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Ein weiteres großes Problem waren die unterschiedlichen Vorkenntnisse, die meine Schüler mitbrachten. Es gab solche, die ihre Ausbildung am Gymnasium abgebrochen hatten. Deren Englischkenntnisse reichten ohne weiteres heute schon zum Bestehen der Abschlußprüfung. Auf der anderen Seite waren in meiner Klasse Schüler, die noch nie an einem Englischunterricht teilgenommen hatten."

Diese Gründe mögen sicher schwerwiegend sein. Man spürt aber deutlich, daß sich der Lehrer auf einer rationalen Ebene zu rechtfertigen sucht, ohne tiefere gruppendynamische bzw. gefühlsbezogene Beweggründe zu berücksichtigen. Schließlich erzählte er mir, seinem Freund, seine Geschichte nach einer Sitzung am Institut der Technischen Universität:

"Es war sicherlich kein Zufall, daß ich auf mein Problem zu sprechen kam, als ich mich mit meinem Kollegen (gemeint ist der Verfasser) am pädagogischen Institut der Technischen Universität unterhielt. Dieser befaßte sich seit einiger Zeit mit gruppendynamischen Vorgängen in der Schulklasse. Er war sofort sehr interessiert und bat, meinen Unterricht besuchen zu dürfen.

Ich zögerte zunächst aus zwei Gründen:

Welcher Lehrer gibt schon gerne zu, daß er mit seiner Klasse Schwierigkeiten hat? Und wer möchte darüber hinaus sein Mißgeschick auch noch zur Schau stellen, anstatt eine Klasse vorzuführen, in der der Unterricht Spaß macht?

Vor allen Dingen wurde mir eines schlagartig klar:

Würde ich die Zustände in der BAS A zusammen mit meinem Kollegen analysieren, müßte ich mich meinem persönlichen Problem stellen und könnte mich nicht, wie bisher, damit herausreden, daß der Unterricht mit den anderen Klassen durchaus erfolgreich war.

Ausschlaggebend dafür, daß ich schließlich doch einwilligte, den Konflikt näher zu untersuchen, war die Frage des Kollegen, an wen mich der Schüler Scharfe erinnere. Meine Assoziation war spontan und überraschend. Nur mühsam konnte ich eingestehen, daß mir auf diese Frage sofort mein Vater einfiel. Und das, obwohl äußerlich keine Ähnlichkeit vorlag. Hier, so empfand ich, waren Dinge im Spiel, die ich vermutlich nicht allein lösen konnte.

Ich verabredete mit meinem Kollegen einen Mittwoch nachmittag zum Schulbesuch. Ich war gespannt und bereitete mich innerlich sorgsam auf die Begegnung vor. Als er am nächsten Mittwoch in meinen Unterricht kam, hatte ich bewußt keine besonderen Vorbereitungen getroffen. Lediglich die Tatsache, daß ich vier Schüler mündlich prüfen wollte, weil sie bei der letzten Kurzprobe gefehlt hatten, war bewußt für diesen Besuch geplant. Da unter diesen vier Schülern auch Keller und Kühne waren, versprach die Situation spannend zu werden."

Der Lehrer spürt nun, daß sich die Situation für ihn zuspitzt und daß auch seine persönlichen Probleme tangiert werden. Er ist sich bewußt geworden, daß ihn Scharfe an seinen Vater erinnert. Es handelt sich hier also um eine sogenannte "Gegenübertragung". Der Lehrer projiziert Charaktereigenschaften seines Vaters auf den Schüler und reagiert deshalb unangemessen auf das Agieren des Schülers. Es ist also nicht nur so, daß der Schüler das innere Bild einer anderen Person auf den Lehrer überträgt, sondern auch so, daß der Lehrer, vorerst ohne es zu ahnen, sein eigenes Vaterbild dem Schüler überstülpte. Wir wollen nun verfolgen, wie sich die Fallstudie weiterentwickelt, wobei sich hier die Frage erhebt, wie ein Lehrer mit solchen Übertragungen und Gegenübertragungen umgehen kann:

"Der Kollege berichtete mir anschließend, daß er den Schüler Scharfe beim Betreten des Klassenzimmers sofort erkannt habe. Er notierte u.a.: langhaarig, verbissen, neurotisch, aggressiv …

Ich legte zu Beginn der Stunde eine Folie auf den Tageslichtprojektor, damit die ganze Klasse die Fragen, die ich an die Prüflinge stellte, mitlesen konnte. Ich stellte einen Stuhl neben den Projektor, damit der jeweilige Schüler das Bild gut sehen konnte und ich mich mit ihm zwanglos unterhalten konnte. Da Keller auf meiner Liste ganz oben stand, forderte ich ihn auf, auf diesem Stuhl Platz zu nehmen. Er lehnte sich aber in seinem Stuhl zurück und sagte: 'Ich bleibe hier sitzen.' - 'Nein, bitte nehmen Sie hier Platz, damit ich feststellen kann, ob das, was Sie sagen, auch wirklich Ihr eigenes Gedankengut ist.' - 'Ich tue nur das, was ich einsehe, und ich bleibe hier.' Darauf ging ich zu meinem Pult und schrieb etwas in meine Akten.

Mein Kollege notierte in sein Heft: Keller sucht Hilfestellung bei Scharfe.

Scharfe rief in die Klasse: 'Schreiben Sie etwa eine "Sechs" ins Klassenbuch?' - Ich: 'Herr Keller verweigert eine Leistungsmessung. Sie wissen ja, was das bedeutet.' Scharfe stand auf und begab sich zur Tür. Ich rief ihm nach: 'Laufen Sie nur zum Direktor, Sie wissen ja, wie man das macht!'

Kühne stand als nächster auf der Liste. Als ich ihn aufrief, sagte er: 'Ich kann nicht, ich muß so furchtbar lachen.' Sein Lachen klang gequält und seine Stimme etwas geknickt. Ich: 'Sie wollen sich also auch nicht prüfen lassen?' - 'Ich muß nur so furchtbar lachen,' Kühne blieb auf seinem Stuhl sitzen. Ich schrieb wieder etwas in meine Akten und prüfte anschließend die beiden anderen Schüler, die zwar widerwillig aber doch umgehend den Platz beim Projektor einnahmen.

Der sich anschließende Unterricht lief nach Aufzeichnung meines Kollegen reibungslos fort, da die anderen Schüler relativ willig mitarbeiteten. Er notierte weiter, daß die Spannung in der Klasse sehr groß sei. Sie sei so groß, daß es Scharfe in der Klasse nicht ausgehalten und den Raum nach kurzer Zeit verlassen habe.

Ursprünglich hatte mein Kollege die Absicht, von der Klasse ein 'Soziogramm' zu erstellen. Er stellte aber schnell fest, daß sich dies im Augenblick nicht durchführen ließ. Außerdem meinte er anschließend, daß sich das erübrige, denn die Situation in der Klasse lasse sich allein durch Beobachtung erahnen: 'Die vier widerspenstigen Schüler stehen in der Klasse allein.'

Er bestätigte damit meine Vermutung, die ich in dieser Stunde durch meine Beobachtung gewonnen hatte. Ich hatte mich zeitweise in die Rolle eines Beobachters versetzt und zum ersten Mal darauf geachtet, wie weit die übrigen Schüler das Verhalten der vier 'Störenfriede' unterstützen. Dazu kamen Notizen, die der Kollege über ein Gespräch angefertigt hatte, das er während des Unterrichts mit einer Schülerin führte, die in seiner Nähe saß.

Er schrieb: 'Die Schülerin sagt, daß das Klassenklima schlecht ist und daß sich <die vier dahinten> nicht anpassen wollen. Der Unterricht kommt deswegen nicht richtig vorwärts. Es werden immer die gleichen Probleme diskutiert, und der Lehrer ist zu gutmütig. Bei anderen Lehrern geht es besser. Der Unterricht gefällt sonst allen gut, er arbeitet mit Songs, Gedichten usw. Nur die <vier> haben immer was zu meckern. Er sollte denen nicht soviel durchgehen lassen. Er scheint aber in letzter Zeit etwas strenger zu werden.'"

Es ist offensichtlich, daß sich der Lehrer gegen die vier Schüler nicht mehr durchsetzen kann, obwohl diese in der Klasse isoliert sind. Er kann die wahre gruppendynamische Konstellation nicht realistisch wahrnehmen. Zudem fühlt er sich durch die vier Schüler sehr bedroht. Er überschätzt die destruktive Macht von Scharfe und unterschätzt seine eigenen Möglichkeiten als Lehrer. Diese Verzerrung der Wahrnehmung realer Handlungsmöglichkeiten ist die Folge der Gegenübertragung. Der Lehrer unterstellt dem Schüler Scharfe Handlungskompetenzen, die eigentlich nicht Scharfe, sondern seinem Vater während der eigenen Kindheit zukamen. Diese phantasierte Umkehrung der Machtverhältnisse blockieren die Aktivität des Lehrers und zerstören einen situationsgerechten bzw. konstruktiven Unterricht.

"Nach dieser Unterrichtsstunde redeten mein Kollege und ich mit einem befreundeten Lehrer, der zur Zeit Klassenlehrer der BAS A war. Wir schilderten dem Klassenlehrer die Situation der vergangenen Stunde. Der Kollege fragte ihn anschließend, wie er das Problem mit Keller lösen würde, wobei er vorschlug, den Fall in einem Rollenspiel darzustellen. Der Klassenlehrer spielte den Lehrer, und mein Kollege übernahm die Rolle von Keller: Dabei ging der Klassenlehrer burschikos auf Kollege/Keller zu, packte ihn schwungvoll an den Schultern und zog ihn aus dem Sessel hoch: 'Komm Mensch, stell dich nicht so an, da vorne geht das alles viel besser.' Der Kollege/Keller folgte, wenn auch widerwillig und schimpfend …

Ich gebe zu, daß dieses Vorgehen genau meinem normalen Handeln entsprechen würde, mußte aber eingestehen, daß ich in diesem Fall nicht dazu in der Lage war. Ich erwartete, daß sich Keller einfach vom Stuhl fallen lassen oder aggressiv Widerstand leisten würde. Da ich vom Mißerfolg eines solchen Vorgehens überzeugt war, fühlte ich mich vollständig machtlos.

Mein Kollege gab zu bedenken, daß ich Härte zeigen und mich auf die Amtsautorität verlassen sollte. Gegebenenfalls sollte ich mich mit der Androhung einer 'Verweisung von der Schule' durchsetzen. Ich begegnete diesem Rat spontan mit Ausreden wie: 'Die treiben das so weit, daß sie wirklich von der Schule gehen müssen, nur um zu beweisen, daß ich wirklich dieser widerliche Typ bin, für den sie mich halten. Die nehmen eher die Märtyrerrolle auf sich, als klein beizugeben.' Nach einigem Nachdenken war es mir klar: 'Das kann ich nicht, das ist einfach nicht mein Stil, mich hinter dem Chef der Schule zu verstecken! Das ist unmöglich.'

Während des anschließenden Spazierganges überredete mich mein Kollege zu einem weiteren Rollenspiel. Ich fand auch da keinen überzeugenden Weg, den Störenfrieden mit autoritärer Stärke zu begegnen. Ich versuchte, den Kollegen/Scharfe dadurch aus dem Klassenzimmer zu weisen, indem ich mich neben ihm aufbaute und sagte, der Unterricht gehe nicht weiter, solange Scharfe das Zimmer nicht verlassen habe. Damit versuchte ich vermutlich, die Aufgabe an die

Klasse zu delegieren, Scharfe zu überreden, meinen Anweisungen zu folgen. So wollte ich mein eigenes aggressives Vorgehen vermeiden.

Insgesamt schien der Besuch meines Kollegen von der Universität nicht viel gebracht zu haben. Seinen Empfehlungen konnte ich nicht Folge leisten, die Situation schien mir jetzt noch bedrohlicher als zuvor.

Zwei Dinge waren mir allerdings klargeworden:

1. Ich würde das Problem nur auf meine Art und Weise anpacken können. Ich wollte die Situation mit der Klasse offen besprechen. Die Androhung von Disziplinarmaßnahmen der Schulaufsichtsbehörde lag für mich nicht drin.

2. Die vier Störenfriede waren in der Klasse allein. Der Rest der Schüler stand hinter mir."

Wir verlassen den Bericht des Lehrers an dieser Stelle, denn die Lage scheint ausweglos und festgefahren. Wir wollen uns deshalb die Zeit nehmen, uns Fragen zu stellen und zu überlegen, was wir aus den Fehlern des Lehrers lernen können.

Wir haben z.B. festgestellt, daß sich der Lehrer in der Schulklasse und insbesondere gegenüber einigen Schülern nicht durchsetzen kann. Wir haben auch gesehen, daß das Problem mit oberflächlichen Ratschlägen nicht gelöst werden kann. Wir folgern also, daß Faktoren eine Rolle spielen, die entweder in der Persönlichkeit des Lehrers bzw. der Schüler, in der Geschichte dieser Schule oder im gruppendynamischen Prozeß der Lehrer-Schüler-Interaktion begründet liegen.

Wir haben weiter festgestellt, daß das Verhalten des Lehrers als auch des widerspenstigen Schülers Scharfe durch die persönliche Lebensgeschichte beeinflußt wird. Wir haben aber keinen Weg gefunden, wie das Problem in der Schule bzw. das Verhalten sowohl des Lehrers als auch des Schülers korrigiert werden könnte. Wir wissen auch nicht, wie man als Lehrer mit lösbaren bzw. unlösbaren Konfliktkonstellationen umgehen könnte und warum sich dieser Konflikt gerade in diesem Augenblick in dieser Weise entwickelt hat.

Sind es vielleicht Relikte aus der unbewältigten Vergangenheit der Schulgeschichte, die ihr verheerendes Unwesen treiben, oder sind es gruppendynamische Gesetzmäßigkeiten, über die der Lehrer gestolpert ist? Aber was heißt denn hier eigentlich "gruppendynamisch"? Wo ist in diesem Beispiel das "Gruppendynamische" zu identifizieren?

Einen ersten wichtigen Gesichtspunkt im Hinblick auf die Gruppendynamik können wir schon jetzt herausarbeiten. Wir haben festgestellt, daß der Lehrer durch seine Schüler in einen Machtkampf um "Normen" verwickelt wurde. Ein solcher Machtkampf scheint auf den ersten Blick der Schule wesensfremd zu sein, er hat aber für die Schulklasse als gruppendynamische Gruppe eine große Bedeutung. Er zeigt, daß die Schulklasse nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung und die Lehrer bzw. Lehrerinnen nicht nur Wissensvermittler bzw. -vermittlerinnen sind, sondern daß die Schule als Ganzes ein komplexes, verschachteltes und lebendiges gruppendynamisches Feld darstellt, in dem die Macht des Menschen über Menschen eine große Rolle spielt. Aus dem Konflikt zwischen zwei Menschen ist anfangs ein Konflikt zwischen dem Lehrer und einer kleinen Untergruppe geworden und durch die Einbettung dieser Untergruppe in eine "schweigende" Schulklasse dehnte sich dieser Konflikt aus. Somit ist aus dem individuellen Problem des Lehrers ein gruppendynamisches geworden.

Wir haben weiter festgestellt, daß sich der konkrete Konflikt an der Interpretation der "Normen" bzw. "Verhaltensregeln" entzündete. Der Schüler Scharfe erkämpfte seinen "Sieg" gegen die "Normen" des Lehrers mit dem offiziellen "Normenkatalog" der "Allgemeinen Schulordnung" im Rücken. Anscheinend spielen "Normen", "Werte" oder "Gruppennormen" bzw. deren Definition und Interpretation in Gruppen eine große Rolle.

In solchen gruppendynamischen Feldern nehmen die Lehrpersonen eine wichtige Funktion wahr. Diese läßt sich allgemein als "Leitungsfunktion" umschreiben. Lehrer und Lehrerinnen sind aufgrund ihres Erwachsenseins und im Rahmen ihrer Qualifikation als ErzieherInnen bzw. WissensvermittlerInnen sowohl formale als auch gruppendynamische Leiter bzw. Leiterinnen der Schulklassen. Sie besetzen die formale "Rolle" der Leiterfunktion.

Damit sind wir auf einen neuen Begriff gestoßen, der uns durch das ganze Buch begleiten wird: Jedem Gruppenmitglied wächst in einer Gruppe eine "Rolle" zu, eine "Rolle", die mit spezifischen Funktionen ausgestattet ist und die seinen psychologischen Ort in der Gruppe beschreibt.

Mit diesem Begriff verbinden sich viele Fragen. Wer bestimmt die Rolle eines Menschen in einer Gruppe, und wer definiert ihre Funktionen? Sind die Rollen festgeschrieben, oder lassen sie sich verändern? Wer kürt den Leiter bzw. die Leiterin in einer Gruppe zur zentralen gruppendynamischen Person. Damit stellen

sich gleich neue Fragen: Was bedeutet "gruppendynamischer Leiter"? Welchen Anforderungen muß ein gruppendynamischer Leiter genügen und welche Aufgaben beinhaltet diese Funktion? Beinhaltet dieser Begriff, daß der gruppendynamische Leiter immer im Zentrum stehen muß? Welcher Führungsstil ist effizient bzw. der Führungsaufgabe adäquat?

Alle diese Fragen werde ich in einem späteren Kapitel ausführlich erläutern. Hier soll der Hinweis genügen, daß den Lehrkräften in dieser Funktion eine besondere Verantwortung nicht nur für das Erreichen der Lernziele, sondern auch für ein effizientes Funktionieren der Schulklasse als "gruppendynamische Gruppe" zuwächst.

Weiter haben wir festgestellt, daß die Beziehungen zwischen den Lehrern bzw. Lehrerinnen und den Schülern bzw. Schülerinnen wesentlich von Vorgängen bestimmt werden, z. B. von "Übertragungen" bzw. "Gegenübertragungen", die den beteiligten Personen meistens nicht bewußt sind. Diese Umstände machen es besonders schwer, gruppendynamische Prozesse zu verstehen und deren Wirkungen gegebenenfalls zu korrigieren.

Eine Konfliktsituation, wie ich sie eben geschildert habe, kann trotzdem korrigiert werden, wenn der Lehrer bereit ist, aus der Situation zu lernen und sich zu verändern. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn wir die Gesetzmäßigkeiten der Gruppendynamik umfassend kennengelernt haben, werde ich die Schilderung der Fallstudie wieder aufnehmen und berichten, wie sich der Lehrer aus der unangenehmen Situation befreien konnte.

Zum Abschluß dieses Kapitels möchte ich auf ein besonderes Charakteristikum gruppendynamischer Konflikte hinweisen: Wir haben die Leiden des Lehrers und die Provokationen der Schüler mitfühlend miterlebt. Wir haben die Emotionen gespürt, den Haß von Scharfe, die Angst der Mitstreiter, den Unwillen der Mitschüler und den verzweifelten Wutausbruch des Lehrers. Nicht nur hier, sondern in allen unseren Beispielen werden wir bestätigt finden, daß gruppendynamische Veränderungen starke Gefühlsreaktionen mit sich bringen.

Schulprobleme müssen aber nicht immer die Folge von persönlichen Schwierigkeiten sowohl der LehrerInnen als auch der SchülerInnen sein. Oft sind es z.B. schulstrukturelle Bedingungen, die die Gruppendynamik der Klassen positiv oder negativ beeinflussen. Damit begegnen wir einem neuen gruppendynamischen Begriff, dem ich ein eigenes Kapitel widmen möchte:

1.2Die innere Struktur von Gruppen

Nachdem wir im Rahmen unserer ersten Fallstudie bereits die Begriffe "Gruppendynamik", "Gruppennorm", "Gruppenrolle", "Leitungsfunktion" und "Übertragung" kennengelernt haben, werden wir in diesem Kapitel einen neuen und wichtigen Begriff einführen: Gruppen-"Dynamik" bedeutet ja, daß sich in der Gruppe etwas "bewegt" bzw. verändert. Die Bewegungen vollziehen sich in der Regel zwischen einem "Zustand A" und einem "Zustand B". Aber was verändert sich zwischen den beiden Zuständen tatsächlich? Ich meine, daß sich diese Veränderung am besten durch die Veränderung der inneren "Strukturen" der Gruppe charakterisieren läßt.

Die Schulklassen werden anfänglich nach äußeren Kriterien wie Wohnort, Alter, Geschlecht, Berufsrichtung usw. zusammengestellt. Diese äußeren Kriterien induzieren eine "formelle" Struktur der Klasse.

Vom Beginn der Schulzeit an sitzen die SchülerInnen aber in denselben Räumen zusammen, werden von den gleichen LehrerInnen unterrichtet, haben gleichzeitig Pausen und verlassen nach Schulschluß gleichzeitig das Schulhaus. Durch die Interaktionen, die während dieser Gleichzeitigkeit entstehen, entwickeln und vertiefen sich die Beziehungen untereinander. Die Schüler bzw. Schülerinnen lernen sich im Rahmen dieser gruppeninternen Kommunikation besser kennen, sie setzen sich miteinander auseinander, entwickeln zueinander Gefühle, nehmen untereinander Beziehungen auf, finden Vertrauen und bilden Untergruppen. Diese Interaktionen führen zu einer zunehmenden Differenzierung der wachsenden "informellen" gruppendynamischen (Beziehungs-)Strukturen. Diese lassen sich als typische "Muster", "Konstellationen", "Felder", "Netzwerke", "Pläne", "Algorithmen", "Handlungstendenzen" usw. beschreiben, wobei die ersteren eher komplexe, mehrdimensionale Verknüpfungen und die letzteren, z.B. die Algorithmen, eindimensionale, immer wiederkehrende schematische Folgen darstellen.

Neben den relativ einfachen "formellen" Strukturen einer Schulklasse bilden sich also nach und nach komplexe "informelle" gruppendynamische Strukturen, die sich in der Regel beträchtlich von den ersteren unterscheiden.

Man kann nun mehrere Formen "informeller" gruppendynamischer Strukturen und vielfältige strukturbildende Parameter unterscheiden, die sich unterschiedlich auf das Klassenklima, auf den Unterrichtsverlauf und auf den Unterrichtserfolg auswirken. Neben den Beziehungsstrukturen sind es z.B. Sprachstrukturen, Wertstrukturen, Lernstrukturen, Kommunikationsstrukturen, Denkstrukturen, Gefühlsstrukturen usw., die in der Schule verhaltenswirksam sein können.

Es gibt Schulklassen, die sich dabei trotz der heterogenen Zusammensetzung zu einem einheitlichen bzw. homogenen gruppendynamischen Ganzen zusammenfinden (Abbildung 1). Diese Klassen haben in der Regel einen bzw. zwei Schüler als sog. "Zentrale Figuren" bzw. als "gruppendynamische Leiter bzw. Leiterinnen" organisiert. Die "informelle Rolle" der Zentralen Figur (Alpha) bekleidet nicht selten die "formelle Rolle" des Klassensprechers. In diesem Falle decken sich die "formelle" und "informelle" Führungsrolle.

Abbildung 1: Homogene geschlossene Klassenstruktur


Die Schüler, die die Nebenrollen ausfüllen, ordnen sich in der Regel freiwillig der "Zentralen Person" unter. Die "Zentrale Person" zeichnet sich meist durch besondere Fähigkeiten aus, die sie zum Leiter bzw. zur Leiterin prädestinieren.

Die Leitungsfunktion kann sich hin und wieder auf zwei Schüler aufteilen. Die eine Person verkörpert dann mehr den "Beliebtheitspol", die andere den "Leistungspol". Dieses sogenannte "Führungsdual" (HOFSTÄTTER, 1957) muß die Einheit der Klasse nicht gefährden. Im Gegenteil, die Sozialstruktur der Klasse ist dann besonders stabil, wenn die beiden Leiter bzw. Leiterinnen gleichzeitig Freunde bzw. Freundinnen sind (Abbildung 2).

Abbildung 2: Heterogene geschlossene Klassenstruktur


Wenn sich in einer Schulklasse die beiden dominierenden Schüler aber gegenseitig ablehnen, zerfällt die Klasse in zwei Untergruppen. Die beiden Fraktionen stehen sich dann rivalisierend gegenüber (Abbildung 3). Das Resultat einer solchen Spaltung sind dann starke Spannungen, die sich negativ auf das Klassenklima und den Unterricht auswirken können.

Abbildung 3: Gespaltene Klassenstruktur


Die Spaltung ist meist die Folge einer nicht überbrückbaren Heterogenität in der Klasse. Die Trennungslinie kann zwischen den Geschlechtern, zwischen SchülerInnen mit unterschiedlichen Berufszielen, zwischen Sprachgruppen, zwischen SchülerInnen unterschiedlicher Intelligenz oder Vorbildung verlaufen.

Wenn sich in einer Schulklasse keine "Zentrale Figur" herausbildet, zerfällt die Klasse in mehrere Untergruppen, die miteinander rivalisierend um Macht und Einfluß ringen (Abbildung 4).

Abbildung 4: Zersplitterte Klassenstruktur


Jede Untergruppe kämpft mit jeder anderen Gruppe um die Macht. Diese Konstellation hat in der Regel unüberbrückbare Spannungen zur Folge. Diese können weder aufgefangen noch ausgetragen werden. Aus diesen Gründen führt die Zersplitterung einer Klasse nicht selten zur Herausbildung von "Sündenböcken" (Omega-Position). Erst diese Strategie, die zum Beiseitedrängen immer neuer sich anbietender "Sündenböcke" führt, reduziert die Spannungen auf ein erträgliches Maß. Wenigstens in der Ablehnung eines Außenseiters ist man sich einig.

Im Gegensatz zu homogenen bzw. gespaltenen Klassen kann sich in zersplitterten Gruppen kein einheitlicher "Normenkodex" herauskristallisieren. Integrierende Verhaltensmuster sind nur rudimentär vorhanden.

Es stellt sich nun die interessante Frage, wie sich eine bestimmte Klassenstruktur auf den Unterricht konkret auswirkt. Gibt es überhaupt einen handlungsrelevanten Einfluß, der sich in der Klasse beobachten läßt? Schlägt sich die Zersplitterung einer Klasse tatsächlich in den Schulleistungen nieder?

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