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Einleitung Zivilrecht und Bürgerliches Gesetzbuch, Anspruch und Beweislast
1. Kapitel Recht und Rechtsordnung

1. Die Rechtsnormen

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Allem Anschein nach kommen Menschen ohne verbindliche Spielregeln nicht miteinander aus, weder auf dem Fußballplatz noch in der staatlichen Gemeinschaft. Recht, Sitte und Moral liefern die nötigen Verhaltensnormen.

Recht besteht aus Rechtsnormen. Rechtsnormen regeln zwischenmenschliches Verhalten. Sie beschreiben nicht, wie Menschen sich tatsächlich verhalten, sondern befehlen, wie sie sich von Rechts wegen verhalten sollen. Das Sollen, nicht das Sein ist die Kategorie des Rechts. Rechtsnormen sind Sollenssätze. Was sie gebieten, soll man tun, was sie verbieten, soll man lassen. Der Jurist denkt deshalb weder kausal noch historisch, sondern normativ in der Kategorie des rechtlichen Sollens: Er misst menschliches Verhalten an den Anforderungen des Rechts und zieht daraus die rechtlichen Schlüsse, die er Rechtsfolgen nennt.

Recht gilt unabhängig davon, ob es befolgt wird. Problematisch wird es allerdings erst im Rechtsstreit, in dem das Gericht den kranken Rechtsfall richten oder schlichten soll. Maßstab ist die gesunde rechtliche Beziehung. Der Normalfall bestimmt das juristische Denken.

Rechtsnormen gelten von Rechts wegen, denn hinter ihnen steht die Zwangsgewalt der staatlichen Gemeinschaft. Darin unterscheiden sie sich von den Verhaltensregeln der Sitte und der Moral.

Die Sitten und Gebräuche einer Gemeinschaft regeln nur den außerrechtlichen, gesellschaftlichen Umgang und Anstand. Verstöße ahndet die Gemeinschaft mit gesellschaftlicher Ächtung. Die „guten Sitten“ ziehen freilich auch dem Recht Grenzen: Verkehrssitte und Handelsbrauch beeinflussen maßgeblich die Vertragsauslegung (§ 157 BGB; § 346 HGB), sittenwidrige Rechtsgeschäfte sind nichtig (§ 138 BGB), und die vorsätzliche sittenwidrige Schädigung verpflichtet zum Schadensersatz (§ 826 BGB).

Die Moral oder Sittlichkeit gründet auf Weltanschauung und Religion. Sie verbietet nicht erst die böse Tat, sondern schon den bösen Gedanken. Letzte Instanz ist, soweit vorhanden, das menschliche Gewissen. Wer das Moralgesetz verletzt, büßt es, wenn er gut erzogen ist, mit Gewissensbissen. Der liberale Rechtsstaat verzichtet auf Gewissenszwang und respektiert die freie Gewissensentscheidung.

2. Die Rechtsquellen

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Die Summe aller Rechtsnormen eines Staates bildet seine Rechtsordnung. An ihrer Spitze steht die Verfassung, denn sie bindet Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung (Art. 1 III, 20 III, 28 GG). Einen Stock tiefer findet man die Gesetze, im Erdgeschoss schließlich die Rechtsverordnungen der Regierung (Art. 80 GG) und die Satzungen der Selbstverwaltungsträger (Art. 28 II GG).

Das geschriebene Recht nennt man positiv, weil der Gesetzgeber es setzt. Das ungeschriebene Gewohnheitsrecht dagegen entsteht aus dem Volke heraus durch lange Übung und allgemeine Rechtsüberzeugung[1]. Entstehungsgrund ist letztlich ein ständiger Gerichtsgebrauch. Prominente Beispiele aus dem Zivilrecht waren die positive Vertragsverletzung und das Verschulden bei Vertragsverhandlungen (jetzt §§ 280 I 1, 241 II, 311 BGB) und ist es noch das allgemeine Persönlichkeitsrecht (RN 1011).

Verfassung, Gesetz und Rechtsverordnung, Satzung und Gewohnheitsrecht sind nach einem romantischen Bild Rechtsquellen, aus denen das Recht sprudelt. Ob auch die höchstrichterliche Rechtsprechung dazugehöre, ist seit jeher streitig[2]. Der deutsche Jurist neigt dazu, die Frage zu verneinen, denn der Richter ist nur an Gesetz und Recht gebunden, nicht an Präjudizien (Art. 20 III, 97 I GG). Aber das sind Lippenbekenntnisse, bestimmen doch allein die – letztinstanzlichen – Gerichte, was Recht sei. Wenn es zutrifft, dass die Rechtsprechung nicht lediglich aus dem Gesetz herausliest, was der Gesetzgeber hineingelegt hat, sondern den toten Buchstaben des Gesetzes erst zum Leben erweckt, muss man zumindest die richterliche Rechtsfortbildung (RN 15) als Rechtsquelle anerkennen.

3. Objektives und subjektives Recht

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Der Rechtsbegriff ist zweideutig. Er bezeichnet nicht nur das objektive Recht, das aus Rechtsnormen besteht und für alle gilt, sondern auch das subjektive Recht, das aus dem objektiven Recht entsteht und dem Einzelnen die Rechtsmacht verleiht, seine Interessen in bestimmter Weise zu befriedigen (RN 17). Der Weg vom objektiven zum subjektiven Recht führt über die Rechtsanwendung (RN 11), die der Rechtsstaat den Gerichten anvertraut.

Bild 1: Objektives und subjektives Recht


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2. Kapitel Das Zivilrecht

1. Die Abgrenzung der großen Rechtsblöcke

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Die juristische Ausbildung gliedert das geltende Recht in drei große Blöcke: Zivilrecht (Privatrecht), Strafrecht und öffentliches Recht nebst dem zugehörigen Verfahrensrecht. Zwischen Zivil- und Strafrecht gibt es keine Abgrenzungsprobleme. Ob eine Rechtsnorm zum Zivilrecht oder zum öffentlichen Recht gehört, ist gleichfalls leicht festzustellen. Das Zivilrecht besteht aus dem BGB und seinen Nebengesetzen, aus dem Handels-, Gesellschafts und Wertpapierrecht, dem Versicherungsrecht, dem Wettbewerbsrecht und dem gewerblichen Rechtsschutz. Zum öffentlichen Recht gehören vor allem das Verfassungs- und das Verwaltungsrecht. Das Verfassungsrecht regelt die Organisation des Staates und die Grundrechte des Bürgers. Das Verwaltungsrecht organisiert die Verwaltungsträger und regelt die Rechtsbeziehungen zwischen Verwaltung und Bürger.

Bild 2: Die Rechtsordnung


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Schwieriger ist es, im Einzelfall den richtigen Rechtsweg zu bestimmen, denn „bürgerlichrechtliche Streitigkeiten“ gehören nach § 13 GVG vor die Zivilgerichte, „öffentlichrechtliche Streitigkeiten“ nach § 40 I VwGO vor die Verwaltungsgerichte, wenn nicht das Gesetz sie ausdrücklich den Zivilgerichten zuweist. Das aber ist ein prozessuales Problem, das hier nicht darzustellen ist[3].

2. Das allgemeine bürgerliche Recht und das Sonderrecht einzelner Lebensbereiche

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Das bürgerliche Recht ist derjenige Teil des Zivilrechts, der für alle gilt. Es besteht aus dem BGB und seinen Nebengesetzen: EGBGB, AGG, BeurkG, ProdHaftG, ErbbauRG und WEG sowie Teilen des StVG, LuftVG und HaftpflichtG.

Daneben gibt es besondere Gesetze für einzelne Berufsgruppen und Lebensbereiche. Handelsrecht (HGB), Gesellschaftsrecht (AktG, GmbHG) und Wertpapierrecht (WG, ScheckG) bilden das Sonderprivatrecht der gewerblichen Wirtschaft. Das Immaterialgüterrecht schützt Kunsturheberrechte, Erfinderrechte und gewerbliche Schutzrechte (UrhRG, PatG, MarkG). Das Versicherungsrecht regelt die einzelnen Versicherungszweige der privaten Versicherungswirtschaft.

Bild 3: Das Zivilrecht


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Das Sonderprivatrecht der abhängigen Arbeitnehmer ist im Kern zwar immer noch im BGB geregelt (§§ 611 ff.), bildet jedoch mit dem kollektiven und dem öffentlichen Arbeitsrecht eine eigene Disziplin mit eigener Gerichtsbarkeit.

3. Kapitel Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB)

1. Die Entstehung des BGB

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Das BGB ist nach zwanzigjähriger Vorarbeit am 18.8.1896 verkündet worden und am 1.1.1900 in Kraft getreten. Heute ist es Bundesrecht (Art. 123 I, 125 Nr. 1 GG). Dem Deutschen Reich von 1871 brachte es die Rechtseinheit im bürgerlichen Recht und beendete eine jahrhundertelange Rechtszersplitterung in den deutschen Landen.

2. Das System des BGB
2.1 Die Kodifikation des allgemeinen Zivilrechts

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Das BGB ist die Kodifikation des allgemeinen Zivilrechts, das für alle Bürger gilt: des Vertrags- und Schadensersatzrechts, der Eigentumsordnung, des Familien- und Erbrechts. Es besteht aus 5 Büchern: Allgemeiner Teil, Recht der Schuldverhältnisse, Sachen-, Familien- und Erbrecht.

Der Allgemeine Teil liefert diejenigen Vorschriften, die für alle übrigen Bücher gelten sollen, soweit dort nichts anderes bestimmt ist. Im Mittelpunkt steht das Rechtsgeschäft.

Das Schuldrecht regelt den vertraglichen Leistungsaustausch, den Bereicherungs- und den Schadensausgleich. Sein Thema ist das Schuldverhältnis, das den Schuldner zur Leistung verpflichtet und den Gläubiger berechtigt, diese Leistung zu fordern. Im Schuldrecht geht es darum, wer von wem was verlangen darf.

Das Sachenrecht hingegen weist die beweglichen und unbeweglichen Sachen bestimmten Personen zu und beantwortet die Frage, wem was gehört. Es handelt von Besitz und Eigentum, von Nießbrauch, Grundschuld und anderen beschränkten dinglichen Rechten.

Familien- und Erbrecht regeln fest umrissene Lebensbereiche, das Familienrecht Ehe, Kindschaft und rechtliche Betreuung, das Erbrecht die Rechtsnachfolge nach dem Tode.

Bild 4: Das System des BGB


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Das System des BGB ist die reife Frucht der Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts (Savigny, Windscheid), sein Fundament das römische Recht des corpus iuris civilis aus dem 6. Jahrhundert, freilich nicht in seiner ursprünglichen klassischen, sondern in seiner modernen Form, die ihm die Pandektenwissenschaft verpasst hat. Sie hat das römische Recht begrifflich durchgebildet und dem modernen Leben angepasst. Daraus ist der usus modernus pandectarum entstanden, der als gemeines Recht bis 1900 in weiten Teilen Deutschlands gegolten hat.

2.2 Vom Allgemeinen zum Besonderen

Das BGB regelt, vom Familien- und Erbrecht abgesehen, nicht einen Lebensbereich nach dem anderen, sondern das Allgemeine vor dem Besonderen. Am Anfang steht weder das Kaufrecht noch das Eigentumsrecht, sondern Buch 1 „Allgemeiner Teil“ mit allgemeinen Regeln für die folgenden 4 Bücher. Damit nicht genug, hat auch das 2. Buch „Recht der Schuldverhältnisse“ seinen allgemeinen Teil. Auch das Schuldrecht beginnt nicht mit dem Kauf oder der unerlaubten Handlung, sondern mit allgemeinen Regeln für das Schuldverhältnis. Im Sachenrecht ist es ähnlich.

Dieser Gesetzesaufbau ist überaus verschachtelt, das BGB ein gefährliches Labyrinth. Man findet zwar hinein, aber nur schwer wieder hinaus. Wer mit ihm arbeiten will, muss seinen Bauplan kennen, muss wissen, wie die ersten drei Bücher ineinander greifen. Systematisches Verständnis ist hier wichtiger als Detailwissen. Die Ursache der Verständigungsschwierigkeiten ist der Allgemeine Teil. Wenn man heute noch sagt, der Allgemeine Teil ziehe die allgemeinen Regeln vor die Klammer, ist dies wortwörtlich zu verstehen, mathematisch nämlich, wie es dem Denken der Aufklärung entsprach, die sich zutraute, alles in Begriffe fassen und logisch erklären zu können.

Mathematisch mutet auch das ausgefeilte System geschliffener Rechtsbegriffe auf höchster Abstraktionsstufe an, die das BGB auf dem Fundament des Allgemeinen Teils zu wahren Begriffspyramiden auftürmt. Daraus ist die Begriffsjurisprudenz entstanden, die noch daran glaubte, man könne aus den Rechtsbegriffen und Begriffsgebäuden mit zwingender Logik Honig saugen und damit jeden Rechtsfall lösen. Heute rümpft man darüber die Nase und argumentiert mit Interessenlage und ratio legis, vergisst aber leicht, dass Sinn und Zweck einer gesetzlichen Regelung umso klarer hervortreten, je präziser das Gesetz sie formuliert. Exaktes begriffliches Denken kann auch heute noch die meisten Rechtsfälle befriedigend lösen.

Der Zugang zum BGB, das das Allgemeine vor dem Besonderen regelt, wird noch dadurch erschwert, dass der Jurist in umgekehrter Richtung vom Besonderen zum Allgemeinen denkt. Während das BGB den Vertrag (§§ 145 ff.) vor dem Verpflichtungsvertrag (§§ 311 ff.) und diesen vor dem Kauf (§§ 433 ff.) regelt, sucht der Jurist die Lösung eines streitigen Kauffalles zuerst in den Vorschriften über den Kauf, bevor er sich über den Verpflichtungsvertrag zum Vertrag zurücktastet, denn die besonderen Vorschriften gehen den allgemeinen stets vor (lex specialis derogat legi generali).

3. Die Sprache des BGB

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Ein volkstümliches Gesetzbuch war das BGB nie. Seine Verfasser haben, anders als Luther bei seiner Bibelübersetzung, dem Volk nicht aufs Maul geschaut, sondern trocken und farblos formuliert, wie es sich für gelehrte Juristen geziemt. Mit dieser Sprache erreicht das BGB nur die Juristen, nicht das Volk. Dem Laien bleibt es unverständlich. Fraglos hätte man vieles einfacher und verständlicher sagen können. Ein Volkslesebuch wäre daraus nicht entstanden. Moderne Gesetze sind notwendig trocken und farblos, je präziser, desto farbloser. Den Mangel an Volksnähe gleicht das BGB, jedenfalls in seiner ursprünglichen Gestalt, durch ein hohes Maß an Rechtssicherheit aus. Rechtssicherheit aber gewährt nur ein präzise formuliertes Gesetz. Dem Gesetzgeber unserer Tage gelingt dies nicht mehr. Das modernisierte Schuldrecht samt ausuferndem Verbraucherschutzrecht ist vom klaren System und der begrifflichen Schärfe des alten BGB weit entfernt. Das sprachliche Unvermögen des modernen Gesetzgebers aber produziert Rechtsunsicherheit.[4]

4. Das Menschenbild des BGB einst und jetzt

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Das BGB ist ein Kind seiner Zeit, das Produkt der Pandektenwissenschaft vom römischen Recht und des wilhelminischen Kaiserreichs. Erklärte Ziele waren die Rechtseinheit und die Rechtsgleichheit im bürgerlichen Recht. In deutschen Landen galt erstmals ein einheitliches Zivilrecht. Die feudale Gesellschaft des Mittelalters wurde rechtlich durch die bürgerliche Gesellschaft der Freien und Gleichen abgelöst. § 1 drückt dies verschämt so aus, dass die Rechtsfähigkeit des Menschen mit Vollendung der Geburt beginne. Gemeint ist die Rechtsfähigkeit aller Bürger ohne Ansehen der Person, ihres Alters, Standes oder Geschlechts, das späte Ergebnis der französischen Revolution und des napoleonischen code civil. Das Vertrags- und Vermögensrecht des BGB gründet auf dem wirtschaftlichen Liberalismus. Vertrags-, Eigentums- und Testierfreiheit sind die höchsten Werte. Sie sind zugeschnitten auf den freien und gleichen, vernünftigen und selbstverantwortlichen Bürger, der sich selbst zu helfen weiß und im freien Spiel der Marktkräfte nicht nur sein eigenes Glückt findet, sondern auch noch dem allgemeinen Wohl dient. An der sozialen Lage seiner Zeit hatte das BGB nichts auszusetzen. Der Unternehmer war noch Herr im eigenen Haus. Mit den abhängigen Lohnarbeitern schloss er gewöhnliche Dienstverträge nicht anders als mit seinem Anwalt oder Arzt. Arbeitsvertrag, Tarifvertrag und Arbeitsgericht waren noch Fremdwörter. Für die Armen und Schwachen hatte das BGB kein Herz. Ihnen halfen von Fall zu Fall allenfalls die Generalklauseln von den „guten Sitten“ und von „Treu und Glauben“ (§§ 138, 242).

Das BGB hat nicht nur Kaiserreich, Weimarer Republik und Drittes Reich, sondern auch noch zwei verheerende Weltkriege überlebt, im Kern erstaunlich unversehrt. Offenbar kann ein technisch ausgefeiltes Gesetz vielen Herren dienen, ganz wie der Jurist, der es formuliert, auslegt und anwendet. Seit 1900 ist das Zivilrecht innerhalb wie außerhalb des BGB immer wieder reformiert worden. Verschont geblieben ist, sieht man vom Verjährungsrecht ab, der Allgemeine Teil. Allem Anschein nach ist er gegen Reformen immun. Wie soll man auch unverzichtbare allgemeine Rechtsbegriffe reformieren. Das Schuldrecht ist kurzlebiger. Kauf, Miete, Gesellschaft und unerlaubte Handlung gibt es zwar nach wie vor, aber soziales Mietrecht, Verbraucherschutz und Schuldrechtsreform haben sein Gesicht verändert. Das behäbige Sachenrecht, ergänzt durch WEG und ErbbauRG, hat die Zeitläufe im Kern unbeschädigt überstanden, das Erbrecht nicht minder. Im Familienrecht dagegen blieb kein Stein auf dem anderen. Man wundert sich fast, dass es die Ehe zwischen Mann und Frau noch gibt.

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Der Geist des BGB hat sich aber auch dort gewandelt, wo sein Text noch immer der alte ist. Das Menschenbild des Grundgesetzes färbt auch auf das BGB ab. Die Grundrechte sind zwar keine Privatrechte, sondern Abwehrrechte des Bürgers gegen staatliche Willkür[5]. Als verfassungsrechtliche Grundentscheidungen aber bilden sie eine objektive Wertordnung höchsten Ranges, an der das einfache Recht zu messen ist[6]. Auch Zivilrechtsnormen sind „im Lichte“ des Grundgesetzes verfassungskonform so auszulegen, dass die Grundwerte der Verfassung zur Geltung kommen[7]. So ist die Vertragsfreiheit als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG im Kern unantastbar[8]. Vor allem die Generalklauseln der §§ 138, 157, 242, 826 mit ihren weiten, ausfüllungsbedürftigen Begriffen wie „gute Sitten“ oder „Treu und Glauben“ sind die Einfallstore für die Grundrechte der Verfassung[9]. Dass die Zivilgerichte das BGB verfassungskonform auslegen und anwenden, überwacht auf Verfassungsbeschwerde einer Prozesspartei das Bundesverfassungsgericht (Art 93 I Nr. 4a GG).

Beispiele


- Die öffentliche Hand muss die Bürger nach Art. 3 GG auch dann gleich behandeln, wenn sie am Privatrechtsverkehr teilnimmt (BGH 65, 284; 91, 84; NJW 59, 431; 69, 2195; 85, 197; 85, 1892; zum AGG: RN 1896).
- Was „gute Sitten“ (§ 138) seien, und was Treu und Glauben (§ 242) bedeuten, bestimmt weithin die Wertordnung des Grundgesetzes (RN 1172, 2358).
- Im sozialen Mietrecht prallen das Eigentumsrecht des Vermieters (Art. 14 I 1 GG) und das Recht des Mieters auf sozialen Bestandsschutz und effektiven Rechtsschutz (Art. 20 III GG) derart hart aufeinander, dass das Bundesverfassungsgericht zunehmend in die Rolle eines obersten Mietgerichts gedrängt wird (RN 250 ff.).
- Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das als „sonstiges Recht“ nach § 823 I absoluten Deliktsschutz genießt, hat man direkt aus Art. 1 und 2 GG abgeleitet. Da es auch die persönliche Ehre einschließt, ist der zivilrechtliche Ehrenschutz nicht mehr auf § 823 II mit §§ 185 ff. StGB angewiesen, sondern lässt sich unmittelbar auf § 823 I stützen. Aber man muss das Persönlichkeitsrecht des Beleidigten nach subtilen Regeln gegen das Recht des Beleidigers auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 GG abwägen (BVerfG NJW 95, 3303).

4. Kapitel Die Rechtsanwendung

1. Die Subsumtion des Sachverhalts unter die Rechtsnormen

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Recht anwenden heißt, für einen bestimmten Lebenssachverhalt (Autokauf oder Verkehrsunfall) aus einer abstrakten Rechtsnorm (§ 437 BGB oder § 7 I StVG) konkrete Rechtsfolgen ziehen. Wie aber lässt sich zwischen zwei heterogenen Größen: der abstrakten Rechtsnorm und dem konkreten Lebensvorgang eine plausible Verbindung herstellen? Jede vollständige Rechtsnorm besteht aus zwei Teilen: aus Tatbestand und Rechtsfolge. Rechtsfolge ist oft ein Anspruch. Die Rechtsnorm ist dann Anspruchsgrundlage und ihr Tatbestand formuliert die Anspruchsvoraussetzungen. Den Anspruch bekommt nur, wer die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt. Der Versuch, die Tatsachen des Lebens mit den Begriffen des Gesetzes in Einklang zu bringen, heißt von alters her Subsumtion und besteht aus drei Sätzen: aus Obersatz, Untersatz und Schlusssatz, nach dem bekannten naturwissenschaftlichen Muster: Alle Menschen müssen sterben (Obersatz). Sokrates ist ein Mensch (Untersatz). Also muss auch Sokrates sterben (Schlusssatz).

Der Jurist argumentiert genauso, ersetzt das „Müssen“ freilich durch das „Sollen“. Obersatz ist die abstrakte Rechtsnorm, Untersatz der konkrete Rechtsfall (Sachverhalt), Schlusssatz die konkrete Rechtsfolge.


Obersatz: Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Eigentum eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen nach § 823 I zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
Untersatz: Der Beklagte hat den Hund des Klägers, einen dreijährigen Boxer-Rüden im Werte von 1 500,– €, willentlich vergiftet, weil ihn das ständige Bellen störte.
Schlusssatz: Also ist der Beklagte verpflichtet, dem Kläger den Schaden von 1 500,– € zu ersetzen.

Der juristische Denkweg beginnt mit der konkreten Rechtsfolge, die der Kläger im Klageantrag formuliert (Anspruch auf 1 500,– € Schadensersatz), sucht nach der passenden Anspruchsgrundlage für Schadensersatz (§ 823 I) und prüft, ob der konkrete Sachverhalt (Vergiftung des Hundes) den abstrakten Tatbestand der Anspruchsgrundlage (rechtswidrige und schuldhafte Eigentumsverletzung) erfülle.

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