satz stand er auf und schnappte sich seine Tasche. Er hatte keine Lust, sich erneut der belanglosen Beschwerden von seiner Mutter hinzugeben und am Ende zu lügen, dass er es überdenken würde. Doch dieses Mal sollte das Gespräch nicht von seiner sich ständig unfair behandelt fühlenden Mutter handeln.

„Setz dich wieder hin“, sagte sie genervt.

Ihre Augenringe waren fast so dunkel wie der ranzige Kaffee in ihrer American Football Tasse. Sie hatte die Nacht am Tresen einer Disco mit etlichen Cocktails verbracht, welche ihr ein Typ spendiert hatte, nur um sie dann später auf der verschmutzten Clubtoilette, in welche sie sich vorher übergeben hatte, ordentlich durchzuvögeln.

„Was soll das denn? Es ist schwachsinnig, mich wegen etwas, das außerhalb dieses Gebäudes passiert ist, hier vorzuführen!“

„Schwachsinnig ist wie du dich ausführst, obwohl deine Mutter nicht schuld an diesem Gespräch ist!”

Natürlich war es ihre Schuld. Sie hatte Bobby alleine gelassen. Sie hatte gewollt, dass er für immer aus ihrem Leben verschwand. Sie hatte keine Träne vergossen als er verschwunden war. Vielleicht hatte sie ihn sogar vorsätzlich verschwinden lassen. Schließlich gab es nie eine Vermisstenmeldung, geschweige denn auch nur die Idee ihn zu suchen. Als wüsste sie genau, dass es sinnlos wäre, weil er sich längst im Keller einer ihrer Stecher befand oder schon sechs Fuß unter der Erde lag.

„Ihr liegt etwas an dir, und es macht sie traurig, dass du ihr keine Chance gibst, ihr das zu zeigen“, erklärte Ms. Robinson ihm und deutete ihm an, sich wieder zu setzen.

David verharrte einen kurzen Moment und schnaufte tief durch. Es war tatsächlich dasselbe wie jedes Mal, dachte er. Wieso konnte diese verdammte Hure nicht einfach ihre Klappe halten und sich nicht jedes Mal von seiner Mutter beschwatzen lassen.

„Ich sagte, wenn es wieder so ist wie immer, dann bin ich hier raus. In diesem Sinne also: Schöne Ferien Ms. Robinson, genießen Sie ihren Urlaub und passen Sie auf, dass Sie sich kein Sonnenstich beim Ficken am Strand holen.“

„Ich bin noch nicht fertig!“, meckerte sie ihn an. Mittlerweile hatte sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle und sprach wieder so leise wie vorher.

„Ich aber“, sagte David während er, mit dem Rücken zu ihr gekehrt, zur Tür ging und ihr mit der linken Hand zuwinkte.

„Ich habe dich nicht wegen deiner Mutter…“

Doch er hörte sie schon längst nicht mehr. David hatte bereits den Raum verlassen und die Tür mit so einer Wucht zugeschmettert, dass der veraltete Wandkalender aus dem Jahre 2017 – das Jahr in dem das Übel seinen Lauf nahm und Ms. Robinson zur Direktorin ernannt wurde - zu Boden fiel.

Er befand sich erneut im traurig aussehenden Flur der Schule. David holte seine Kopfhörer aus seiner linken Hosentasche und steckte sich einen davon in sein Ohr. Dass er diesen wenige Augenblicke später wieder herausnehmen musste, da dieser außer einem Rauschen keinen Ton von sich gab, störte ihn nicht. Es fühlte sich gut an, der völlig verkaterten Direktorin Paroli geboten zu haben und nun eine lange Pause von alle dem vor sich zu haben.

„David“, rief die Direktorin ihm aufgeregt hinterher und ließ die Tür hinter sich offen. Alles was er ihr mitzuteilen hatte, war sein Mittelfinger, den er ihr ausgestreckt nach hinten hielt.

„David Williams! Du wirst mir jetzt zuhören!“, rief sie ihm empört nach. Sie ließ sich durch einfachste Gesten schnell auf die Palme bringen, kam aber ebenso schnell wieder herunter. Das wusste er und nutzte es zu seiner Belustigung aus. Ihre hochhackigen Schuhe klackerten besonders laut auf den Fliesen, als sie ihm hinterherlief.

„Ich will dich doch nur warnen! Bitte, David, hör mir zu!“

Sie hatte ihre Schritte beschleunigt und rannte ihm jetzt beinahe schon hinterher. Doch er ließ sich nicht beirren und ging weiter schnurstracks den Flur in Richtung Ausgang entlang.

„David!“, schrie sie.

„David!“

Sie klang inzwischen gar nicht mehr wütend, sondern ängstlich.

„Sag meiner Mom, dass sie mit mir selber reden soll, wenn sie etwas will!“, entgegnete er ihr und stürmte aus der Vordertür. Mit seinen 1,83m lag er knapp 6cm über dem amerikanischen Durchschnitt, was ihm bei der Flucht vor Ms. Robinson sehr gelegen kam, da sie mit ihrer Körpergröße von lediglich 1,66m deutlich kürzere Beine als er hatte.

Etwa eine Minute, nachdem David das Gebäude bereits verlassen hatte, verließ auch sie das Gebäude. Doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Der Junge hat keine Ahnung, was ihn erwartet, wenn er zuhause ankommt, dachte sie und schrie verzweifelt ein weiteres Mal seinen Namen. Ein silberner Mercury Cougar im New-Edge-Design fuhr vor dem Eingang vor und bremste mit quietschenden Reifen. Das Fenster wurde heruntergelassen, und David streckte seinen Kopf heraus.

„Halten Sie sich endlich aus meinem Leben raus!“, brüllte er ihr zu, dann beschleunigte er und verschwand aus den Augen der Direktorin. Das Letzte, was sie von ihm hörte, war das Quietschen seiner Reifen, als er Mr. Kennington ausweichen musste, der kurz zuvor von Trae eine neue Lieferung Crack in Empfang genommen hatte. Ms. Robinson setzte sich erschöpft auf die Treppenstufe vor den Eingang ihrer Schule.

„Verdammt! Scheiße!“, ließ sie ihren Emotionen freien Lauf.

Sie verweilte einen Moment, dann sprang sie wie vom Blitz getroffen auf und rannte zurück ins Gebäude. Ihre Schuhe hatte sie ausgezogen, um auf dem Weg zum nächstbesten Telefon keine Zeit zu verlieren. Das Erste, das sie fand, hing über einem Feuerlöscher und war eigentlich für Notrufe reserviert. Doch bevor sie nach dem Hörer greifen konnte, begann es von selbst zu klingeln. Das Klingeln des Telefons war schrill und klang unnatürlich. Sie zitterte. Etwas in ihr wusste, dass die Person am anderen Ende – wenn es denn eine war – ihr nicht wohlgesonnen war. Kalter Schweiß lief ihre Stirn hinunter und kühlte ihren erhitzten, roten Kopf. Trotz der hohen Temperaturen fror sie am ganzen Körper. Ihre Beine, die aus ihrem sommerlichen Rock herausschauten, waren mit einer Gänsehaut überzogen. Das Klingeln wurde lauter. Jetzt klang es beinahe bedrohlich. Alles in ihr riet ihr davon ab, den Hörer abzunehmen. Doch da war diese Neugier in ihr. Diese verdammte, elende Neugier, die sie einfach nicht losließ. Sie hatte ihr noch nie etwas Gutes gebracht. Schon damals nicht, wo sie es sich für eine Flasche Wein von jedem Jungen hatte besorgen lassen. Ihre Neugier sorgte dafür, dass sie den meisten erlaubte, es ohne Kondom zu tun. Und ehe sie sich versah, war es geschehen. Sie hatte sich infiziert. HIV. Wegen ihrer elenden Neugier hatte sie sich mit HIV infiziert. Und jetzt würde ihre Neugier wieder siegen, weil es einfach in ihrer Natur lag. Weil es in der Natur eines jeden Menschen lag, seine Neugier auszureizen. Egal wie oft sie uns schon niedergemacht oder geschadet hatte. Sie hob ihren rechten Arm, um ihn nach dem Telefon auszustrecken, zog ihn jedoch sofort wieder zurück.

Vielleicht hört es auf. Oh bitte lieber Gott mach, dass es aufhört.

Ihre Augen waren fest fixiert auf den Hörer, so als würde er sie jede Sekunde angreifen können. Sie machte einen Schritt in Richtung ihrer offenen Bürotür. Das Telefon klingelte energischer und hüpfte fast aus seiner Halterung heraus. Mit weit aufgerissenen Augen, die immer noch das Telefon anstarrten, lief sie zu ihrer offenen Tür, doch als sie kurz davor war, sie zu erreichen, fiel sie mit einem lauten Klick ins Schloss und verriegelte sich selbst. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt und ließ keinen Laut zu. Der Hörer hüpfte in seiner Halterung auf und ab. Langsam bewegte sie sich wieder auf ihn zu. Erneut streckte sie die Hand nach ihm aus. Dieses Mal zog sie sie nicht zurück und nahm den Hörer ab. Sie atmete einmal tief durch, schloss die Augen und zählte innerlich bis zehn. Fast wie in Zeitlupe führte sie den weißen Plastikhörer zu ihrem Ohr. Es gab kein Zurück mehr.

„Hallo“, hauchte sie ängstlich in den Hörer, bevor sie für immer verstummte.

4

Du kannst meinen Wagen haben, hatte sein Vater gesagt und ihm den Schlüssel des silbernen Mercury Cougar in die Hand gedrückt, bevor er nach Irland ging. Das Auto stammte aus dem Jahr 2001 und somit aus der 9. Generation der Automobilserie. Eine große Kratzspur prangte an der Fahrerseite und zog sich von der Fahrertür bis zur Tür der Rückbank durch. Sein Vater hatte sie noch am selben Tag, an dem er das Auto gekauft hatte, bei einem Unfall erhalten. Die alte, verwitwete Nachbarsfrau, Mrs. Dalton, hatte kurz zuvor ihre Tochter, die an Speiseröhrenkrebs litt, verloren und war des Lebens überdrüssig geworden. Deswegen stellte sie sich an ausgerechnet dem Tag auf die Straße, an dem Paul Williams mit seinem damals noch kleinen Sohn David vom Autokauf zurückkam und grade spaßeshalber etwas auf die Tube drückte, um seinen Kleinen zum Lachen zu bringen. Er war vom ersten Tag an vernarrt in das Lachen, das ihn als Vater noch glücklicher machte als ohnehin schon. Doch seit diesem Tag jagte es ihm nur mehr Angst ein, als dass es ihm Freude bereitet hatte. So wie, als wenn man einmal in einen saftigen Apfel gebissen, in dem sich ein Wurm befunden hatte. Von dort an würde man sie schlichtweg nicht mehr mögen, sondern verschmähen. Verschmähen. Ein passendes Wort für das, was Davids Vater von jenem Tag an, als er die alte depressiv gewordene Mrs. Dalton überfahren hatte, mit David tat, wenn er lächelte.

Dieses Ereignis prägte seinen Vater so sehr, dass er psychisch krank wurde. „Sie haben eine posttraumatische Belastungsstörung, Paul“, hatte ihm der Arzt damals mitgeteilt und ihm zu einem geeigneten psychotherapeutischen Verfahren geraten. Welches das war, hatte David jedoch vergessen. „Besonders wichtig ist jetzt für Sie, dass Sie sich von Ihrer Familie und Ihren Freunden helfen lassen und sich nicht von ihnen abkapseln“, meinte sein Arzt Dr. Goodwin. Einige Jahre ging das auch gut und er konnte seine psychischen Probleme, die ihm der Unfall bereitet hatte, mit ausreichend Unterstützung, sowohl von seiner Familie als auch von seinem neuen besten Freund, Jack Daniel’s, gut bewältigen. Doch nachdem ihm der einfache Alkoholkonsum zu therapeutischen Zwecken – so redete er es sich jedenfalls ein – nicht mehr genügte, erweiterte er seinen Freundeskreis um namhafte Marken wie Johnnie Walker, Jim Beam, Buffalo Trace und gelegentlich stieß auch sein Bekannter Budweiser zur munteren Runde hinzu. Es fing morgens mit einem Glas Sekt an, welches er wenigstens noch mit einem Schuss Orangensaft mischte. Mittags trank er dann statt seiner üblichen Zitronenlimonade zwei bis drei Budweiser und füllte die Zitronen, die für die Limonade gedacht waren, abends in sein Whiskeyglas, das er mehrmals mit seinem Jack Daniel’s nachfüllte. Er wurde zum wahren Vollzeitalkoholiker. Aber dann zerfiel die Blockade, die er sich gegenüber der Vergangenheit aufgebaut hatte. „Numbing“ nannten die Ärzte seine immer wiederkehrenden Flashbacks, welche ihn zwar aus seiner Alkoholsucht holten, ihn aber wieder tiefer in seine psychische Krise stießen. Da seine Frau kein Interesse daran gehabt hatte, ihn erneut aus einem psychischen Tief zu holen, war die Gruppe der Anonymen Alkoholiker nun für seine Seelsorge zuständig. Es half ihm zwar und er fühlte sich besser, doch es befreite ihn nicht vom Numbing.

All das wurde Davids Mutter zu viel, ihr wurden die psychischen Probleme ihres Mannes langsam lästig. Deswegen suchte sie sich heimlich einen weniger bemitleidenswerten Mann, der sich um sie kümmern würde und nicht andersrum. Einige Zeit lang ging es gut, und sie wechselte ihre Liebhaber ebenso häufig wie ihre Socken. Aber eines Tages wurde sie unvorsichtig und plante ihre Treffen nicht mehr mit solch einer Sorgfalt, wie sie es hätte tun sollen.

So kam es, wie es kommen musste. Vor drei Jahren, als sie sich grade mit einem Immobilienmakler namens Ray vergnügt hatte, kehrte David von seinem Basketballspiel eine halbe Stunde früher zurück als erwartet. Er hatte die Tür aufgemacht und direkt das Stöhnen seiner Mutter aus dem Wohnzimmer vernommen.

„Sag es Baby“, hörte er eine fremde Männerstimme sagen.

„Oh mein Gott Ray, du Hengst“, stöhnte seine Mom erwidernd. Auf Rays Gesicht zeichnete sich ein fettes Grinsen ab. Seine gräulichen Haare hingen ihm vor den Augen und klebten an seiner Stirn fest. David, der alles gehört hatte, kauerte sich auf dem Boden zusammen und begann zu weinen. Seine Mutter stöhnte ein weiteres Mal. Er war nicht traurig. Er war wütend. Wütend auf seine Mutter, die seinen Vater in diesem Moment betrog, auf Ray, der seine Mutter wie eine billige Straßenhure behandelte und am meisten auf Mrs. Dalton. Warum musste sich die alte Schachtel auch ausgerechnet auf die Straße stellen? Hätte sie sich nicht einfach eine Kugel durch ihr Gehirn jagen können oder sich so lange zudröhnen können, bis sie an einer Überdosis starb. Diese Art zu sterben wäre doch schließlich auch für sie angenehmer gewesen, als von einem Kombicoupé überrollt zu werden. Warum konnte sie nicht einfach high sterben, ohne das Leben eines Menschen beziehungsweise dessen ganzer Familie zu zerstören? Die Richter hatten Paul zwar von jeder Schuld freigesprochen, aber er selber hatte das nicht. David hatte ein paar Augenblicke gebraucht, bis er die Situation realisiert hatte und sich zusammenreißen konnte. Mit Wuttränen in den Augen stürmte er aus der Tür hinaus und lief los. Erst einige Häuserblocks weiter blieb er stehen und schnappte nach Luft. Er schaute sich nach links und rechts um als würde er verfolgt werden. Erschöpft hatte er sich nach vorne gebeugt und sich mit seinen Händen auf seine Oberschenkel aufgestützt. Sein einziger Einfall war, seinen Vater anzurufen und ihm zu erzählen, was er gehört hatte. Und genau das hatte er dann auch getan. Sein Vater war gemeinsam mit Bobby zu einem Tagesausflug nach Anaheim zum Disneylandpark unterwegs. Knapp 7 Stunden mit dem Auto von ihrem Haus entfernt, das in einem Dorf zwischen Tambo und Ramirez steht.

Nachdem er seinen Vater erreicht hatte und ihm gebeichtet hatte, was in ihrem Haus vor sich ging, setzte er sich einfach auf den Boden und wartete. Worauf er gewartet hatte wusste er heute nicht mehr genau. Vielleicht wusste er es auch damals nicht. Jedenfalls hatte er so Trae das erste Mal getroffen und er hatte sich bis in den späten Abend mit ihm unterhalten. Trae hatte es sogar fertig gebracht, Davids Wut und Trauer für den Rest des Abends zu unterdrücken. Als er nach Hause kam, saß seine Mutter heulend auf dem Boden und erzählte ihm, dass sein Vater sich von ihr scheiden lassen wolle. Einen Grund hatte er nicht genannt. Dafür war David ihm mehr als nur dankbar, denn so wurde er nicht zum Sündenbock für seine Mutter und war in ihren Augen unschuldig an der ganzen Situation. Und dieses Geheimnis, dass er sie verraten hatte, hatte sie bis heute – 3 Jahre später – nicht gelüftet.

Am frühen Morgen des nächsten Tages war sein Vater mitsamt dem Schlafenden und von den Umständen total paralysierten Bobby wieder an ihrem Haus angekommen. Er ging einfach rein, umarmte David, packte seine Sachen und sagte seiner Frau, dass sie Post von seinem Anwalt bekommen würde. Dann ging er einfach aus dem Haus, verabschiedete sich von seinen Kindern, und eine Woche später waren sie geschieden. Ein Taxi hatte ihn von dem Haus seiner – von dem Tag an – Ex-Frau mit seinem restlichen Hab und Gut abgeholt. Das war der Tag, an dem er seinem ältesten Sohn David sein Auto vermacht hatte. In eben diesem Wagen war David weggefahren, wenige Minuten bevor das Telefon in der Eingangshalle von seiner Schule geklingelt hatte.

5

Jeder hat eine bestimmte Musikrichtung, die er bevorzugt beziehungsweise am liebsten hört. Davids Musik war der Rock’n Roll. Er brannte für ihn. Aus diesem Grund drehte er die Lautstärke des Radios ganz besonders auf, als Little Richard grade begann, Tutti Frutti zu singen. Mit den Fingern klopfte er den Takt auf dem Lenkrad mit und bewegte seinen Mund so zu dem Lied, als würde er es selbst singen. In ein paar Minuten würde er zuhause sein und das Wochenende durchschlafen. Er hatte keine Lust, sich wieder mit seiner Mutter wegen ihres ausgiebigen Liebeslebens zu streiten. Der Streit letzte Woche, bei dem sie sogar so weit gegangen war und ihn geschlagen hatte, hatte ihm gereicht. Natürlich hatte er dem nichts entgegengesetzt. Schließlich gehörte er nicht zu der Sorte Menschen, die jedes Mal, wenn man ihnen dumm kommt, anfangen zuzuschlagen.

David trat auf die Bremse und kam vor der roten Ampel zum Stehen. Sein Blick schweifte aus dem Fenster über Männer in Anzügen, die in Eile durch die Gegend liefen, Eltern, die versuchten ihre Kinder möglichst dicht bei sich zu behalten, Obdachlose und so weiter. Seine Augen blieben an einem Obdachlosen mit braunem Vollbart und einem verwaschenen, grauolivfarbenen T-Shirt haften. Der Obdachlose trug ein Pappschild um den Hals auf das: „Brauche Trinken!“, gekritzelt worden war. Er stand dicht an der Hauswand angelehnt, um sich halbwegs im Schatten zu befinden. Flehend sah er jeden der vorbeigehenden Menschen an und bettelte um ein wenig Kleingeld.

„Bitte Miss, geben Sie mir etwas Geld, ich habe so Durst. Bitte helfen Sie einer armen Seele“, flehte er eine Frau mittleren Alters an, die mit ihrer kleinen Tochter an ihm vorbeiging.

Erschrocken und angewidert vom Anblick des Obdachlosen nahm sie ihre Tochter und erhöhte das Tempo ihre Schritte.

„Komm schnell, Lucy“, sagte sie zu dem kleinen Mädchen an ihrer Hand.

„Aber Mami, warum können wir dem armen Mann nicht helfen?“, fragte Lucy besorgt und beobachtete ihn traurig.

„Er ist selber schuld, dass er jetzt auf der Straße leben muss. Außerdem hat er bestimmt Krätze oder Lepra“, sagte sie, womit sie auf sein rechtes graues, trübes Auge hinwies.

„Krätze äußert sich durch Ausschlag und starken Juckreiz, gnädige Frau“, sprach sie ein älterer Mann an, der dem Obdachlosen eine Flasche Wasser gab, von welcher dieser sofort einen Schluck zu sich nahm. Sie blieb stehen und warf ihm einem tödlichen Blick zu.

„Ach ja, und Lepra kann zwar die Augen betreffen, würde aber dann sichtliche Verstümmelung oder Lähmung verschiedener Körperteile mit sich ziehen. Außerdem ist die Infektionsgefahr bei beiden Krankheiten nur bei längerem intensivem Körperkontakt besonders realistisch. Wenn Sie Ihr Kind schon anlügen wollen, dann lügen Sie es wenigstens so an, dass es realistisch wirkt“, fuhr er fort, ohne ihrem Todesblick größere Aufmerksamkeit zu schenken.

„Ich danke Ihnen. Gott segne Sie, mein Herr. Gott segne…“

Der Obdachlose verstummte, als er David sah und ihre Blicke sich trafen. Er krümmte seinen Hals auf die eigenartigste Art und Weise, die seine Wirbel zuließen und begann urplötzlich, schallend zu lachen. Das Lachen hatte große Ähnlichkeit mit dem eines verrückten Serienkillers, dem klar geworden war, dass er jemanden umgebracht hatte, der ihm eigentlich am Herzen lag. Sein rechter Zeigefinger schoss empor und zeigte auf David.

„Fahr endlich, du Affe“, brüllte ein wütender korpulenter Mann aus dem Jeep hinter ihm, „Bist du farbenblind Junge? Es ist grün!“

Seine Worte wurden von den kontinuierlich benutzten Hupen der hinter ihm stehenden Autos begleitet.

„Verdammt“, schrie der Obdachlose David entgegen und begann sich immer weiter von ihm wegzubewegen. Die losen Sohlen seiner Schuhe klatschten bei jedem Schritt auf dem Boden, was jedoch in den lauten Geräuschen der pulsierenden Stadt um ihn herum unterging.

„Du bist verdammt, Junge! Der Teufel hat dich in seiner Hand!“, schrie er ein weiteres Mal, während er ihn immer noch verrückt anlachte.

Offensichtlich aus seiner Schockstarre erwacht, legte David den ersten Gang ein und fuhr los. Erschöpft ließ sich der Bettler schwer atmend auf den Boden fallen. Selbstzufrieden grinste die Frau den verdutzten alten Mann an, der den Bettler grade eben erst vor ihr verteidigt und ihm eine Wasserflasche gegeben hatte. Das war genau die Wendung, die sie gebraucht hatte, um nicht vor ihm und ihrer kleinen Tochter dumm dazustehen. Die Kleine versuchte grade, eine auf dem Boden liegende, bunte Kaugummiverpackung aufzuheben, um nachzusehen, ob sich darin nicht doch noch ein allerletztes Kaugummi befand. Sie strich ihre nussbraunen Haare aus ihrem langsam faltig werdenden Gesicht und zog ihr kleines Mädchen von der Kaugummipackung weg.

„Ich habe außerdem gehört, dass geistige Verwirrung eine Folge von Aids sein kann. An Ihrer Stelle würde ich mich erstmal gründlich untersuchen lassen. Nicht, dass Sie neben seinen Flöhen und Läusen, die sowieso schon auf Sie übergesprungen sind, auch noch das Pech haben, in Kürze Ihr Testament aufsetzen zu müssen.“

Dann setzte sie sich zufrieden ihre Sonnenbrille auf und entfernte sich mitsamt ihrer Tochter von den beiden Männern, an die sie sich heute Abend schon nicht mehr erinnern würde.

399
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