Читать книгу: «Die letzte Seele», страница 11
Kapitel 4
4. Kapitel
Es verging Zeit, bis Sabine den Tod ihrer Tochter verwunden hatte. Verwunden ist wahrscheinlich der falsche Ausdruck; nicht mehr ständig davon gequält zu werden, träfe wohl eher zu. Der Schmerz saß tief, so tief, dass er ihr zeitweilig noch immer den Verstand zu rauben drohte. Doch sie machte damit ihren Frieden, sie ließ ihn zu. Sie hatte das Schlimmste hinter sich; von nun an konnte es eigentlich nur noch bergauf gehen.
All diese schrecklichen Erinnerungen jedoch waren mit dem Einschläfern des Pferdes, mit seinem Tod, plötzlich wieder auf sie eingestürzt, und das war einfach zu viel gewesen. Manchmal genügte ein Wink, ein Fingerzeig, irgendetwas, es musste nicht einmal groß sein, um ihr die Schmerzen, das Leid, die Trauer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Dann waren sie wieder da, obwohl sie längst geglaubt hatte, sie überwunden zu haben. Und dann, von einer Sekunde auf die nächste, war sie wieder am Boden zerstört. Dann war sie wieder in dem schrecklichen dunklen Loch, das sich Verzweiflung nannte.
Der Wind zerwühlte ihr Haar, spielte damit und trocknete zugleich ihre Tränen. In der letzten Zeit hatte sie wahrlich viel geweint. Zu viel für ein Leben. Eigentlich sollte es nun genug sein. Ihr Leben konnte nicht nur aus Tränen bestehen. Da musste es doch auch noch etwas anderes geben. Irgendwann musste auch sie wieder lachen können, auch wenn es ihr im Moment unmöglich erschien.
Sie wartete ein paar Minuten, horchte in sich hinein, ob der Weinkrampf noch einmal ausbrechen wollte (manchmal tat er das: Sie glaubte, ihn überwunden zu haben, und dann brach er wieder los); dann drehte sie dem Meer den Rücken zu und ging langsamen Schrittes zurück zum Haus. Das Rauschen der Wellen begleitete sie noch ein Stück, wurde aber mit jedem Schritt schwächer und schwächer und verschwand schließlich.
Auf dem Hinweg hatte sie Vögel zwitschern gehört, doch jetzt schwiegen sie. Sie sah zerstreut auf ihre Armbanduhr und erschrak: Als sie zum Strand hinuntergegangen war, war es früher Vormittag gewesen – und jetzt war es später Abend. Doch nicht dies erschreckte sie, sondern die Dunkelheit, die sich langsam um sie ausbreitete. Sabine hatte nichts von ihr mitbekommen; viel zu sehr war sie in ihre Gedanken vertieft gewesen. Konnte man sich wirklich so vergessen, dass einem selbst etwas so Alltägliches wie der Untergang der Sonne entglitt?
Normalerweise hätte sie in der Dunkelheit hier draußen Angst gespürt. Aber nicht heute. Heute schien ein besonderer Tag zu sein. Vielleicht wurde heute alles besser? Der Tod ihrer ungeborenen Tochter konnte zwar nicht ungeschehen gemacht werden, aber ihr schien plötzlich, als hätte sie eine Stufe erreicht, auf der sie mit dem Schicksalsschlag würde leben können. Und das war gewiss die Voraussetzung, um ein einigermaßen glückliches, zufriedenes Leben führen zu können. Ab heute, da war sie sich sicher, würde es wieder bergauf gehen. Und weil sie so fühlte, war sie nicht nur ohne den kleinsten Funken von Angst, nein, sie war hervorragender Stimmung. Sie fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr.
Sabine kam über die Anhöhe, erblickte das hellerleuchtete Anwesen ihres Vaters und wusste, dass sie ein neues Kapitel aufgeschlagen hatte.
Sie lief noch ein paar Meter weiter und blieb plötzlich stehen. Sie stand wie angewurzelt da, bevor sie wusste, wie ihr geschah. Warum sie so abrupt stehen blieb, wusste sie nicht. Irgendetwas war vor ihrem geistigen Auge aufgetaucht, doch noch ehe sie danach greifen konnte, war es wieder verschwunden. Was konnte es gewesen sein?
Sie überlegte, was es war. Was konnte so wichtig gewesen sein? Und wichtig war es zweifellos. Was, in drei Teufels Namen?
Wie ein Steingötze stand sie da, unbeweglich und mit ernster Miene. Sie nahm weder die Dunkelheit um sie herum wahr noch die Kälte, die langsam durch ihre Kleider drang. Alles in ihr konzentrierte sich so sehr, dass sie nichts davon bemerkte. Alle ihre Zellen richteten sich auf diesen einzigen Punkt aus.
Und ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel, fiel es ihr wieder ein, und schlagartig begriff sie auch, warum sie es vergessen hatte: Es war genau der Tag, an dem sie ihre Tochter verloren hatte. Damals hatte ihr der Vater etwas sagen wollen. Etwas, das ihn, sie selbst und ihre Familie betraf. Etwas, bei dem ihr alter Herr ganz anders gewesen war als sonst. Wie, konnte sie nicht in Worte fassen. Aber auf jeden Fall anders. Auf beunruhigende Art anders.
Jetzt, da es ihr wieder eingefallen war, fragte sie sich, wie sie es eigentlich hatte vergessen können. Doch im selben Augenblick, als sie sich die Ereignisse, die zeitgleich geschahen, wieder ins Gedächtnis rief, beantwortete sich ihre Frage von selbst.
Sabine atmete einmal tief ein und wieder aus. Der Atem wurde vor ihrem Gesicht zu einer weißen Wolke, die sich rasch auflöste. Nun wurde sie auch der Kälte gewahr und entschied sich, endlich hineinzugehen, einen heißen Tee zu trinken, dabei ein gutes Buch zu lesen – und ganz nebenbei ihren alten Herren zu fragen, was es denn so Wichtiges gab, das ihre ganze Familie betraf.
So in etwa stellte sie es sich vor, doch als sie im Inneren des Hauses war, gewann ihre Neugier schnell die Oberhand, und sie verzichtete auf den Tee – was nun wirklich unvernünftig war, denn sie war durchgefroren und glich einem Eisklotz auf zwei Beinen. Das Buch, das sie hatte lesen wollen, sah sie nicht einmal an und stürmte stattdessen ins Lesezimmer ihres Vaters.
Der Vater saß im Schaukelstuhl und hielt ein Buch in den Händen. Ihn einmal nicht in einem solchen Stuhl anzutreffen, war alles andere als einfach. Er liebte diese Dinger und hatte in fast jedem Zimmer einen aufgestellt. Besuchern, die ihn darauf ansprachen, erklärte er, dass er sie für unglaublich bequem halte.
Als Sabine wie ein Wirbelwind hereingestürmt kam, sah er sie über die Lesebrille hinweg erstaunt an. „Kindchen, da bist du ja endlich! Wo warst du denn die ganze Zeit?“
Zwei Dinge konnte Sabine an ihrem Vater nicht ausstehen: Wenn er sie wie einen Teenager behandelte, schwoll ihr jedes Mal die Galle bis auf Kürbisgröße. Das war aber noch nichts verglichen mit dem, was sie am meisten hasste. So richtig in Rage geriet sie, wenn er sie Kindchen nannte. Dann war wirklich alles zu spät, und sie fürchtete, gleich Amok zu laufen. Auch diesmal spürte sie, wie ihre Magensäure gefährlich anstieg …
Doch statt einen Wutausbruch zu bekommen, biss sie die Zähne zusammen, schluckte ihren Groll hinunter und sah ihren Vater unverhohlen an. Das war das einzig Richtige, was sie tun konnte, denn Wut wäre der falsche Begleiter gewesen; sie hätte mehr geschadet als genutzt. Sabine beherrschte sich sogar so weit, dass es ihr gelang, ein Schmunzeln auf ihre Lippen zu zaubern. Sie beschloss, seinen Kommentar zu ignorieren.
„Hi, Dad. Du liest ein Buch? Schön. Ist es gut? Ich hoffe, es ist kein lahmer Schinken?“ Sie plauderte drauflos wie ein Wasserfall. Ihr Vater konnte ihr kaum folgen. „Wie war dein Tag? Erzähl doch mal!“
„Ist alles mit dir in Ordnung?“, fragte der Vater, und in seiner Stimme schwang Sorge mit.
„Freilich. Was soll mit mir nicht in Ordnung sein?“
Er suchte offensichtlich nach Worten. Seine Augen und sein ernstes Gesicht ließen erkennen, dass er überlegte, was er sagen sollte. Er dachte nach, entschied sich für etwas, sann noch einmal nach und verwarf es schließlich wieder. Schließlich platzte er doch heraus mit der Sprache.
„Na ja, wegen deinem Pferd. Der Gaul. Du weißt schon.“
Von allen Möglichkeiten, die er hatte, musste er ausgerechnet die Holzhammermethode wählen. Gute Wahl, dachte Sabine sarkastisch. Jetzt, da es raus war, biss er sich auf die Lippen. Er hätte wirklich sanfter mit ihr umgehen können. Schließlich hatte sie ihren Gaul, wie er ihn nannte, ins Herz geschlossen. Sie entschloss sich, auch das zu ignorieren. Sie kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass er es nicht böse meinte. Es war nur seine Art, das Kind beim Namen zu nennen. Manche Menschen mochten sich daran stoßen, aber so war er eben: Immer mit dem Kopf durch die Wand und munter drauflos geschwatzt.
„Es … es tut weh“, war ihre knappe Antwort.
„Komm, setz dich zu mir. Du siehst müde aus, mein Kleines.“
Da war es schon wieder. Er hatte es tatsächlich schon wieder gesagt, obwohl er genau wusste, dass es sie auf die Palme brachte. Warum tut er das, überlegte Sabine. Allmählich kam ihr der Gedanke: Er tut es mit Bedacht. Aber nein, nein. Das tut er bestimmt nicht. Oder doch?
„Nein, nein. Lass gut sein. Es geht schon. Mir geht’s wirklich gut.“
„Sicher?“
„Ja, ganz sicher. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen.“
Er sah sie noch um einiges eindringlicher an, legte die Stirn in Falten und versenkte seinen Blick schließlich wieder in das Buch vor ihm. Ein unverständliches Blubbern kam aus seinem Mund. Aber Sabine verstand ihn.
„Na gut, wenn’s so ist, dann ist’s gut. Und wenn nicht, dann komm halt wieder vorbei.“
Eine Minute verharrten sie so. Sabine stand da wie eine Statue, und ihr Vater las. Er war so vertieft, dass er sie gar nicht mehr wahrnahm. Er glaubte, sie hätte das Zimmer verlassen.
Und so verging eine Minute.
Und dann noch eine.
Und schließlich noch eine.
Sabine räusperte sich, und erst jetzt bemerkte ihr Vater, dass sie nicht gegangen war.
„Ähm … ist sonst noch irgendwas?“
„Warum? Wie kommst du darauf?“
„Oh, ganz einfach. Weil du wie ein Ölgötze hier rumstehst und Maulaffen feil hältst! Das sieht dir gar nicht ähnlich. Also, heraus mit der Sprache: Was bedrückt dich?“
Sabine grinste. Hatte sie das wirklich getan? Davon hatte sie gar nichts mitgekriegt.
„Nun ja …“, begann sie, aber das war auch schon alles.
„Was du nicht sagst! Dann ist ja alles klar“, spottete ihr Vater. Kein feiner Zug von ihm, aber so war er nun mal. Das ist durch Prügel nicht mehr zu korrigieren, ging es ihr durch den Kopf, aber bei dem Gedanken, sie würde hinter ihrem alten Herren her wetzen, einen Gürtel in der Hand, musste sie grinsen.
„Als ich eben auf dem Heimweg war, fiel mir ein, dass du mir mal was erzählen wolltest. Es hatte irgendwas mit unserer Familie zu tun. Ich glaube, es war zu der Zeit, als ich meine Fehlgeburt hatte. Ja, ich glaube, da war es“, bestätigte sie es sich selbst und fuhr dann fort: „Bis eben hatte ich es total vergessen. Wahrscheinlich hatte ich den Kopf mit anderen Dingen voll (ach was, sprach da ihre innere Stimme, du hast doch bloß den Tod deiner ungeborenen Tochter und den ihres Vaters betrauert! Im Großen und Ganzen also nichts Besonderes, wie? Hahahaha). Wie dem auch sei: Jedenfalls dachte ich mir, wenn es meine Familie betrifft, geht es auch mich was an. Das ergibt sich zwangsläufig, findest du nicht auch?“
Während sie sprach, wurde das Gesicht ihres Vaters immer leerer und ausdrucksloser, fast schon erschreckend. Im Gegensatz zu ihr konnte er sich an die Situation im Krankenzimmer gut erinnern. Viel zu gut. Wie so oft hatte sein Mund schneller gearbeitet als sein Gehirn; es war ihm einfach so rausgerutscht. Am liebsten hätte er es rückgängig gemacht. Er war damals in einer deprimierten Stimmung gewesen und nach all diesen Tragödien so sentimental und rührselig, dass er sein altes Schandmaul nicht im Zaum hatte halten können. Doch kaum, dass er ihr Zimmer verlassen hatte, hatte er sich einen alten Tölpel geschimpft. Vielleicht, dachte er damals, rieselt mir doch schon Kalk durch die Adern. Und als dann Sabine entlassen wurde, kam sie nicht mehr darauf zu sprechen; sie musste mit anderen Dingen fertigwerden. Es erleichterte ihn ungemein, doch gleichzeitig fürchtete er den Tag, an dem ihre Erinnerung zurückkehren würde. Allem Anschein nach war er jetzt gekommen. Das hast du nun davon, alter Narr.
„Es ist besser, wir lassen das.“
„Aber damals …“
„Damals hätte ich fast einen Fehler begangen – und das bereue ich. Ich weiß, dass ich nicht damit hätte anfangen dürfen. Aber die Situation … du weißt schon, was ich meine, war auch für mich zu viel. Auch ich war überfordert, und als Konsequenz davon ist mir das herausgerutscht. Das tut mir leid. Ich bin nichts als ein geschwätziger alter Narr.“
„Aber … aber …“
„Nichts aber. Glaub mir, es ist besser, wenn du diese Unterhaltung aus deinem Gedächtnis streichst. Tu einfach so, als hätte es sie nie gegeben. Und jetzt geh!“
Fast wäre Sabine tatsächlich gegangen; der grobe Ton erschreckte sie. So ungehobelt hatte sie ihn noch nie erlebt. Erst als sie bereits die Türklinke in der Hand hatte, besann sie sich, dass sie keine acht Jahre mehr war und ihr Vater ihr nichts mehr zu befehlen hatte. Sie wartete noch eine Sekunde, füllte ihre Lungen mit Luft und drehte sich langsam wieder um. In ihren Augen stand wilde Entschlossenheit (sie blitzten einem geradezu entgegen), und ihr Gesicht war hart wie Stein. Ihr alter Herr konnte davon freilich nichts sehen, denn seine Augen hatten im Laufe der Jahre nachgelassen.
„Hör zu, Daddy! Ich bin kein kleines Mädchen mehr!“
Der Klang ihrer Stimme überraschte sie beide, Sabine sogar noch mehr. Sie strotzte geradezu vor Entschlossenheit und Willensstärke. Und ihre Stimme, die kein bisschen zitterte oder schwächlich klang, bewirkte, dass sie sich ihrer Entscheidung sicher war. Jeder Zweifel wurde von dieser Stimme weggewischt wie ein Schmutzfleck von einer Fliese. Und da sie in ihrem Selbstvertrauen um einige Punkte nach oben geschnellt war, gab es jetzt kein Zurück mehr.
„Ich bin kein kleines Mädchen mehr“, begann sie von neuem.
„Ja, ich weiß. Aber …“
„Warum behandelst du mich dann so?“
„Aber Kindchen, das tue ich doch gar nicht. Das bildest du dir ein.“
„Da! Schon wieder! Du tust es schon wieder!“
„Was denn? Was tue ich schon wieder?“
Gott, konnte man wirklich so begriffsstutzig sein? War das möglich? Oder war es nur ein Ablenkungsmanöver? Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr Vater so was versuchte. Es war schon immer eine Unart von ihm gewesen, unangenehmen Fragen auszuweichen. Aber diesmal werde ich den Spieß umdrehen. Nicht mit mir, mein Lieber. Diesmal nicht!
„Ach, vergiss es einfach. Das interessiert mich nicht im Geringsten.“
Ihr Vater zuckte zusammen. Nicht viel, aber Sabine nahm es befriedigt und mit Genugtuung zur Kenntnis. Sie hatte also recht gehabt mit ihrer Vermutung: Er wollte vom Thema ablenken. Aber nicht diesmal. Oh nein, diesmal nicht! Es wird allmählich Zeit, fortzufahren, wurde sie von ihrer inneren Stimme ermahnt, sonst verschwendest du noch mehr Zeit. Und wer weiß, was dann passiert? Recht hat sie, pflichtete Sabine ihr bei und erhob ihre Stimme wieder gegen ihren Vater, ebenso fest und sicher wie zuvor.
„Lass uns den Scheißdreck am besten vergessen! Schmeiß alles, was dir Sorgen bereitet, über Bord, all die Ängste und Bedenken, wirf sie einfach weg und erzähl mir, was es damit auf sich hat. Komm schon! So schwer kann das doch nicht sein!“
„Du hast ja keine Ahnung …“
Er sank ein wenig tiefer in seinen Schaukelstuhl. Auch das erfüllte sie mit Genugtuung. Aber es erwies sich als lange nicht so befriedigend wie beim ersten Mal.
„Warum ist es so schwer? Erzähl es mir! Was soll so schwer daran sein?“
„Weil es … Wenn es nicht so schreck … Vielleicht bleibt es ja aus. Vielleicht hast du ja Glück und es verschont dich.“
Sie sah, dass er sich auf die Lippen biss. So heftig, dass ein Tropfen Blut aus ihnen quoll. Jetzt erwog sie ernsthaft, es zu vergessen, die ganze Sache abzublasen. So wie er reagierte, musste es etwas Schlimmeres sein als irgendein schmutziges kleines Familiengeheimnis. Etwas Gewichtigeres als ein ordinärer Obstdiebstahl aus Nachbars Garten. Ja, so viel stand fest. Aber so einfach konnte sie die Sache nicht vom Tisch fegen und zum Alltag zurückkehren. Ihre Neugier war geweckt, und wenn das erst einmal geschehen war, brauchte es mehr als eine aufgeplatzte Lippe, bis sie davon ablassen würde.
„Was wird mich vielleicht verschonen?“
Der Schaukelstuhl war mit einem Mal so groß wie das Universum und ihr Vater darin so klein wie ein Meteoritensplitter in den schwarzen Tiefen des Alls.
Was habe ich nur angerichtet, fauchte es in ihm. Wie konnte ich das nur tun? Was ist mit mir los? Wie konnte ich mich so von ihr übertölpeln lassen? Ich muss völlig verkalkt sein. Doch halt: Noch ist ja gar nichts ausgesprochen. Noch habe ich eine Chance. Noch weiß sie nicht das Geringste. Ich muss nur ein bisschen vorsichtiger sein und ihr irgendeinen saftigen Brocken hinwerfen – einen, der vor Neuigkeiten nur so trieft. Es muss nur ihr Interesse wecken, mehr nicht. Doch wo gab es etwas, was dazu imstande wäre? Fieberhaft überlegte er.
„Was wird mich vielleicht verschonen?“
Diesmal klang ihre Stimme noch fordernder. Langsam ging sie auf ihn zu, näherte sich Schritt für Schritt. Und ihr Vater wurde kleiner und kleiner. Eigentlich hatte er es selbst zu verantworten, dass seine Tochter es unbedingt wissen wollte. Schon seine Haltung, sein Äußeres verrieten, dass er etwas vor ihr verbarg. Wie er unruhig die Hände ineinander rieb, sich selbst verstohlen über die Schulter blickte, als sitze da jemand hinter ihm! Wie ihm der Schweiß von der Stirn rann! Das alles spornte sie nur noch mehr an. Nur, was war es? Es musste wirklich etwas Hundsgemeines sein, sonst würde er kaum so ein Affentheater veranstalten.
„Dad, du bist es mir schuldig. Du musst es mir einfach sagen. Ich verlange, dass du es mir sagst! Auch wenn es schrecklich ist, du musst es mir sagen! Du musst einfach!“
Ihre Stimme klang wie eine Kreissäge, die sich mühsam durch steinhartes Holz fräst. Sie kreischte, aber nicht so, wie man es tut, wenn man etwas will, es aber nicht bekommt, sondern wie jemand, der kurz vor einem apokalyptischen Wutausbruch steht. Das Kreischen bewirkte, dass ihr Vater noch mehr in sich zusammensackte, so sehr, dass er jetzt nicht einmal mehr der Gesteinssplitter eines winzigen Meteoriten war. Es fehlte nicht viel, und er hätte sich in Luft aufgelöst, wäre verglüht wie eine Sternschnuppe beim Eintritt in die Atmosphäre. Ist doch echt erstaunlich, was eine Stimme so alles bewirken kann.
Doch auf Sabine macht all das keinen Eindruck. Sie beschloss, auch weiter alles zu riskieren. Bis jetzt lief es gut. Sie musste nur weiter ihren Standpunkt vertreten und ihn irgendwie durchboxen. Dann würde alles zu ihrer Zufriedenheit ablaufen.
Pause! Pause! Pause!, hämmerte es in Pauls Hirn. Schluss! Eine Pause! Ich brauche eine Pause! Dringend!
Paul hatte seit Stunden geschrieben. Er war gleich nach der Morgentoilette in sein Arbeitszimmer gegangen, hatte hinter sich alles verriegelt und verrammelt (was unnötig war, er war ja allein im Haus), hatte das Fenster sperrangelweit aufgerissen, eine Kanne frischen Kaffee neben sich platziert und seitdem wie ein Besessener auf seinem Notebook herumgehämmert.
Seine Fingergelenke sandten bereits dumpfe Schmerzwellen aus. Sie drangen zwar bis zu seinem Gehirn vor, da es aber überlastet war, bemerkte es davon nichts. Nur sein Rücken und Nacken schafften es, auf sich aufmerksam zu machen. Sie fühlten sich an, als wären sie mit einem Kaktus gepeitscht worden. Davon registrierte er etwas, wenn auch nur verhalten und schwach – wie ein Blick durch Wasser, trüb und verzerrt.
Er trank den letzten Schluck Kaffee und verzog die Mundwinkel; er war eiskalt und bitter. Angewidert stellte er die Tasse zurück und erhob sich langsam. Diesmal waren die Schmerzen stärker. Kunststück, dachte er, diesmal bist du ja auch in der verdammten Realität und nicht noch halb in deiner Phantasiewelt versunken. Du weißt schon, was ich meine, nicht? Ich rede von der Welt, in die man eintaucht, wenn man schreibt. In einer Welt, in der alles möglich ist, was man nur will. In der du einen Drachen besteigen kannst, ohne dass er dir den Hintern verkohlt. In der du …
Paul unterbrach den Gedankengang mitten im schönsten Plaudern. Das war zwar nicht nett von ihm, aber er bezweifelte, dass das zu den Todsünden gehörte. Wie ein Kartoffelsack ließ er sich wieder auf den Stuhl plumpsen, wobei es verdächtig ächzte. Was soll’s, ging es ihm durch den Kopf, ich bin halt auch nicht mehr der Jüngste. Es war erschreckend, wie endgültig und unabänderlich dieser Satz war. Noch mehr erschreckte ihn, dass es ihn nicht im Geringsten zu stören schien. Früher hatte er sich die Zukunft immer mit gemischten Gefühlen ausgemalt. Er hatte einen Riesenbammel davor gehabt, älter zu werden. Wohin würde ihn das bringen, dieses pausenlose Altern? Zweifellos zum Tode, so viel war sicher. Aber der Tod war es nicht, der ihn ängstigte. Damit konnte er sich abfinden. Er fürchtete den Weg, der ihn zu ihm führen würde. Dieser Weg enthielt allerlei Gefahren, und je älter man wurde, umso gefährlicher wurde er. Als ob er einem nicht die kleinste Chance lassen wollte, das Ganze heil zu überstehen. Allein schon der Gedanke an die vielen Krankheiten, die auf diesem Weg lagen, ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Da gab es Krebs und Diabetes, Herzinfarkte und Schlaganfälle, alles schnuckelig schöne Überraschungen, die das Leben bereithielt. Oder was war, wenn er ein Pflegefall wurde? Oh Gott, oh Gott, bitte bewahre mich davor! Wegen der finanziellen Dinge machte er sich keine Gedanken (er war ja nicht unbedingt das, was man einen armen Schlucker nennt), aber er war überzeugt davon, den Verstand verlieren zu müssen, wenn man ihn wie einen Säugling füttern und wickeln musste. Da zog er den Tod mit seiner Endgültigkeit doch vor. Aber warum dachte er überhaupt jetzt über so etwas nach? Noch war es nicht so weit!
Paul schüttelte heftig den Kopf, um die Gedanken aus ihm herauszuschleudern. Er hatte dabei Ähnlichkeit mit einem Hund, der sich nach einem Regenguss das Fell schüttelt. Fehlte nur die wackelnde Rute. Nachdem sein Kopf wieder einigermaßen klar war, las er sich durch, was er eben geschrieben hatte. Es war eine ganze Menge, und es erfüllte ihn, wie jedes Mal, mit Freude und Stolz.
Als er damit fertig war, speicherte er es zur Sicherheit noch einmal, fuhr den Laptop herunter und blieb noch zwei, drei Minuten am Schreibtisch sitzen. Er saß einfach nur da. Sein Kopf war leer, nichts schmerzte, weder körperlich noch seelisch. Er genoss die Ruhe und war mit sich und dem Geschaffenem zufrieden. Vergessen war das schmerzende Erlebnis vom Vortag. Vergessen und weit entfernt. Es zählte einfach nicht mehr. Sollte geschehen, was geschehen sollte.
Er erhob sich schwungvoll vom Stuhl, und seine Knochen knackten wieder bedrohlich. Er hatte nicht nur Hunger, er hatte mörderischen Kohldampf. Noch vor Sekunden hatte er davon nichts gespürt, aber jetzt war es da: Sein Magen knurrte wie ein Grizzlybär. Paul horchte kurz in sich hinein, wonach ihm der Sinn stand. Er war hin- und hergerissen zwischen Griechisch, Italienisch, Chinesisch und Indonesisch. Schließlich entschied er sich für eine Pizza mit ordentlich Salami, Käse, Zwiebelringen bis zum Abwinken und einer riesigen Portion Schinken. Oh ja, das wäre jetzt genau das Richtige! Sie drehte sich vor seinem inneren Auge, dampfte heiß und verströmte einen unwiderstehlichen Geruch.
Sein Magen war ein gigantisches schwarzes Loch, das gefüllt werden musste. Keine Zeit verlieren! Er flitzte aus dem Arbeitszimmer, steckte schon eine Sekunde später in den Schuhen, und kurz darauf schloss er die Wagentür und startete den Motor.
Eine Stunde später saß er wieder am Laptop, neben ihm eine Dose Coke. Im Aschenbecher glomm eine Kippe vor sich hin. Er war gesättigt und begierig darauf, weiterzuschreiben. Diesmal gelang es ihm jedoch nicht so schnell und problemlos, in die Handlung einzutauchen. Ob es an der fettigen Pizza lag oder an der Übermüdung, die sich langsam in ihm breitmachte, konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Er ließ jedoch nicht locker und versuchte es immer und immer wieder. Seine Augen waren konzentriert auf den Bildschirm gerichtet, aber sie konnten nichts sehen; sie starrten ins Leere. Seine Finger ruhten auf der Tastatur und warteten darauf, endlich mit der Arbeit beginnen zu dürfen. Auch früher war es ihm oft schwer gefallen, nach einer Pause wieder an den Verlauf einer Geschichte anzuknüpfen. Darüber machte er sich keine Sorgen. Er wusste, wenn er es nur weiter hartnäckig versuchte und nicht lockerließ, würde es ihm gelingen. Und wenn es soweit war, würde es sich anfühlen wie ein LSD-Trip: Alles um ihn herum würde verschwimmen, undeutlich werden und schließlich gänzlich verschwinden. Und dann würde er geschehen, der Moment des Eintauchens. Der Moment, der für ihn wie eine Droge war. Es begann immer gleich: Die Realität glitt zwischen seinen Fingern dahin, erst langsam und gemächlich, dann schneller und schneller, bis er von seiner eigenen Kreativität verschluckt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles unspektakulär. Aber dann trat der Rausch ein. Dann war Paul in seiner Welt. In einer Welt, die er einzig und allein mit der Macht seiner Gedanken erschuf. Hier war alles genau so, wie er es haben wollte. Hier war ihm alles vertraut, obwohl ihn vieles, was er sah, auch erschreckte. Wohin die Erzählung ihn führte, wie sie verlief, all das war ein wenig bedrohlich, obwohl das eigentlich unmöglich war. Schließlich entstand sie in seinem Kopf. Und genau das machte den Reiz des Schreibens aus. Das war der Grund, warum es ihm immer noch, sogar nach all den Jahren, Spaß machte. Nicht des Geldes wegen. Das schon lange nicht mehr. Obwohl er nach wie vor nicht schlecht davon lebte. Es war sein Hobby und gleichzeitig sein Beruf – oder vielmehr seine Berufung. Es wurde ihm nie langweilig und erst recht nicht eintönig. Kurz gesagt, es war sein Traumberuf, der ihn befriedigte und erfüllte, der fast mehr ein Hobby war als ein Beruf. Was will man mehr?
Mit einem Mal bewegten sich seine Finger. Sie drückten ein paar Buchstaben, betätigten ein paar Tasten, und heraus kam schließlich ein Wort, frech und provozierend auf dem Bildschirm blinkend. Es war ihm gelungen, er hatte wieder einmal das Tor aufgestoßen. Zugegeben, momentan nur einen Spalt breit. Aber wenn er erst einmal soweit war, war der Rest nur noch ein Kinderspiel. Paul verglich es immer mit dem Schneeballeffekt. Als ihn vor Jahren ein begeisterter Leser auf genau dieses Problem angesprochen hatte, hatte er geantwortet: „Wissen Sie, mein junger Freund“ (in diesem Moment konnte er sich die Vaterrolle nicht verkneifen), „das Ganze gleicht einem Schneeballeffekt. Sie müssen es sich ungefähr so vorstellen: Sie stehen auf einem Berg, direkt an einem Hang, und zu Ihren Füßen geht es steil abwärts. Wenn sie jetzt mit den Händen einen Schneeball formen (er muss noch nicht mal groß sein, nur möglichst rund) und ihn mit genügend Schwung den Abhang runterrollen lassen, werden Sie sehen, dass er am Fuße des Berges beachtlich an Größe gewonnen hat. Ja, dass er unterwegs eine Lawine geworden ist.“
Darauf hatte er einen Augenblick geschwiegen, damit sein Gegenüber seine Worte verdauen konnte. „Und so in etwa müssen Sie sich die Tür zu meiner Phantasiewelt vorstellen. Erst steht sie nur einen winzigen Spalt offen – aber ob Sie es glauben oder nicht: Das genügt. Ich stelle einen Fuß hinein, damit sie nicht wieder zufällt. Und wenn ich dann mit dem Schreiben beginne, öffnet sie sich langsam, bis ich mühelos hindurchgehe. Das ist das ganze Geheimnis.“ Im Stillen dachte er, dass es natürlich doch nicht so einfach war, wie es klang.
Paul hatte dem jungen Leser angesehen, dass er ihm nicht ganz folgen konnte. Er hatte das Gespräch beendet, indem er sagte: „Sie sehen also, kein großes Kunststück. Es ist alles nur eine Frage der inneren Einstellung Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich hab noch einen riesigen Berg Bücher, die ich signieren muss. Auf Wiedersehen!“
So erging es ihm auch heute. Der Spalt war schmal, schmaler als sonst. Er hatte schon oft erschreckt feststellen müssen, dass er immer dünner wurde. Manchmal war es ihm unmöglich, den Fuß zwischen Tür und Rahmen zu setzen. Bislang hatte er immer so lange gekämpft, bis er den kleinen Zeh drinnen hatte. Aber was würde geschehen, wenn ihm dies eines Tages auch nicht mehr glückte? Musste er die Schreiberei dann an den Nagel hängen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Noch lag dieser Tag in weiter Ferne. Er brauchte nur ein paar Sätze, dann sprang die Tür so weit auf, dass er hindurchgehen konnte. Es geschah sogar so schnell, dass er meinte, das Knarcksen der Scharniere hören zu können. So flink sollte es immer vonstattengehen, dachte er. Das Leben wäre dann um einiges leichter.
Er zog noch einmal an seiner Kippe, blies den Rauch in Richtung Zimmerdecke und klemmte sie zwischen die Lippen. „Nun denn“, nuschelte er verschmitzt, „auf ins Gefecht!“
„Du musst es mir sagen! Du musst! Du musst! Du musst! Ich verlange es!“
„Aber Kind, versteh doch …“
„Ich verstehe, dass du es mir vorzuenthalten versuchst! Das verstehe ich sogar gut! Leider verstehe ich auch, dass du mich noch immer für ein kleines, unwissendes Kind hältst!“ In ihren Augen blitzte Zorn.
„Das tue ich doch gar nicht. Wie kannst du so etwas nur denken? Ich bin doch … ich kann …“
„Ich verspreche dir, dass du es mir sagen wirst. Koste es, was es wolle. Diesmal bleibe ich hart, steinhart, wenn es sein muss!“
„Aber, so hör mir doch mal zu. Es ist nicht so einfach. Und glaube mir: Du würdest dieses Wissen nur verfluchen.“
„Ach was, so schlimm wird es schon nicht sein!“
Бесплатный фрагмент закончился.