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2. Die entdeckte Verschwörung

Gegen Ende des Jahrzehnts, zur Zeit der Siege über die Volksaufstände, vielleicht im Zusammenhange mit der Freude darüber erwachte in Schopenhauer ein Gefühl davon, dass seine Zeit herannahe. Das Märchen von der Verschwörung der Philosophieprofessoren wider ihn, woran er steif und fest glaubte – sie hatte ja schon vor dreißig Jahren mit Beneke begonnen –, nahm jetzt in seiner Einbildungskraft eine Wendung zum Besseren; es ging ihr, wie es jeder schändlichen Verschwörung gehen soll: sie kam an das Licht des Tages! Infolge seiner so oft wiederholten Donnerworte und der jüngsten Schriften von ihm und über ihn ist sie endlich entdeckt und die Verschwörer in Furcht und Schrecken gejagt worden. Schon ist es so weit, dass die heimtückischen Feinde seine Schriften nicht mehr ignorieren, sondern nur noch sekretieren, d. h. alles tun, um dieselben geheim zu halten. Das ängstliche Manöver stellte sich ihm vor Augen: die Philosophieprofessoren haben seine Schriften zu Hause und sehen sie an »wie das Galgenmännlein im Fläschchen oder wie der Magus das Teufelchen Asmodäus im Fläschchen und sagen: ›ich weiß, kommst du heraus, so holst du mich‹«. – Im Stillen weidet er sich an den Angstzuständen der Professoren, die jetzt nur noch auf ihre gemeinsame Rettung bedacht sind. »Ich möchte den Kriegskonseil der Herren behorchen, ihre Verlegenheit muss unbeschreiblich sein.« »Aber dies irae kommt!« So schreibt er den 9. Dezember 1849. Noch sechs Jahre später kann er sich ihre Furcht vor ihm nicht lebhaft genug ausmalen: »Ich glaube, dass sie alle den ganzen Tag an mich denken und herumschleichen wie der Abt zu St. Gallen – ›ihm wird’s vor den Augen bald gelb und bald grün, o guter Hans Bendix‹ usw. – und dass ich ihnen nachts noch im Traume vorkomme als Werwolf«.189

3. Das Goethe-Album

Es gab übrigens nach seiner Meinung noch einen zweiten Fall einer solchen schändlichen Verschwörung zur Unterdrückung der Wahrheit. Wie sich die Philosophieprofessoren zu ihm, so haben sich die Physiker zu Goethe verhalten. Als er nun zur ersten Säkularfeier der Geburt des Dichters einen Beitrag in das Frankfurter Goethe-Album liefern sollte, schrieb er das große Pergamentblatt, das man ihm geschickt hatte, auf beiden Seiten voll »mit einer greulichen Philippika und zwar diesmal adversus physicos. Diese nämlich haben gegen Goethes Farbenlehre sich analog benommen wie die Philosophieprofessoren gegen meine Philosophie. Ich bin meiner Sache gewiss, habe mich dermaßen deutlich gemacht, dass es ein Skandal sein wird. Goethe sieht von oben herab auf das Album seiner Vaterstadt, hat gewiss zehnmal mehr Freude über mein Donnerwetter als über alle Lobhudeleien der übrigen, sagt: ›du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe’, und begreift, wie dämonisch er getrieben war, als er 1813 mich zu seinem persönlichen Schüler darin gleichsam presste, vorherfühlend: ›exoriare aliquis meis ex ossibus ultor’!«190

Als er fünf Jahre später erfuhr, dass Goethe in seinem Briefwechsel mit dem Staatsrat Schultz ihn zwar wegen seiner Fähigkeiten belobt, aber einen Gegner seiner Farbenlehre genannt habe, rief er aus: »Während ich 40 Jahre nachher und 22 Jahre nach seinem Tod noch ganz allein dastehe und die Standarte seiner Farbenlehre hoch emporhalte, schreiend: ›ihr Esel, er hat recht!’ – hier in seiner alten Vaterstadt, in deren Albo. Er tut es aber bloß, weil auch ich eine Herstellung des Weißen aus Farben lehre, und seine Maxime ist: ›Und weiche keinen Finger breit von Goethes Wegen ab’.«191 Es ist wahr, dass Schopenhauer in der Verteidigung der Goethe’schen Farbenlehre sich als der treue Eckart bewährt hat: er hat um ihretwillen von Goethe selbst viel Leid und Unrecht erlitten, aber nie wider ihn gemurrt.

Mit dem Beginn des neuen Dezenniums – es ist sein letztes – steigt die Bahn des dreiundsechzigjährigen Mannes aufwärts, was die Anerkennung und den Ruhm seiner Werke betrifft, den ihm die Welt noch immer schuldet. Der Montblanc fängt an sich zu entwölken und im Morgenlicht zu strahlen. Zwar bleibt der Pessimismus sein unwiderrufliches Dogma, aber sein tägliches Leben im Anblick des steigenden Ruhms wird mit jedem Tag behaglicher, es strotzt von »unerschütterlicher Gesundheit« und Wohlgefühl, wie seine Briefe an den dienstfertigen Freund von einer oft skurrilen Heiterkeit, die uns an Heine erinnert.

Siebentes Kapitel

Der dritte Abschnitt der Frankfurter Periode (1851 – 1860)

I. Die neue Ära
1. Die reaktionäre Zeitströmung

Die erste Hälfte unseres Jahrhunderts hatte mit einer Revolution und Volksaufständen geendet, die an der Macht der gesetzlichen Ordnung, an der Widerstandskraft der gewohnten Zustände, zuletzt an ihrer eigenen Unvernunft gescheitert waren; die zweite Hälfte begann mit einer allgemeinen Reaktion und dem überhandnehmenden Gefühl, dass die Freiheitsideen und deren Literatur Schiffbruch gelitten hatten. In den Schriften des jungen und jüngeren Deutschlands, wozu auch die nach links gerichteten Zweige der Hegel’schen Philosophie zu rechnen sind, hatte sich eine Flut freidenkerischer Literatur ergossen, die von der Revolution der Julitage 1830 herkam und in die Revolutionen der Februar- und Märztage 1848 mündete.

Zum Schutz der wiederhergestellten Ordnung wurden in den fünfziger Jahren eine Reihe reaktionärer Maßregeln ergriffen, von denen ein wesentlicher Teil in der strengen Beaufsichtigung der Lehrkanzeln und in der Absetzung verdächtiger Universitätslehrer bestand.

Nicht bloß die Gewalthaber waren reaktionär gerichtet, sondern die herrschende Zeitströmung selbst. Viele waren der bisherigen Dichter und Philosophen überdrüssig, an der Richtigkeit ihrer Ideen und an dem Grundthema derselben, nämlich dem Fortschritt der Weltgeschichte und Menschheit, irre geworden. Unwillkürlich entstand die Neigung zu einer pessimistischen Betrachtungsart, für welche kein anderer der berufene Zeitphilosoph sein oder werden konnte als Schopenhauer. Dieser selbst, wie jedes Wesen auf die Erhaltung und Mehrung seines Daseins ausgeht, fühlte instinktiv, dass die reaktionäre Zeitrichtung ihm zur Hebung und zum Heil gereiche; dass durch die preußischen Krieger nicht der Aufruhr allein, sondern auch die ganze ihm verhasste Literatur vorläufig zum Schweigen gebracht sei.

Waren nicht pantheistische, materialistische, sozialistische Lehren aus jener Philosophie hervorgegangen, die er »das Basiliskenei« nannte? Jede Absetzung eines solcher Richtungen verdächtigen oder schuldigen Universitätslehrers begrüßte Schopenhauer mit hellem Frohlocken. Ein junger Dozent der Philosophie in Heidelberg war bei und von der Kirchenbehörde als Pantheist angeklagt und von der Regierung ohne Angabe irgendeines Grundes der venia legendi verlustig erklärt worden. »Es geschieht ihm sehr recht«, jubelte Schopenhauer, »er steht da als der letzte Hegelianer und Märtyrer, kein Katholik glaubt so blind an das Evangelium, wie er an die deliramenta Spinozae!« Dies war nun die volle Unwahrheit. Das Buch, erst nach der Absetzung erschienen, hatte die Lehre Spinozas objektiv dargestellt, dann beurteilt und ihre Unhaltbarkeit nachgewiesen.

Nicht lange nachher gingen zwei Dozenten der medizinischen Fakultät ihrer venia legendi verlustig: Moleschott in Heidelberg wegen seines Buches »Der Kreislauf des Lebens« und Büchner in Tübingen wegen seiner Schrift »Kraft und Stoff«. »Hätte ich nicht gewusst«, schreibt Schopenhauer, »dass der berühmte Hr. Moleschott das Buch geschrieben, so würde ich es nicht einmal von einem Studenten, sondern von einem Barbiergesellen, der Anatomie und Physiologie gehört hat, herrührend glauben. So krass, unwissend, roh, plump, ungelenk, überhaupt knotenhaft ist das Zeug.« »Aus derselben Schule ist ein neues Buch von Dr. Büchner über Kraft und Stoff und ganz im selben Geist. Ich hoffe zuversichtlich, dass diesem Burschen auch das ius legendi genommen werde. Diese Lumpe vergiften Kopf und Herz und sind unwissend, wie die Knoten, dumm und schlecht.« Schon im nächsten Brief freut er sich der erfüllten Hoffnung. »Mit hoher Befriedigung ersehe aus der gestrigen Postzeitung, dass dies schon eingeleitet ist. Ihm geschieht Recht: denn das Zeug ist nicht bloß höchst unmoralisch, sondern auch falsch, absurd und dumm und die Wurzel ist die Unwissenheit, das Kind der Faulheit.« »So ein Mensch hat nichts gelernt als ein bisschen Klystierspritzologie, keine Philosophie, keine Humanitätsstudien getrieben: damit wagt er sich dummdreist und vermessen an die Natur der Dinge und der Welt. Ebenso Moleschott. Geschieht ihnen Recht, erleiden ihre Strafe für ihre Ignoranz.«192

Ich habe diese Stellen wörtlich angeführt, um zu zeigen, wie Schopenhauer von Herzen erfreut über jene Absetzungen war, die als politische und reaktionäre Maßregeln mit dem wissenschaftlichen Unwert und der Ignoranz nicht das mindeste zu schaffen gehabt: diese sprechen wider die Verleihung der venia legendi, doch sind sie nie Gründe gewesen, aus denen eine Regierung die Vorlesungen akademischer Dozenten verboten hat.

Man sollte meinen, dass Schopenhauer aus religiösen oder politischen Gründen selbst reaktionär gesinnt war; dass er dem Materialismus den Spiritualismus, der pantheistischen Lehre die theistische entgegengesetzt habe. Wie aber wird man sich wundern, wenn man seine Schriften liest! Eine seiner wichtigsten Lehren erscheint, für sich genommen und von den übrigen isoliert, als der ausgeprägteste Materialismus: dass unsere Erkenntnis ein organisches Produkt sei und das Gehirn sich zu den Vorstellungen verhalte wie die Speicheldrüse zum Speichel, die Leber zur Galle, der Magen zur Verdauung, die Nieren zum Urin, die Hoden zum Samen u. s. f. Er hasst den Pantheismus, sofern derselbe optimistisch gesinnt ist. Was er ihm entgegensetzt, ist aber nicht der Theismus, den er noch heftiger hasst, sondern der Pessimismus und Atheismus. Er ist der ausgesprochenste Feind der jüdischen Religion; den Monotheismus des Alten Testaments nennt er »Judenmythologie«, die mosaische Gottesidee »den alten Juden«, um rohere Ausdrücke, welche Schimpfworten ähnlich sind, nicht zu wiederholen. Wenn er sich vorsichtig ausdrückt, so geschieht es aus Sorge für seine Sicherheit und aus Furcht vor den Gerichten, welche Beweggründe er, spaßend nach Heinescher Art, als die Erfüllung seiner besonderen Pflicht gegen Gott auslegt. »O, die Pflichten gegen sich selbst werden sehr vernachlässigt! Was soll es denn erst mit den Pflichten gegen andere und gar gegen Gott werden! Von letzteren kenne schon ich z.B. nur noch eine: die Pflicht der Höflichkeit«, – die er dann auch dem dienstfertigen Freunde angelegentlich empfiehlt. In aller Polemik wider die Theologie das »suaviter in modo« zu befolgen, kann er demselben nicht oft genug anraten, während er durch sein eigenes Beispiel das äußerste Gegenteil dieser goldenen Regel bewiesen hat.193

Hört man den Schopenhauer über und wider Hegel’schen Pantheismus und Feuerbach’schen Materialismus sich so wütend ereifern und alle Maßregeln zu ihrer gewaltsamen Unterdrückung gutheißen, so muss man des Verses gedenken: »Quis tulerit Gracchos de seditione querentes«, deutsch nach Strauß: »Ist es auch billig, darf man fragen, wenn Gracchen über Aufruhr klagen?« – und in den Anfängen, der Volksbewegung des Jahres 1848 hoffte derselbe Mann, dass die neue Zeit auch ihm zugute kommen und seiner Philosophie Raum schaffen werde. »Jetzt wird jedenfalls größere, wenn nicht totale Lehrfreiheit den Universitäten zufallen und dann auch wohl in der Philosophie der Jugendgott nicht mehr so durchaus obligat sein; worauf dann jüngere Dozenten, statt den alten armseligen Brei aufzutischen, es wagen werden, mit meiner soliden und reichen Tochter an der Hand aufzutreten.« So schrieb er im Juni 1848.194

Es ist natürlich keine Rede davon, dass Schopenhauer sich und seine Lehre dem Dienst der damaligen Reaktion anpassen gekonnt oder gewollt hatte: er, der über den bedeutendsten Repräsentanten und Wortführer jener Zeitrichtung in folgende Worte ausbricht: »Eben habe den neuen Band der Rechtslehre von Stahl durchblättert. Mit welcher Frechheit so ein Tartüffe die Jugend zu belügen sucht! Plumpes, dummes, elendes Geträtsche. Freilich muss so ein Kerl mich ignorieren bis zum letzten Augenblick: den Teufel merkt das Völkchen nicht, und wenn er sie am Kragen hätte. Aber doch! allen solchen zittert bei meinem Namen das Herz im Leibe. Glauben Sie mir’s.«195

Nun, Stahl und die anderen haben gewiss nicht bei seinem Namen gezittert, den sie nicht einmal kannten. Dass er aber dem Getriebe der Zeit aus weiter Ferne plötzlich auf den Leib gerückt war, dass infolge der veränderten Zeitlage und Richtung Affekte der empfänglichsten Art für die Zauber seiner Lehre und Rede erregt waren: dies hat er richtig herausgefühlt. Auch die Vergleichung war ganz gut gewählt und am Ende noch treffender, als er selbst wusste. Die Zeit war gestimmt wie die Gesellen in Auerbachs Keller: »Politisch Lied, ein garstig Lied!« Sie war zu allerhand Zaubereien geneigt, zu allerhand Täuschungen und Enttäuschungen und hörte am Ende mit zufriedenem Erstaunen, dass die ganze Welt Blendwerk sei: »Betrug ist alles, Lug und Schein!« Mit einem Worte, sie war auf dem Wege zu Schopenhauer oder schon bei ihm, ohne dass sie es ahnte, denn »Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte«. Schopenhauer selbst vergleicht sich sehr gern und darum so oft mit dem Mephistopheles in dieser Szene. Wenn man die Gegenstände Revue passieren lässt, mit welchen sich Schopenhauer nach den Umständen vergleicht, so sind sie stets von einer unheimlichen und unwiderstehlichen Gewalt: er ist der Minotaur, der steinerne Gast, der Mephistopheles, der Montblanc, die Sonne! »Ich bin das Monstrum«, sagte er zu Karl Bähr im Hinblick auf die Philosophieprofessoren, »das jeden Morgen vor ihnen steht, sie zu verschlingen.«196

Der Sinn der Zeit hatte sich gewendet. Die vom politischen Katzenjammer befallene, von der Gegenwart angewiderte Welt sehnte sich wieder einmal zurück ins alte romantische Land und konnte nicht oft genug die weihrauchduftende »Amaranth« (1849) hören; noch begieriger lauschte sie den Gesängen des »Trompeters von Säckingen« (1854); sie ließ sich das Märchen von »Waldmeisters Brautfahrt« (1851) erzählen und rief da capo, sie schwelgte in den Wein- und Liebesliedern von Hafis, die ihr gerade zu gelegener Stunde Daumer verdeutscht hatte (1852 und 1856). Die Dichter des Tages waren O. v. Redwitz, O. Roquette, V. Scheffel u.a. Nach dem Schiffbruch der deutschen Einheitsversuche, nach den Tagen von Bronzell und Olmütz, nach der Wiederherstellung des Bundestages in Frankfurt a. M. kam das Satyrspiel mit der elegisch-lustigen Grundstimmung: »O, du lieber Augustin, alles ist hin!« Der einzige Trost hieß: »Ergo bibamus!« Der poetische Zeitgeist inspirierte seinen Hofdichter zu einem »Neuen Gaudeamus«. Nach der Hegel’schen Philosophie sei die Weltgeschichte der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit: hol’ sie der Teufel! »Guano, Guano!« rief der Hofdichter der Zeit, »Gott segne euch, ihr trefflichen Vögel, an der fernen Guanoküst’, trotz meinem Landsmann, dem Hegel, schafft ihr den gediegensten Mist!« Der Fortschritt der Welt besteht nicht im Bewusstsein der Freiheit, sondern darin, dass sich der feuchte Genius loci ausdehnt von Auerbachs Keller in Leipzig bis zum »schwarzen Walfisch in Askalon«!

Doch wir wollen das Bild von Auerbachs Keller und seinen lustigen Gesellen nicht zu weit verfolgen, damit es nicht scheine, als ob wir Schopenhauers Lehre für ein bloßes Zauber- und Possenspiel halten. Bleiben wir bei jenem Bild, das wir gleich im Eingang gewählt hatten: der Zeitpunkt im Leben Schopenhauers ist gekommen, von dem es heißt: die Stunde seiner Audienz hat geschlagen.

2. Zeitphänomene
Das Tischrücken und der animalische Magnetismus

Es hatte sich so günstig gefügt, dass die »Parerga und Paralipomena« im November 1851 herauskamen, der Preis war billig, der Inhalt in Form der Essays lesbar und lesenswert, genussreich und belehrend. In der Geschichte nicht seiner Lehre, aber ihrer Anerkennung ist dieses Werk epochemachend, denn es war das erste, welches sogleich Leser in Menge gefunden hat. Seine Abhandlung »Über die Universitätsphilosophie«, die Schopenhauer vor dem Druck wegen ihrer Kampfeslust dem wiehernden Streitross im Stall verglich, strotzte von Polemik und kam der von uns geschilderten Zeitstimmung sehr gelegen. Eine andere Abhandlung, welche den damaligen Tagesinteressen höchst willkommen sein musste, war der »Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt«.

Schon in seiner Schrift »Über den Willen in der Natur« hatte Schopenhauer eine Reihe empirischer Tatsachen hervorgehoben und erläutert, die dem Grundgedanken seiner Lehre, dass der Wille die allgegenwärtige und allein wirksame Kraft sei, zur Bestätigung dienen sollten: darunter war der animalische Magnetismus eine der wichtigsten. Hier, wie in dem eben genannten Stück der »Parerga«, wurde auf Grund der kantischen Lehre von Zeit und Raum dargetan, dass der Wille, da er unabhängig von beiden, also auch von dem Kausalzusammenhang in Zeit und Raum sei, unmittelbar in die Ferne, d. h. magisch zu wirken vermöge. Daraus allein sollten die Phänomene des sogenannten tierischen Magnetismus und des Somnambulismus zu erklären sein wie auch die Möglichkeit, dass der menschliche Wille in fremden Körpern ebenso unmittelbar Bewegungen verursachen könne als in dem eigenen.

Am Anfang der fünfziger Jahre war das Tischrücken, das Geisterklopfen und die Psychographie von Amerika her eingewandert und auch in Deutschland Gegenstand der allgemeinsten Sensation geworden. Überall wurden die wunderlichen Phänomene besprochen und gesellige Zusammenkünfte zu ihrer Ausführung und Anschauung veranstaltet. Während die Physiker das Phänomen der drehenden Tische rein mechanisch, d. h. als das Resultat der Summation kleiner Druckwirkungen erklärten, die Menge aber das Werk dämonischer Wesen und Kräfte darin anstaunte, wollte Schopenhauer hier die Magie des Willens in ihrem sichtbarsten und handgreiflichsten Ausdruck erkennen. Das Tischrücken galt ihm als die augenscheinlichste Demonstration seiner Philosophie, als Akt einer »Experimentalmetaphysik«, deren Theorie einzig und allein in seiner Lehre von der Welt als »Wille und Vorstellung« anzutreffen sei.197

Ebenso lebhaften und eifrigen Anteil aus ganz demselben Grunde nahm er an den Versuchen des animalischen Magnetismus, welche Regazzoni aus Bergamo und der Franzose Bünet de Balan öffentlich und privatim in Frankfurt ausführten: jener im Winter 1854/55, dieser im März 1856. Bei einem der öffentlichen Experimente des letzteren spielte Schopenhauer selbst mit und ließ sich mit einem vierzehnjährigen Bauernjungen in Rapport setzen, der sodann im tiefsten Schlafe jede seiner Bewegungen stehend und gehend nachmachte und in fünf Sprachen nachsagte, was Schopenhauer ihm vorgesagt hatte.

Als vierzehn Frankfurter Ärzte öffentlich gegen Regazzoni auftraten, den kataleptischen Zustand der Somnambüle anzweifelten und alles für Betrug ausgaben, erklärte sich Schopenhauer leidenschaftlich dafür. Solche Tatsachen in Abrede stellen, heiße nicht ungläubig sein, sondern unwissend und beobachtungsunfähig. »Ich habe mir das Didaskalienblatt gekauft der vierzehn Namen wegen, damit nicht bei einem plötzlichen Vorfall weder für mich, noch meine Magd, noch meinen Hund, noch meine Katze einer der vierzehn geholt werde. Mich freut, dass ich dem Regazzoni mein Zeugnis in sein Album geschrieben habe, klar und französisch.«198

II. Die neue Propaganda. Apostel und Evangelisten
1. Aktive und passive Apostel

Das Schwergewicht der Lehre Schopenhauers, welche wir jetzt nur biographisch verfolgen und erst im nächsten Buch systematisch darstellen werden, fällt in ihren letzten Teil, das vierte Buch des Hauptwerks, welches von »der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben bei erreichter Selbsterkenntnis« handelt. Die Selbsterkenntnis des Willens, dieses Grundthema des ganzen Systems, vollendet sich in der Selbstverleugnung und Weltüberwindung oder in der Erlösung von der Welt, d. i. die Heilslehre, worin Schopenhauer seine Übereinstimmung mit dem Buddhismus, mit dem Wesen des Christentums und dem Tiefgehalt der Mystik findet, wie sich die letztere in Eckart, Tauler und der deutschen Theologie ausspricht.

Da er auf diese Weise das Mysterium der Welt enthüllt und das Problem des menschlichen Lebens gelöst haben will, so nimmt er für seine Lehre nicht bloß die künftige Herrschaft in der Philosophie, sondern auch eine religiöse Geltung in Anspruch, die sich erweitern und im Laufe der Zeit die Welt dergestalt durchdringen soll, dass aus ihr gleichsam der abendländische Buddhismus hervorgeht. Wenn man diesen Plan zu Ende dichtet, so würde zuletzt die Religion der Erdbewohner zwei Hemisphären haben, wie die Erde selbst, und ein Ganzes bilden, gleich dieser.

Von solchen Ideen war Schopenhauers Einbildungskraft bewegt. Er sah in seiner Lehre eine Religionsstiftung, in ihrer Verbreitung eine Propaganda fidei, in seinen Schülern und Anhängern »Apostel« und unterschied dieselben in die beiden Klassen der passiven und aktiven: jene waren für die öffentliche Verbreitung unwirksam wie Becker, der »ein stummer Apostel« hieß, und Adam von Doß, den der Meister wegen seines liebevollen Eifers »Apostel Johannes« nannte; dagegen hießen Dorguth und Frauenstädt die beiden aktiven Apostel oder »Evangelisten«, da sie durch Druckschriften zur Verbreitung der Lehre beitrugen. Jener war der »Urevangelist«, dieser der »Erzevangelist«.

Als ein neuer Apostel sich eingefunden und alsbald einen Artikel (nur einen kleinen) über Schopenhauer in den »Didaskalia« veröffentlicht hatte, so bezeichnete ihn dieser als »angehenden Evangelisten« und freute sich innig, wie derselbe aus freien Stücken ihm sagte, er werde in München Adam von Doß aufsuchen. »Dieses Sichbesuchen der Apostel gefällt mir sehr: es hat etwas Ernstes und Grandioses: ›Wo zwei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen’.« Ich führe diese Stelle ausdrücklich an, damit man ja nicht meine, dass Schopenhauer seine Anhänger im Scherz »Apostel und Evangelisten« genannt habe. Es war ihm damit völliger und feierlicher Ernst.199

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9783843800662
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