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Kuno Fischers Schopenhauer-Buch

Kuno Fischer legt in seinem Schopenhauer-Buch »die Geschichte des jüngsten und letzten Philosophen«55 der großen, unmittelbar von Kant ausgehenden Periode systematischen Denkens vor. Seine philosophische Bedeutung und sein unaufhaltsam sich ausbreitender Ruhm sind dabei gleichermaßen Motiv, Schopenhauer in die Reihe der Denker aufzunehmen, von denen Fischers philosophiegeschichtliches Monumentalwerk handelt. Die Aufgabe, vor die wir angesichts der im Rahmen der europäischen Geistesgeschichte singulären Erscheinung dieses philosophischen Originalgenies gestellt sind, hat Fischer in der Vorrede zur zweiten Auflage (1897) formuliert, sie hat bis heute nichts an Aktualität verloren: »Die Schopenhauer-Literatur floriert. Wenn man den Philosophen richtig zu verstehen und zu beurteilen vermag, was freilich etwas schwieriger ist, als seine Schriften lesen und loben, so wird die Beschäftigung mit ihm nicht bloß blühen, sondern auch Frucht tragen. Von Schopenhauer ist mehr zu lernen als von ›Zarathustra‹«.56

Schopenhauer – Biographisches

Die Kennzeichnung Schopenhauers als eines philosophischen Außenseiters trifft nicht erst auf seine Philosophie, sondern bereits auf seine Biographie zu. Die von Kuno Fischer aus Selbstdarstellungen und Briefen sorgfältig recherchierte Vita zeigt uns Schopenhauers Werdegang in keinem Punkt mit dem eines deutschen Gelehrten des 18. Jahrhunderts vergleichbar. Dieser kommt typischerweise aus kleinen Verhältnissen, sein Bildungsweg beginnt mit dem Studium der Theologie oder Philologie und auf seine akademische Laufbahn bereitet er sich als Hauslehrer vor. Weder die »Atmosphäre des Pfarrhauses« noch die Hochschätzung der »Gelehrsamkeit«, sondern Wohlstand, Unabhängigkeit und »freie Menschenbildung«57 kennzeichnen die urbane Atmosphäre des von Danzig, dem Geburtsort Schopenhauers, nach Hamburg übersiedelten Handelshauses, aus dem Schopenhauer stammt und das weiterzuführen er von seinem Vater bestimmt ist. Seine Erziehung erhält er in vornehmen privaten Instituten im In- und Ausland, ausgedehnte Reisen (Holland, Belgien, England, Frankreich, Schweiz, Österreich) geben ihm die Möglichkeit, im »Buch der Welt« zu lesen und sich mehrere Fremdsprachen mit einer Vollkommenheit anzueignen, die ihm in späteren Jahren die Übersetzung schwierigster philosophischer Texte ermöglicht. Nach dem tragischen Tod des Vaters (1805), der Auflösung des väterlichen Geschäftes und der Übersiedelung von Mutter und Schwester nach Weimar ergibt sich endlich auch für Schopenhauer die Möglichkeit, das verhasste »Comptoir«, in das einzutreten er sich im Anschluss an die Europareise verpflichtet hatte, hinter sich zu lassen und seinen auf Poesie, Kunst und Wissenschaft gerichteten Neigungen zu folgen. Da ihm die Voraussetzungen für ein Studium fehlen, beginnt die Auseinandersetzung mit der Welt der Bücher nunmehr, wiederum in Umkehrung des natürlichen Lebenslaufes – »erst die Wanderjahre, dann die Lehrjahre«58 – mit dem Besuch des humanistischen Gymnasiums (1807), dessen Lernstoff der Hochbegabte sich in so kurzer Zeit aneignet, dass er schon 1809 sein Studium an der Universität Göttingen beginnen kann. Schopenhauer setzt das Studium 1811 an der Universität Berlin fort und wird schließlich 1813 in Jena mit der Dissertation »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« zum Doktor der Philosophie promoviert.

Fischers Darstellung ist dadurch charakterisiert, dass sie den Fortgang des Lebens (Biographie), das Werden des Werkes (den Entwicklungsgang seines Denkens) und Schopenhauers Persönlichkeit in unmittelbarer Aufeinanderbezogenheit herausarbeitet. In diesem Sinn qualifiziert er den Rat seines Göttinger Lehrers Gottlob Ernst Schulze, zuallererst und vor allem Platon und Kant zu studieren, als die »folgenreichste Begebenheit seiner geistigen Bildungsgeschichte«59, die Lektüre Kants greift wegweisend in Schopenhauers Entwicklung ein, ihr verdankt er die grundsätzliche Entscheidung für die philosophische Laufbahn, der Auseinandersetzung mit Kants Idealismus darüber hinaus die erkenntnistheoretische Grundlage seines Systems. Mit dem Hinweis auf Platon und Kant sind bereits zwei Säulen dieses Systems markiert, zu ihnen treten als dritte wesentliche Voraussetzung seiner Philosophie die Upanischaden – in die indische Philosophie wird er durch den Orientalisten Friedrich Majer eingeführt.

In Weimar wird die Mutter Johanna Schopenhauer, die später als Reise- und Romanschriftstellerin Berühmtheit erlangt, zum Mittelpunkt eines schöngeistigen Salons, zu dessen bedeutendsten Besuchern Goethe gehört. Im Salon der Mutter, mit der er sich allzu rasch endgültig überwirft, lernt auch Schopenhauer Goethe kennen, den er zeit seines Lebens schätzt und verehrt. Von ihm persönlich in seine Farbenlehre eingeführt, nimmt der gelehrige Schüler die Gedanken des Meister mit solcher Selbständigkeit auf, dass Goethe sehr bald Grund zu Klagen hat: er sieht das Verhältnis Schüler – Meister für seinen Geschmack zu schnell sich ins Gegenteil verkehren. Ebenso beurteilt Goethe später auch Schopenhauers Schrift: »Über das Sehn und die Farben« (1815), die dieser als philosophische Begründung und Fortbildung der Goetheschen Farbenlehre versteht. In Dresden entsteht Schopenhauers philosophisches Hauptwerk: »Die Welt als Wille und Vorstellung«, das 1819 vom Verlag F. A. Brockhaus veröffentlicht wird und, die Erwartungen von Autor und Verleger enttäuschend, zum geschäftlichen Misserfolg gerät. Eine Italienreise endet im Juni 1819 jäh durch die Nachricht vom Zusammenbruch des sein und seiner Familie Vermögen verwaltenden Handelshauses. Schopenhauer gelingt es, den drohenden Vermögensverlust durch kluges Taktieren abzuwenden; er fasst den Entschluss, die akademische Laufbahn einzuschlagen, habilitiert sich in Berlin und beginnt dort im Frühjahr 1820 seine Lehrtätigkeit als Privatdozent. Doch auch als Universitätslehrer ist Schopenhauer erfolglos, die wenigen Hörer bleiben nach einigen Semestern ganz aus und der Dozent ist auf Jahre nur noch in den Vorlesungsverzeichnissen zu finden. Er verlässt Berlin auf der Flucht vor der herannahenden Cholera, um sich ab 1833 in Frankfurt am Main dauerhaft niederzulassen. Die Arbeiten aus seiner zweiten literarischen Schaffensperiode, unter anderem die Schrift »Über den Willen in der Natur« (1836) und seine beiden ethischen Schriften, die von der norwegischen Sozietät 1839 preisgekrönte Schrift »Über die Freiheit des menschlichen Willens« und die von der dänischen Sozietät 1840 nicht preisgekrönte Schrift »Über das Fundament der Moral« teilen das Schicksal seines Hauptwerkes. Der schriftstellerische Erfolg und die Anerkennung durch die akademische Welt bleiben aus.

Fischer zeichnet Schopenhauers Persönlichkeit als gleichermaßen hochbegabt und schwer belastet. Spottsucht und Rechthaberei bringen ihn immer wieder in Schwierigkeiten und zeigen uns schon den jungen Schopenhauer als einen eigenbrötlerisch-ungeselligen Menschen. Insbesondere eine Disposition zu Wahnideen und Angstgefühlen, unwiderstehliche Menschenscheu, Furcht, Argwohn und Misstrauen bleiben sein unbezwingbares väterliches Erbe und sind verantwortlich für eine Gemütsbeschaffenheit, auf deren Grund sich schon früh ein pessimistisches Lebensgefühl bemerkbar macht. Dagegen zeigt sich sein »intellektuelles Naturell […] mit dem ganzen Schwergewicht seines starken und heftigen Wollens angetan und ausgerüstet; er war berufen ein genialer Künstler zu werden, nicht ein solcher, der die Erscheinungen in Gestalten und Farben, sondern der das Wesen und die Beschaffenheit der Dinge in Begriffen darstellt und abbildet: ein Künstler, dessen Stoff in Erkenntnissen, Einsichten und Ideen besteht, die auf dem Weg der gelehrten, wissenschaftlichen, philosophischen Bildung und Arbeit erworben werden mussten.«60 Er hat tatsächlich, was ihm später zur Lehre wurde, den Charakter vom Vater und die Intelligenz von der Mutter geerbt.

Bei aller Detailtreue kommt Fischer in der Nachzeichnung von Schopenhauers Biographie ganz ohne die sonst so beliebte Anekdote aus, dass er dabei auch auf Weichzeichnung und Schönfärberei verzichtet und die Schattenseiten und Widersprüchlichkeiten, die seinen Charakter prägen, nicht verschweigt, hat ihm Kritik unter jenen Anhängern Schopenhauers eingetragen, denen der verehrte Meister über allem steht – die sich auch heute noch als »Apostel« und »Evangelisten«61 in den Dienst seiner Sache stellen. Fischers Darstellung der Persönlichkeit Schopenhauers bleibt unvoreingenommen und fair auch dort, wo er uns den Philosophen als Menschen zeigt, der in mehr als einer Hinsicht imponiert, aber in kaum einer sympathisch erscheint. Von der Gehässigkeit, mit der etwa das erste Kapitel des Schopenhauer-Artikels in Fritz Mauthners »Wörterbuch der Philosophie«62 zu einer Abrechnung mit Fischers Schopenhauer-Darstellung gerät, ist Fischer selbst weit entfernt.63 Die eigene vornehme Gesinnung zeigt er am deutlichsten dort, wo er guten Grund gehabt hätte, Schopenhauer bloßzustellen, Schopenhauer hatte Fischers unrechtmäßige Aberkennung der Lehrbefugnis an der Heidelberger Universität mit den Worten kommentiert: »Es geschieht ihm sehr recht«64. Fischer weist auf diesen Kommentar ohne bittere Häme hin, wie sie einem kleinlich nachtragenden Gemüt wohl gerechtfertigt erschienen wäre – der mit den näheren Umständen nicht vertraute Leser erfährt nicht einmal, dass es sich bei dem denunzierten und vertriebenen Dozenten um Fischer selbst handelt.65

Schopenhauer und die Universitätsphilosophie

Arthur Schopenhauer ist eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, dass sich Philosophie nicht auf Universitätsphilosophie beschränken lässt. Im Anschluss an Kant, für dessen einzig wahren und echten Thronerben er sich hält, und gleichzeitig völlig unbeeindruckt durch die Fortschritte, welche die Philosophie in Auseinandersetzung mit Kant, seit Kant erfahren hat, legt das Originalgenie als Dreißigjähriger sein Hauptwerk: »Die Welt als Wille und Vorstellung« vor, um den Rest seines Lebens an dessen Erweiterung, Vertiefung und Kommentierung zu arbeiten. Die thematischen Schwerpunkte dieses, aus der Explikation des einen Grundgedankens: die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens, hervorgehenden organischen Ganzen, sind: Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ethik und Ästhetik. Dass er den Sinn der Weltgeschichte für Täuschung erklärt, vollends aber dass sein systematischer Entwurf zu Selbstverleugnung und Weltüberwindung führt, bringt Schopenhauer in schärfsten Gegensatz zur abendländischen Philosophie und jenem ihr immanenten Optimismus, der in Leibnizens Lehre von der besten aller möglichen Welten beredten Ausdruck gefunden hat.66

Von der Universitätsphilosophie zeitlebens ignoriert, wird Schopenhauer nur zögernd, zunächst in Literatur und Kunst zur Kenntnis genommen, um im letzten Lebensjahrzehnt endlich als Misanthrop und Pessimist allgemein bekannt zu werden. Eine breitere Leserschaft und schließlich Popularität gewinnt ihm dabei freilich nicht sein Hauptwerk, sondern Schriften, die ihm, gemessen an diesem nur Parerga (Beiwerke, Nebenwerke) und Paralipomena (Randbemerkungen, Nachträge) waren, wie etwa seine »Aphorismen zur Lebensweisheit«, von denen das lesebereite Publikum schon dem Titel nach nicht akademische Subtilitäten, sondern Antworten auf die Frage: Was ist der Mensch? im Sinne des kantischen Weltbegriffs der Philosophie erwarten durfte. Was die Universitätsphilosophie betrifft, bleibt er ein Außenseiter, der ihr in der Folge eben deshalb ihr zunächst ferne liegende Themenkreise (z.B. Buddhismus) zu erschließen vermag.

Fischer lässt keinen Zweifel daran, dass die Rezeption von Schopenhauers Philosophie, oder besser deren Ausbleiben, einzigartig und dem Rang und der Qualität seiner Werke völlig unangemessen ist: »Man weiß ja, dass Bücher ihre Schicksale haben; schwerlich haben philosophische je ein ähnliches gehabt. Es handelte sich um Werke, die keineswegs von innen dunkel waren, vielmehr durch ihren Reichtum an erleuchtenden und neuen Ideen, durch ihre stilistische und künstlerische Vollkommenheit die volle Beachtung aller Literaturkenner und Literaturfreunde sogleich verdient hätten.«67 Wie erklärt sich die Ignoration eines so bedeutenden Werkes? – War hier tatsächlich eine Verschwörung von Philosophieprofessoren am Werk, deren Kopf Hegel und deren Triebkraft die Todesangst des Mittelmaßes vor dem Genie gewesen ist, wie Schopenhauer mit unbelehrbarer Hartnäckigkeit behauptet hat68, oder ist es einfach so, dass Philosophen, die gut schreiben können, vom Fach nicht ganz ernst genommen werden?69 Fischer gibt zu bedenken, dass die Philosophieprofessoren nicht der Zeitgeist sind und verweist in diesem Zusammenhang auf Schopenhauers unzeitgemäße Themenwahl. Für ihn steht die Nichtbeachtung Schopenhauers damit im Zusammenhang, dass die, die Zeit bestimmenden Probleme und Fragen allesamt von historischem Charakter waren, ihr Thema war die Weltgeschichte, der sich Schopenhauer »von Grund auf abgewendet zeigt«70. Erst als das »Grunddogma« der hegelschen Philosophie, die Lehre vom »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«, seine beherrschende Stellung verliert, ist die »Zeit […] gekommen, wo man seinen Worten lauscht«, mit welchen er »die Lehre von dem Thema und Endzweck der Weltgeschichte für eine Täuschung [erklärt] und dieselbe gründlicher als je ein Sterblicher vor ihm der Welt auszureden« versucht.71

Schopenhauer, der seine Außenseiterrolle mitunter genossen, unter seiner Erfolglosigkeit aber schwer gelitten hat, hat sich mehrfach »Über die Universitätsphilosophie« geäußert, zusammenfassend unter diesem Titel im ersten Band seiner Parerga.72 Den entsprechenden Ausführungen fehlt es nicht an plakativen Gegenüberstellungen: Einsicht steht gegen Absicht, Sein gegen Schein, Philosoph gegen Sophist, Genie gegen Gelehrter, Selbstdenker gegen Bücherphilosoph, die »alma mater« ist Schopenhauer nicht primär im geistigen, sondern im handgreiflichen Sinn eine nährende Mutter, das Genie braucht die Universität nicht, es lebt für die Philosophie, die Philosophieprofessoren dagegen leben von der Philosophie; an die Stelle der Liebe zur Weisheit tritt die Lohndienerei, der Hinblick auf den Gewinn, den die Wissenschaft abwirft, der Missbrauch von Universität und Philosophie als bloßes Mittel. Die Lektüre dieser Schimpfreden wird den unterhalten, der eine solche Art der Polemik zu schätzen weiß und nicht den Anspruch hat, von ihr belehrt zu werden, schon Fischer hat auf die Folgenlosigkeit dieser Art der Schmähungen (Sophist, Lump, Galimathias etc.) hingewiesen: »Was hat die Welt davon, dass er seine Galle los wird?«73 Wer weiß, dass die Personalunion von Universitätsprofessor und Philosoph in der Tat nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist,74 nimmt mit Erstaunen zur Kenntnis, dass Schopenhauers Abrechnung mit der Universitätsphilosophie vorrangig solche Ausnahmen (Fichte, Schelling, Hegel) zur Zielscheibe seiner polemischen Attacken macht. Den Vorwürfen ist mit Bruno Liebrucks entgegenzuhalten, dass der »sophistische Charakter der Philosophie nicht eliminierbar [ist,] [s]olange wir in der Bemühung um Philosophie auch ›unser täglich Brot‹ verdienen«.75 Aus Schopenhauers Mund erscheinen sie umso verwunderlicher, als vermutet werden darf, dass er selbst, nach dem drohenden und zuletzt glücklich abgewendeten Vermögensverlust, eine akademische Laufbahn vor allem im Hinblick auf eine materielle Sicherstellung ins Auge gefasst hat. Ist also nach der Fabel Schopenhauer der Fuchs und die Philosophieprofessoren die Trauben? – redet er schlecht, was er vergeblich zu erreichen versucht hat? Obgleich man seinen Ausführungen das Ressentiment nur allzu deutlich ansieht, sollte man es sich damit nicht zu einfach machen. Schopenhauer und die Universitätsphilosophie seiner Zeit sind sich gegenseitig einiges schuldig geblieben – die Universitätsphilosophie die Auseinandersetzung mit Schopenhauer und die Anerkennung seiner Leistungen, wenn wir von vereinzelten Versuchen, Schopenhauers Philosophie zum Gegenstand akademischen Forschens (Preisfrage) und universitären Unterrichtens (Vorlesungen) zu machen absehen, hat diese Schuld wohl erst Kuno Fischer in der vorliegenden Monographie eingelöst – und Schopenhauer die Kritik der Universitätsphilosophie. Diese ist im Hinweis auf die je eigene Originalität und Genialität auch nicht zu leisten. Trotz der Vielzahl thematisch einschlägiger Passagen finden wir daher bei Schopenhauer auch dort, wo das Gesagte über Beschimpfungen und Verunglimpfungen hinausgeht, nur sehr wenig, woran anzuknüpfen wäre, um diese unter den nicht bloß geänderten, sondern verschärften Bedingungen der Gegenwart ebenso schwerer wie ungleich dringlicher gewordene Aufgabe zu lösen. Ist nicht auch heute an den Universitäten mancherorts, um es mit den Worten des Übertreibungskünstlers zu sagen, »die Wirklichkeit […] so schlimm / daß sie nicht beschrieben werden kann«76 und sehen wir nicht auch gegenwärtig die Universitätsphilosophie »mit hundert Absichten und tausend Rücksichten behaftet […] ihres Weges« gehen?77 Bei leicht veränderter Schwerpunktsetzung und Aktualisierung, was das Inhaltliche betrifft, sind Vorsichten und Rücksichten, die den »Willen des Ministeriums«, »die Wünsche der Verleger«, »die gute Freundschaft der Kollegen«, »den Zuspruch der Studierenden«, »den Gang der Tagespolitik«, »die Richtung des Publikums« u.a.m. im Auge haben, nach wie vor Ausdruck akademischer Untugenden. Während man sie an einer am humboldtschen Bildungsbegriff ausgerichteten Universität als persönliche Verfehlungen eines Ideals ansehen kann, das selbstverständliche Geltung hat, stehen für die Philosophie an einer Universität, die ihr gegenwärtiges Erscheinungsbild einer Reihe von primär ökonomisch motivierten und nach den Gesetzen des Marktes maßstäblich ausgerichteten Reformen verdankt, Möglichkeit und Berechtigung ihrer universitären Existenz in Frage. Angesichts der Drohung, dass sich die wenig vorteilhafte Position der Philosophie im Verteilungskampf um knapper werdende finanzielle Mittel weiter verschlechtern könnte, die stets noch jene Vandalen auf den Plan gerufen hat, die unter dem Titel ihrer Selbsterhaltung ihre Selbstauflösung betreiben, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der Philosophie das »Asylrecht«78, das sie an Universitäten noch genießt, gekündigt wird.

Eine Kritik der Universitätsphilosophie setzt einen Begriff von Philosophie voraus, der es ihr ermöglicht, in Abhebung zu einem am Paradigma neuzeitlicher Naturwissenschaft orientierten Wissenschaftsverständnis, als Wissenschaft auftreten zu können. Soll dieser Versuch einer Standortbestimmung der Philosophie im Verhältnis zu den Einzelwissenschaften nicht zur Anpassung an das Vorgehen derselben werden, kann sich Philosophie nur im Widerstand gegen die auf Effektivität, Effizienz, Erfolg, Nutzen etc. gerichteten Tendenzen behaupten. Der durch die institutionellen Rahmenbedingungen verschärfte Anpassungsdruck ist groß, wie viel sie ihm jeweils entgegenzusetzen hat entscheidet darüber, wie weit sie bleiben kann, was sie ist und offenbart darin das Ausmaß, in dem sie sich selber versteht resp. missversteht. Wo die Aufgabe scheitert, wird das, was geistige Arbeit verhindert, zu ihrem Ausweis. Die Selbstkritik gegenwärtiger Universitätsphilosophie hat nicht die Qualität, dass sie auf Unterstützung durch Argumente von philosophischen Außenseitern, wie Schopenhauer einer ist, verzichten könnte. In diesem Sinn ist das Werk Schopenhauers auf mannigfache Weise geeignet, der »Universitätsphilosophie« – um zur Not bei dieser problematischen Verallgemeinerung zu bleiben – einen Spiegel vorzuhalten. Wer würde nicht akademischen Untugenden, wie etwa der von solchem Anpassungszwang diktierten Vielschreiberei (publish or perish) Schopenhauers Grundsatz entgegenhalten wollen, nur dann zu schreiben, wenn man etwas zu sagen hat, und selbstredend wäre Schopenhauer angehenden philosophischen Schriftstellern zur Pflichtlektüre aufzugeben, wenn man nur den Schreibstil durch Lektüre zu beeinflussen und zu verbessern hoffen dürfte. Kant hat gezeigt, dass im Rahmen der Frage: Was ist der Mensch?, Schulbegriff und Weltbegriff der Philosophie spannungsvoll aufeinander bezogen sind79. Philosophie ist darin unaufhebbar durch den Gegensatz Esoterik – Exoterik bestimmt. Da sie ihrer Aufgabe in der Alternative von gehaltvoller Naivität und leerer Differenziertheit, die mit der Abspannung des Gegensatzes, d. h. in der Beschränkung auf bloß eines der Momente droht, nicht gerecht zu werden vermag, müssen immer wieder Anstrengungen einer Vermittlung beider Momente in dem Sinn unternommen werden, dass die philosophische Spezial- und Fachdiskussion auf die Grundfrage: Was ist der Mensch? zurückbezogen wird. In ihrer Tendenz zu Spezialisierung und Differenzierung steht die Universitätsphilosophie immer in der Gefahr, sich von ihrem Quellpunkt abzuschneiden. Das ungebrochene Interesse an Werken wie Schopenhauers »Aphorismen zur Lebensweisheit« ist so gesehen ein vorwurfsvoller Hinweis darauf, dass die Universitätsphilosophie auf Fragen von einiger Bedeutung keine Antworten hat. Auf dem Weg von der Liebe zur Weisheit zur Wissenschaft esoterisch geworden, hat sie den Anspruch, »Führerin des Lebens«80 zu sein, aufgegeben und überlässt das unbestellte Feld dem philosophischen Dilettantismus, in Form der psychologischen Beratung, der Lebenshilfeliteratur etc.

2 323,81 ₽
Возрастное ограничение:
18+
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851 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783843800662
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