Читать книгу: «Die letzte Seele», страница 3
Er glotzte zu Boden wie jemand, der etwas Wichtiges verloren hat und es unbedingt wiederhaben muss. Dabei wäre er am liebsten in diesem Boden versunken. Nur weg von hier, egal wohin!
Mit einem Mal tauchten am oberen Rand seines Sichtfeldes ein Paar Stiefel auf. Schwarze Cowboystiefel. Eigentlich waren sie viel zu klein und zierlich, um sich Stiefel zu nennen. Aber es waren welche. Ein Paar von dieser Größe konnte nur zu einer Frau gehören. Fieberhaft überlegte Paul, ob eines der Mädchen aus seinem Freundeskreis derartige Schuhe trug. Negativ, er musste passen.
Er schluckte den Speichel runter. Dann schluckte er noch einmal. Und es half ihm sogar ein wenig – so, als hätte er damit einen Teil seiner Unsicherheit weggeschluckt.
Nun hatte er zwei Möglichkeiten. Die erste (bei weitem die leichteste) sah ungefähr so aus: Er beließ es so, wie es war und steckte weiter wie ein Vogel Strauß den Kopf in den Sand. Oder aber (und das war die zweite, ungleich schwierigere): Er packte den Stier bei den Hörnern. Nach einem kurzen, aber heftigen Disput mit sich selbst entschied er sich für die Torero-Methode. Dabei hoffte er immer noch, dass es sich nur um irgendein Mädchen handelte, die sich etwas zu trinken bestellte. Nicht etwa, um …
Zu den Schuhen gesellte sich jetzt eine Blue Jeans. Er ließ den Blick höher wandern und sah lange nur Hosenbeine. Wie wohl die Beine darunter aussahen? Endlich war sein Blick höher gewandert, unterhalb der Taille. Oh ja, es handelte sich zweifelsfrei um ein Mädchen, und um was für eins, Junge, Junge! Saftige straffe Schenkel, schöne lange Beine! Kerl, reiß dich zusammen! Reiß dich bloß zusammen!
Er ließ den Blick weiter aufwärts wandern. Das Mädchen trug ein rotkariertes Holzfällerhemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Nun wusste er endlich, wer sie war, und vor Überraschung schluckte er erneut. Auch diese verdammte Unsicherheit war plötzlich wieder da. Dafür schien seine Fähigkeit, sich zu bewegen, verschwunden zu sein. Er kauerte auf dem Barhocker, hatte den Blick auf ihr Dekolleté gerichtet und bemerkte entzückt, dass die obersten zwei Knöpfe offen waren. Paul wusste, dass es ein dämliches, vor allem unhöfliches Benehmen war, so zu starren. Es war ihm aber einfach nicht möglich, wegzusehen. Seine Halsmuskulatur verweigerte ihm den Dienst.
„Hast du inzwischen gefunden, wonach du gesucht hast?“
Die Stimme klang freundlich, und obwohl die Besitzerin genau wusste, wohin er seinen Blick gerichtet hatte (sie hätte schon so blind sein müssen wie ein Maulwurf, um es zu übersehen), schien sie keineswegs erbost. Ja, es klang sogar fast ein wenig so, als wäre sie amüsiert. In Pauls Mund lief der Speichel zusammen. Literweise. Hektoliterweise. Ein ganzer Ozean. Zumindest fühlte es sich so an. Er drohte daran zu ersticken und kam nicht mehr mit dem Schlucken hinterher. So konnte er nie und nimmer etwas sagen. Bei diesen Mengen würde er ihr eine Dusche verpassen, bei der ihr alles verginge. Sogar die Hilfsbereitschaft.
„Du scheinst mir ja ein richtiger Draufgänger zu sein, was? Ich hoffe, dass ich mit dir mithalten kann.“ Die Besitzerin der Stimme kicherte. „Wie bitte? Du fragst, ob du mir einen Drink spendieren darfst? Aber hallo, da sage ich doch nicht nein!“
Paul stöhnte. Seine Beine hatten mittlerweile die Konsistenz von Gelatine. Alles an ihm zitterte wie Laub im Herbstwind. Noch nie zuvor war er sich so hilflos vorgekommen – und gleichzeitig so überschwänglich glücklich.
„Hi, ich bin Jeannine. Und du?“
Ihre Stimme klang warm, weich. Als sänge ein wunderschöner Vogel nur für ihn. Er war außerstande, zu antworten. Es war nun schon das zweite Mal an diesem Tag, dass er vor Scham am liebsten im Erdboden versunken wäre.
„Sag mal, hast du Genickstarre oder so was? Oder was gibt’s da unten zu sehen?“
„Ich … ich …“ Sein Mund schloss sich wieder. Hatte er etwas gesagt? War das seine Stimme gewesen, die da gerade Perlen der Weisheit von sich gegeben hatte?
„Na, das war schon ein Anfang. Wer weiß, vielleicht sprichst du ja in ein paar Jahren schon erste zusammenhängende Sätze? Ich wette, mit Übung brichst du jeden Rekord! Und erst dein Vater, Junge, Junge, Junge, der muss vor Stolz ja platzen!“
Obwohl Paul diese Neckereien durchaus in den falschen Hals hätte kriegen können, war er keineswegs sauer. Im Gegenteil – ihre freche, offene Art amüsierte ihn. Er grinste sogar.
„Ja, was ist denn das? Was müssen meine entzündeten Augen da sehen? Oh Gott, oh Gott, das kann ja gar nicht sein!“ Sie schwieg einen Moment, um sich eine Zigarette anzuzünden. „Es bewegt sich, also lebt es! Ist das zu fassen? Dass ich das noch erleben darf! Mir kommen die Tränen!“ Mit einer theatralischen Handbewegung wischte sie sich übers Gesicht.
Erst als er den Sinn ihrer Worte verstand, bemerkte er, dass er langsam den Kopf hob. Es konnte höchstens eine oder zwei Sekunden gedauert haben, bis er direkt in ihre Augen sah. In dieser kurzen Zeit stürzte alles auf ihn ein mit der Stärke eines Tornados. Die Musik war plötzlich viel zu laut und die Beleuchtung zu grell. Komischerweise lächelte ihr Mund. Ein freundliches Lächeln. Und auch ihre Augen strahlten.
„Ich sehe schon“, sprach sie weiter (und links unter ihrer Unterlippe hüpfte ein kleiner Leberfleck bei jedem Wort auf und ab), „ich muss mein Bier selbst bezahlen.“ Sie drehte sich zum Barkeeper und schnippte mit dem Finger. Es dauerte keine zwei Sekunden, und er kam angewetzt. Ist das nicht ulkig, ging es Paul durch den Kopf, hübsche Frauen werden prompt bedient, und unsereins steht sich die Beine in den Bauch. Sie wollte gerade ihren Mund öffnen und die Bestellung aufgeben, da riss bei Paul endlich der Knoten. Mit selbstbewusster, sicherer Stimme, als sei er Moses persönlich, sprach er: „Ein Bier, ein Diesel und zwei Whiskey. Und das Ganze ein bisschen hastig.“
Er war erstaunt. Noch vor wenigen Sekunden hätte er nichts herausbekommen als Gestotter und jetzt das. Das war ja eine Wendung um glatte hundertachtzig Grad, Glückwunsch!
Aber noch war sein Leidensweg nicht beendet. Denn einen Moment lang war Paul überzeugt, der Barkeeper würde ihm erst einen Vogel und dann die kalte Schulter zeigen. In diesem Falle wäre sein neugewonnener Mut auf tragische Weise verunglückt. Nicht auszudenken, wie er dagestanden hätte – blamiert bis auf die Knochen. Sie würde ihn auslachen und ihn dann, ohne eines weiteren Blickes zu würdigen, abservieren.
Der Barkeeper zögerte einen Moment. Doch dieser Moment reichte, um Paul Schweißperlen auf die Stirn zu treiben und ihm eine Gänsehaut den Rücken hinunterlaufen zu lassen. Er schien zu überlegen, ob er, Paul, es wert sei, sich seinetwegen die Finger schmutzig zu machen. Schließlich entschied er sich dagegen – nicht zuletzt vielleicht, weil Blutflecken immer so schlecht aus der Kleidung zu bekommen sind. Er drehte sich um und dackelte in aller Ruhe zum Zapfhahn. Auch sie schien beeindruckt zu sein, allerdings nicht halb so sehr wie Paul selbst.
„Also, mein Held. Da mir nun die Ehre zuteil wird, mit dir einen heben zu dürfen, verrätst du mir bestimmt auch deinen Namen?“
„Paul.“
„Und weiter?“
„Wie, und weiter?“
„Hast du keinen Familiennamen?“
Verdammt, was bin ich nur für ein Trottel? Ich scheine den Mount Everest auf meiner Leitung geparkt zu haben. Aber, Scheiße auch, sie sieht so unglaublich süß aus. Kein Wunder, dass einem da die Sicherungen durchbrennen, wenn man in diese Augen sieht. Und dieser Körper, Mann oh Mann, selbst angezogen ist der echt ’ne Wucht in Tüten! Ich hab schon ganz feuchte Hände. Hoffentlich fang ich nicht noch an zu sabbern …
„Ritter.“
„Na siehst du. War doch gar nicht so schwer, oder?“
Paul verkniff sich die Antwort. Er bezweifelte ohnehin, etwas Gescheites herauszubekommen.
Auf einmal herrschte Schweigen. Doch sie schien auf etwas zu warten. Auf was nur? Paul zerbrach sich den Kopf. Er wollte und musste unbedingt wissen, worauf! Unzählige Vermutungen stürzten auf ihn ein und verschwanden wieder. Sein Herz klopfte wie ein Presslufthammer, und die Schläge dröhnten ihm bis in die Ohren. Seine Zunge schien zu einem Stück Sandpapier geworden zu sein, hing trocken und aufgedunsen in seinem Mund. Immer mehr beschlich ihn die Gewissheit, aus allen Poren zu schwitzen. Sein gesamter Körper schien bedeckt von einem klebrigen Schweißfilm. Es lief ihm sogar schon in die Augen. In den Schuhen schien sich ein kleiner Teich gesammelt zu haben, und so wie es sich anfühlte, wateten die Füße klitschnass darin herum. Und seine Hände sahen aus, als hätte er ein Vollbad hinter sich. Die Haut war schrumpelig und weiß.
Paul hatte zweifellos etwas für dieses Mädchen übrig. Es war bei weitem noch keine Liebe, aber da loderte schon ein klitzekleines Feuerchen in seinem Herzen. Es war schon etwas da, und seien es nur erste Anflüge einer zaghaften Freundschaft. Genau das brachte ihn aus dem Konzept. Er hatte einen stinknormalen Abend verleben wollen, einen trinken, noch einen trinken und noch einen –so lange, bis er rückwärts vom Stuhl kippte und befriedigt nach Hause wankte. So war es immer, und so sollte es auch heute ablaufen. Zugegeben, einem Flirt wäre er nicht abgeneigt gewesen. Aber das hier war zu viel.
Irgendwann wurde es ihr zu bunt.
„Na schön, wenn’s denn unbedingt sein muss: Versuchen wir es halt noch mal: Ich bin die Jeannine.“
Sie sah ihm in die Augen, und einen Moment hatte sie den Eindruck, er hätte sie gar nicht wahrgenommen. Sie konnte ja nicht ahnen, dass er sich erst durch ein Meer von Eindrücken, Sinneswahrnehmungen und abstrusen Gedanken arbeiten musste. Nach und nach gelangte er an die Oberfläche und sah sie an.
„Ein … ein sehr schöner Name. Gefällt mir.“ Er war überrascht, dass die Worte ihm so einfach aus dem Mund sprudelten.
Jeannine war sichtlich erfreut – zum einen über das Kompliment und zum anderen, weil sie es langsam leid war, gegen eine Wand zu sprechen. Sie hatte schon daran gedacht, sich einfach umzudrehen und zu verschwinden. Jetzt aber, da er zum ersten Mal etwas gesagt hatte, ohne dass sie ihn darauf stoßen musste, verwarf sie diesen Gedanken.
„So, findest du, ja?“
Paul war wieder kurz sprachlos, rappelte sich aber auf und entgegnete schließlich: „Ja, das tue ich.“
Jeannine lächelte, und er wäre bei diesem Lächeln am liebsten aufgesprungen und ihr um den Hals gefallen. Mit einem Mal wollte er sie küssen. Er hatte eine schier unbändige Lust dazu. Er wollte seine Lippen auf ihre pressen. Gewiss würde sie süß schmecken, zuckersüß. Er musste schlucken, um auf andere Gedanken zu kommen. Es misslang ihm. Ihre Lippen gingen ihm einfach nicht aus dem Sinn. Reiß dich zusammen, verdammt, ihr kennt euch keine fünf Minuten, was meinst du wohl, wie sie reagiert, wenn du sie gleich küssen willst? Ich sag’s dir: Sie klatscht dir eine und geht! So sieht es aus, so und nicht anders! Also reiß dich zusammen! Rauch eine, das beruhigt. Stimmt, ’ne Zigarette wäre jetzt das Richtige.
Und da fiel ihm ein, dass er ja noch eine glimmende Kippe in der Hand hielt. Hastig führte er sie zum Mund und zog tief an ihr. Der Rauch tat ihm gut; augenblicklich fühlte er sich besser.
Mit einem Mal war der Barkeeper wieder da und sagte etwas, dass weder Jeannine noch Paul hörten. Sie ignorierten ihn. Entnervt versuchte er es noch einmal, aber auch diesmal ohne Erfolg. Wäre ja noch schöner, dass ich hier versaure, bis einer von euch sich herablässt und mich bemerkt, dachte er und donnerte die Getränke zwischen sie auf den Tresen. Ein Schluck Bier schwappte über. Mit hämischem Grinsen sah er, wie sie zusammenzuckten. Wortlos drehte er sich um und widmete sich anderen durstigen Kehlen.
Sie sahen sich verdutzt an.
Eine Sekunde verging.
Eine weitere Sekunde.
Und auf einmal prusteten beide los vor Lachen. Sie konnten sich gar nicht mehr halten und lachten, so laut sie konnten. Es war ihnen in diesem Moment egal, ob man sie befremdet anschaute. Es war ein Lachen, das unbedingt gelacht werden musste, weil sie sonst geplatzt wären wie zwei Luftballons. Und ein Lachen, unter dem ihre Unsicherheit dahinschmolz wie Schnee in der Sonne.
Eine Minute später lachten sie noch immer.
Ihre Blicke trafen sich, und sie lächelten einander an. Und als hätten sie es untereinander abgesprochen, griff jeder nach seinem Glas und trank einen Schluck.
Auf einmal verschwamm die Welt um ihn.
Zuerst hatte Paul den Eindruck, er wäre unter Wasser. Nach und nach wurde es immer trüber. So tief konnte kein Mensch tauchen, nie und nimmer. Und ehe er sich versah, stand er in der schwärzesten Dunkelheit. Nichts schien sie durchdringen zu können; nicht einmal der Hauch eines Lichtstrahls kam zu ihm. Er fühlte Furcht, aber es war nicht die Art von Furcht, die er kannte. Es war anders, er wusste nicht, wie …
Nicht nur die tiefschwarze Dunkelheit war beängstigend, nein, auch die Tatsache, dass kein einziges Geräusch an sein Ohr gelangte. Er war irgendwo inmitten dieser Schwärze. Er wusste nicht einmal, ob er aufrecht stand, saß oder lag. Nichts drang zu ihm außer den Geräuschen seines eigenen Körpers: das Blut, das durch seine Adern rauschte, das Herz, das wie wahnsinnig schlug und die Lungen, die so viel Luft einsaugten, dass sie ächzten.
Irgendwann, (wann genau, war unmöglich zu bestimmen, er hatte inzwischen jegliches Zeitgefühl verloren) tauchte am Horizont (war es überhaupt der Horizont, es konnte auch der Boden sein, mein Gott, es konnte alles Mögliche sein, sogar eine Wand!) ein kleiner heller Fleck auf. Es war unmöglich zu bestimmen, woher er so plötzlich kam; Paul wusste nur, dass er mit schier unvorstellbarer Geschwindigkeit näherkam. Und noch etwas konnte er mit Bestimmtheit sagen: Dass er sich so schnell wie möglich von hier verpissen wollte.
Er musste von hier weg, egal wohin. Irgendwohin, nur weg von diesem heranrasenden Punkt, der ihn zermalmen würde, wenn er ihn erreicht hatte. Das Dumme war nur, dass er genau das nicht konnte. Paul blieb, wo er war. Er hatte keine Möglichkeit zu entkommen. Wie auch? Er wusste ja noch nicht einmal, wo er war. Gab es hier überhaupt einen Ausweg, aus diesem gottverdammten Schwarzen Loch?
Paul erfasste Panik. Der Punkt schoss immer noch direkt auf ihn zu, wurde größer und größer. Anfangs hatte er die Größe einer Erbse gehabt, und schon wenig später die eines Baseballs. Er überschlug es kurz im Kopf: Logischerweise wird ein Gegenstand, je näher er kommt, größer. Und da ergibt sich die Frage: Wie groß wird er wohl sein, wenn er mich erreicht hat? Nach kurzem Hin und Her vermutete er, dass er nicht nur zermalmt, sondern zuerst pasteurisiert, in Atome zerlegt und schließlich zu Mus verarbeitet würde. Eine wahrlich erquickende Vorstellung.
Der Punkt war jetzt zu einem Gebilde von schätzungsweise zwei Metern Umfang herangewachsen. Oh Gott, oh Gott, wohin soll das noch führen? Vielleicht war es besser, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen.
Jetzt sah Paul noch etwas anderes und riss den Mund auf vor Überraschung: Im Inneren des Kreises war noch so etwas wie ein Kreis. Es sah aus wie ein dunkler matschiger Fleck. Paul spähte angestrengt. Er wollte es nicht, aber was hätte er sonst tun sollen? Wegsehen? Früher oder später würde er es ohnehin sehen.
Das Ding blieb ein dunkler matschiger Fleck. Entweder war die Entfernung noch zu groß oder der Fleck war genauso, wie er sich darstellte: dunkel und matschig. Paul wusste nicht, welche der beiden Möglichkeiten ihm lieber war. Er starrte so angestrengt, dass er schon fürchtete, die Augen würden ihm aus dem Kopf fallen. Vielleicht lag es ja daran, überlegte er (und das beruhigte ihn etwas), weil es so schnell näher kam. Vielleicht konnte er genau deshalb keine klaren Konturen erkennen.
Auf einmal richteten seine Nackenhaare sich auf. Der Grund dafür war so banal wie erschreckend: Alle Hoffnung, dass dies hier nur eine Illusion war oder ein schlechter Traum, verflog. Denn jetzt fühlte er einen Luftzug, sanft und noch schwach, leise. Aber vorhanden. Es war nicht zu leugnen: Der Wind wehte genau aus der Richtung, aus der das seltsame Gebilde auf ihn zugeschossen kam. Sein Verstand schloss, dass jener Luftzug die Luft war, die das fremde Gebilde vor sich hertrieb. Und noch etwas ging ihm durch den Kopf. Er hatte es an dem Geräusch erkannt, das der Wind erzeugte. Es klang hohl und dröhnend und … fast so, als befinde er sich in einem gigantischen Rohr. Das würde zumindest erklären, warum er so viel Wind abbekam.
Der Kreis war inzwischen noch größer geworden, und es schien, als hätte er kleine Ecken bekommen. Die Luft rauschte immer schneller heran und wurde eisig.
Paul schloss die Augen. Er hatte genug gesehen. Der Kreis, der gar kein Kreis mehr war, war verschwunden. Nur der Luftzug blieb. Er öffnete wieder die Augen und der Kreis war immer noch da, jetzt um ein einiges größer. Und auch die Ecken waren deutlicher zu erkennen. Allmählich nahm er die Form eines Tausendecks an, falls es das überhaupt gab. Sogar inmitten der Form wanden sich die Ecken. Und noch immer wurde das Gebilde größer und größer, und der Wind rauschte lauter und lauter.
Wenn nicht bald etwas passiert, dachte Paul, drehe ich durch. Scheißegal, ob es gut für mich ist oder schlecht, ich will, dass es endlich vorbei ist!
Er schloss die Augen ein zweites Mal. Er wollte sie erst wieder öffnen, wenn das hier vorbei war. Die Tatsache, selbst bestimmen zu können, ab wann man nichts mehr sah, war beruhigend. Sie war so tröstlich, dass er erleichtert ausatmete.
Wie von allein öffneten seine Augen sich wieder. Paul konnte es weder kontrollieren noch verhindern. Jetzt endlich war zu erkennen, was da auf ihn zugerast kam. Das Bild, das er sah, war so grotesk, dass er nicht anders konnte als laut zu lachen. Das Lachen dröhnte bis unter seine Schädeldecke, und das Echo drohte sein Gehirn zu zermatschen. Es war einfach zu absurd.
Das, was da mit ungeheuerlicher Geschwindigkeit auf ihn zugerast gekommen war, war nichts anderes als ein Zimmer. Ein stinknormales Zimmer. Bei dieser Vorstellung prustete er noch lauter.
Es war … ja, es war haargenau das Zimmer, in dem seine Odyssee in die Vergangenheit begonnen hatte. Und es sah noch genauso aus, wie er es verlassen hatte. Mit etwas Mühe konnte er sogar die zersplitterte Kaffeetasse auf dem Boden erkennen.
Das Toben des Windes schwoll an, wurde ein ohrenbetäubendes Kreischen und brach mit einem Mal ab. Ein Knall, als durchbreche ein Jagdflugzeug die Schallmauer. Und dann war alles ruhig. Viel zu ruhig.
Paul spürte, wie er mit hartem Aufschlag in der Wirklichkeit aufsetzte. Sein Trip in die Vergangenheit war zu Ende. Und das tat ihm fast leid. Er hörte sich selbst murmeln: „Junge, Junge, hab noch nie so einen realen Traum gehabt! Echt beängstigend!“
Er sah sich um, als hätte er das Zimmer, in dem er stand, noch nie zuvor gesehen. Am meisten verblüffte ihn, dass er mit dem Hinterteil auf den kalten Fliesen saß. Um sich nicht zu verkühlen, stand er auf.
„Mann, das war vielleicht ein Höllentrip! Ich brauch schleunigst was zu trinken.“ Er watschelte zum Kühlschrank, nahm sich ein Bier, setzte sich auf den Küchentisch und trank in aller Ruhe.
Dabei versuchte er, das soeben Erlebte Revue passieren zu lassen. Es war nur ein Traum gewesen, so viel stand fest. Es konnte gar nichts anderes gewesen sein. Ich muss eingeschlafen sein, dachte er. Und …. Mann oh Mann. Mir kreiselt es noch immer im Kopf rum …
Er nippte noch einmal am Bier, rülpste herzhaft und erhob sich vom Küchentisch. Seine Beine waren weich und schwammig; außerdem hatte er sich den Ellenbogen aufgeschürft. Der Teufel sollte ihn holen, wenn er wüsste, wann das geschehen sein sollte! Zitternd und wacklig wie ein neugeborenes Fohlen stand er da, und seine Beine drohten unter seinem Gewicht zu brechen wie Streichhölzer. Obwohl er einem Strohhalm im tosenden Orkan glich, überlegte er, sich noch ein Bier zu holen. In der Sekunde, in der er sich dazu durchgerungen hatte, wurde es plötzlich wieder schwarz um ihn, und das Letzte, was er sah, war ein kleiner, dunkler Punkt, der sich rasend schnell in der Dunkelheit entfernte …
Paul war wieder zurück. Er war wieder in seiner Vergangenheit. Aber etwas war anders. Nur was?
Und da bemerkte er es.
Zuvor hatte er das Geschehen um sich herum beobachtet wie einen Film. Er hatte den Freunden, Jeannine und natürlich auch sich selbst, bei ihren Handlungen zugesehen, mehr nicht. Jetzt war es anders. Jetzt sah er das Geschehen durch die Augen des jüngeren Paul, als säße er in dessen Kopf und blicke durch seine Augen. Nur eingreifen konnte er nach wie vor nicht – ein Umstand, der vielleicht sogar gut war. Was ihn noch mehr überraschte, war, wie Jeannine aussah. Sie hatte kein einziges Fältchen, kein graues Haar, nicht die kleinste Alterserscheinung. Vorher war ihm das nie aufgefallen. Er hatte sie ja jeden Tag gesehen, da entgeht einem die eine oder andere Veränderung. Aber da er jetzt ihr früheres jugendliches Gesicht vor Augen sah, bemerkte er jede Kleinigkeit, die sich in den Jahren verändert hatte.
Kunststück, dachte Paul, dass sie so frisch und saftig aussieht – in dem Alter kann man sich ja nicht mal vorstellen, älter zu werden! Trotzdem wird man es, und eines Tages ist von der jugendlichen Frische nichts mehr da und man wird einem runzligen Apfel immer ähnlicher.
„Darf ich dir eine Zigarette anbieten?“
„Klar darfst du.“
Einen Moment herrschte Schweigen.
„Stell dir vor“, begann Jeannine, „meine alten Leutchen haben verlauten lassen, Fluppen sind schädlich. Und mir soll bitteschön ja nicht einfallen, mit dem Rauchen anzufangen. Die beiden haben es gerade nötig! Qualmen selbst wie zwei Schlote! Nee, nee, nicht mit mir, sag ich dir!“
Paul sah sie ratlos an. „Wer oder was sind denn deine alten Leutchen?“
„Sag mal, wo kommst du denn her? Tiefstes Mittelalter oder einsame Insel? Ich schätze mal, es war die Insel, richtig? War’s ein lauschiges Plätzchen? Wie dem auch sei, hier und zum Mitmeißeln: Damit meine ich natürlich meine Eltern, meine Alten. Meine bucklige Verwandtschaft. Du verstehst?“
Paul errötete vor Verlegenheit. Dabei dachte er: Sie ist so süß, so zuckersüß. Kein Wunder, dass ich gerade so eine lange Leitung habe.
„Lass gut sein. Es gibt Tage, da schnall ich auch nichts.“
Jeannine wollte wieder Schwung in die Unterhaltung bringen, aber Paul, der das Gefühl nicht loswurde, sich auf die Knochen blamiert zu haben, wagte kaum noch, den Mund aufzumachen. Aber den Alleinunterhalter zu spielen, darauf hatte Jeannine auch keine Lust, und sie überlegte, was ihn wieder auf die Beine bringen würde.
„Sag mal, was ist das für ’n komisches Gesöff, was du da in dich reinschüttest? Ich Dummchen hab leider vergessen, wie das heißt.“
Augenblicklich hellte sein Gesicht sich auf.
„Das“, erklärte er bedeutungsschwanger und führte die Hand zum Glas, um ihm noch mehr Gewicht verleihen, „nennt sich Diesel.“
„Diesel?“
„Ja, Diesel.“
„Hm, so wie der Treibstoff, ja?“
„Haargenau so.“
„Und das soll gesund sein?“
„Na ja, wie man’s nimmt …“
„Hältst du es für eine gute Idee, dann hier zu rauchen? Ich meine, mit diesem Zeug im Glas?“
„Nein, nein, natürlich nicht so einen Diesel.“
„Ja, was denn für einen?“
Paul hatte langsam den Eindruck, sie wollte ihn verarschen. Saublöde Fragen kann dieses Weibsstück stellen, dachte er. Als ob er so was saufen würde! Aber Scheiß drauf! Sie sieht so gut aus, dass es schon fast verboten gehört. Und mal ehrlich: Du würdest so ziemlich alles machen, damit sie hierbleibt. Gib es zu! Du würdest sogar einen Kopfstand machen und mit deinem Arsch Fliegen fangen, wenn sie es von dir verlangt!
„Es ist Bier, gemixt mit Cola.“ Er sah sie prüfend an.
„Und das soll schmecken?“
Der Klang ihrer Stimme verriet, dass sie die Frage ernst meinte.
„Und ob das schmeckt! Willst du mal versuchen?“
„Hm … okay. Aber nur aus deinem Glas.“
Also reichte er ihr sein Glas. Sie trank zögernd. Ihr Blick inspizierte ihn von oben bis unten. Er genoss es. Ihre anfängliche Skepsis verflog. Schon nach zwei Schlucken trank sie alles andere als zögerlich. Paul sah ihr amüsiert zu. Es schien ihr so gut zu munden, dass sie kein einziges Mal absetzte und das Glas in einem Zug leerte. Und hinterher, als schon längst nichts mehr drin war, knallte sie es auf die Theke und sah ihn schuldbewusst an.
„Und? Hat es geschmeckt?“
Die Antwort war nicht ganz das, was er sich vorgestellt hatte. Sie rülpste. Und damit hätte sie es nicht besser ausdrücken können.
„Ups, hab ich etwa eben dein Glas leergetrunken?“
„Ja, so könnte man es nennen.“
„Tut mir echt leid.“
„Aber wieso denn? Das muss es nicht.“
„Echt nicht?“
„Nö. Wir bestellen einfach zwei: eins für dich und eins für mich. Was hältst du davon?“
„Jau, so machen wir’s. Diesmal aber auf meine Rechnung.“
„Wenn du meinst.“
Keine fünf Minuten später gab Jeannine dem Barkeeper das Geld und spendierte sogar noch eine Camel. Sie hatten sich die Sargnägel kaum ins Gesicht gesteckt, als zwei von Pauls Freunden angewankt kamen. Er hatte ihnen zwar schon von weitem zu verstehen gegeben, dass er sie im Moment nicht brauchen konnte, aber entweder kapierten sie es nicht oder dachten, die Bar ist schließlich für alle da.
„He, Paul, bist du an der Bar festgewachsen, oder was?“ Einer der beiden beugte sich zwischen ihnen zum Tresen hindurch und schien Jeannine gar nicht zu bemerken. Er schrie nach dem Barkeeper und stützte sich lässig mit dem linken Arm am Tresen ab. Dieser Rüpel hieß (oder sagt man: heißt? Der ältere Paul wurde immer konfuser in der Birne) Thomas. Und da bemerkte er Jeannine.
Thomas war schon immer ein Aufschneidertyp gewesen. Erschwerend kam hinzu, dass er immer alles hinausposaunte, was ihm so in den Sinn kam. Eine Mischung, mit der er nicht immer leicht zu ertragen war.
Thomas also sah Jeannine von oben bis unten an, und nach eingehender Untersuchung verkündete er sein Ergebnis, indem er anerkennend pfiff. Sofort war Paul vergessen, und er richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf Jeannine. Eine Sekunde lang sah er sie an und sprach kein Wort; anscheinend versuchte er das nun Folgende durch eine Kunstpause anzukündigen.
„Was macht denn so ein hübsches Ding wie du so allein an der Bar?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, plapperte er weiter. „Du bist ja der Höhepunkt auf dieser Party, der Himmel steh mir bei, ja, das bist du!“
„Ach ja? Bin ich das?“ Nichts an ihr ließ auch nur irgendeine Gefühlsregung erkennen.
Thomas, der glaubte, soeben den genialsten, kreativsten, unwiderstehlichsten Spruch aller Zeiten gebracht zu haben, war irritiert. Aber er würde ihren wunden Punkt schon noch finden. Er musste nur genug Süßholz raspeln, bis ihr vorgetäuschter Widerstand (und das war er zweifellos) dahinschmelzen würde wie Schnee in der Sonne. Schließlich konnte keine ihm widerstehen. Bei seinem Charme, seinem Sex-Appeal! Er, Thomas, hatte schließlich das gewisse Etwas, das, was Frauen wollten – obwohl er nicht den blassesten Schimmer hatte, was das eigentlich sein sollte. Er war nur überzeugt, es zu haben. Hauptsache war, wenn man eine Tussi abschleppen wollte, dass man interessiert tat, immer ein offenes Ohr hatte und ihr genau sagte, was sie hören wollte. Und das war immer das Gleiche. Thomas konnte es auswendig herunterbeten: dass sie schöne Augen hatte, dass sie schönes Haar hatte, dass sie einen sagenhaften Körper hatte, dass ihre Intelligenz bestechend war und, und, und. Immer dasselbe Schema, keine große Kunst. Er hatte es drauf. Und er war gewillt, es auch bei ihr anzuwenden. Und wenn er das erst tat, würde sie sich ihm hingeben. Ihr blieb gar nichts anderes übrig. Schließlich war er, Thomas, die Reinkarnation Casanovas – oder zumindest dessen würdigster und talentiertester Nachfolger. Und wenn er genug Spaß mit ihr gehabt hatte, würde er getreu dem Motto Andere Mütter haben auch hübsche Töchter erst todtraurig aus der Wäsche gucken, irgendwas faseln von unüberwindbaren Differenzen (das kam auf die Situation an und würde sich schon zeigen; was das anging, war er flexibel), sie fallen lassen und wie ein geölter Blitz dem nächsten Rockzipfel hinterherjagen. Ja, man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass Thomas ein kleiner, mistiger Schweinehund war. Und er stimmte sogar jedem zu, der ihm das ins Gesicht sagte. Natürlich erst, nachdem er ihm die Fresse poliert hatte.
Das Seltsame an der Sache war, dass Thomas (ihn als Freund zu bezeichnen, war weithergeholt, man kannte sich halt) beängstigend oft bekam, was er wollte – obwohl er nicht mal besonders gut aussah und sein Charakter oder zumindest sein Verhalten den weiblichen Geschöpfen gegenüber zu wünschen übrig ließ. Und obwohl er wahrlich keine Augenweide war und viele seiner Ansichten direkt aus der Steinzeit zu kommen schienen.
Paul hoffte inständig, dass er diesmal keinen Erfolg haben würde.
Thomas also spulte sein Programm runter, während Paul abschätzte, was wohl passieren würde, wenn er dem Scheißkerl einfach das Bierglas über die Rübe zog. Das Ergebnis war niederschmetternd. Er machte sich keine Hoffnung, ihn überwältigen zu können. Dazu war Thomas zu groß und zu kräftig. Er musste ihn beim ersten Hieb töten, um eine Chance zu haben.
„Ja, das bist du wirklich“, laberte Thomas inzwischen weiter. „Schon auf dem Weg hierher habe ich es gewusst. Ich sagte mir, Thomas, hab ich zu mir gesagt: Heute triffst du deine Traumfrau. Die wahre und einzige in deinem ganzen Leben. Und“, er machte eine Pause (offenbar, um der Dramatik Zeit zum Wirken zu geben), „wie du siehst, traf alles ein.“
„Rattenscharf“, war der einzige Kommentar, den Jeannine dafür erübrigte. Dabei sah sie so ernst drein, dass sich Paul ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen konnte. Allerdings war Thomas gar nicht amüsiert. Er fühlte sich zutiefst in seiner Ehre als Aufreißer verletzt. Er hatte Widerstand erwartet, und in aller Regel genoss er ihn sogar. Schließlich durfte die Jagd nicht zu leicht sein. Wo kämen wir denn da hin, wenn jede ihm einfach so in die Arme rannte?