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4) Performanz als Funktionsmodus körperzentrierter und ritueller Erfahrung bzw. ästhetischen Transformation: Hier wird davon ausgegangen, dass sich Körperlichkeit und Subjektivität nicht ausschließen, sondern in einem interdependenten Verhältnis zueinander stehen. Arno Böhler weist auf die Interdependenz von denkendem Subjekt und agierendem Körper hin:

Die These, dass dem Akt des Denkens im konkreten Handlungsvollzug selbst ein theatrales Moment innewohnt, wurde philosophiegeschichtlich in dem Moment virulent, in dem die Philosophie selbst im Begriff war, anzuerkennen, dass handelnde Subjekte ihr eigenes Handeln selbst nicht völlig in der Hand haben. Weder Subjekte in Vollzug ihrer Handlungen von sich aus garantieren, dass die elementare Ausführung ihrer Handlung in der Tat gelingen wird, noch haben sie die weltweite Auswirkung derselben selbst in der Hand. Der Täter, so lautet Nietzsches theatrale Diagnose des Verhältnisses von Tun und Leiden, ist Geschehnissen großteils bloß hinzugedacht. Der Grund für diese Kluft zwischen der Intention einer Handlung und ihrer faktischen Performance liegt strukturell darin, dass ein Subjekt beim Tätigen einer Handlung auf elementare Bedingungen zurückgreifen muss, die es braucht, um seine Handlungen überhaupt realisieren zu können – über die es beim Handeln jedoch niemals gänzlich verfügen kann, weil es sie […] immer schon mit allen anderen weltweit teilt. Ein Denken, das sich die Aufgabe setzt, die theatrale Dimension des Handelns philosophisch freizulegen, steht folglich vor der Herausforderung, das prekäre Moment der Aushändigung des Subjekts an seine elementaren Vollzugbedingungen in Handlungsvollzügen zu bedenken. Im Anklang an Merleau-Ponty können wir dieses äußerliche Element, auf das ein Subjekt im Vollzug seiner Subjektivität notwendigerweise angewiesen ist, um sein Tun in der Tat realisieren zu können, das Fleisch nennen, das es braucht, um sich im faktischen Gebrauch desselben selbst tatsächlich vollziehen zu können.13

Diese wechselseitige Angewiesenheit von Körper und Subjekt im Vollzug des Denkprozesses und der faktischen Performance des Gedachten (im produktionsästhetischen Sinne) lässt sich umgekehrt in einer rezeptionsästhetischen Situation bei der Teilnahme an einer körperzentrierten und rituellen Performanz beobachten. Anders formuliert: Wenn Menschen an einer körperzentrierten und rituellen Performanz teilhaben, hat ein solcher performativer Akt Wirkungen auf diesen teilnehmenden Menschen als Körper und Subjekt.

Mit Bezug auf Arnold van Gennep erkennt auch Victor Turner bei Übergangsritualen diese transformative Kraft und Erfahrung. Er legt den Akzent auf die Transformationen der inneren und soziokulturellen Werte eines Subjekts oder einer Gruppe von Subjekten in einer Gesellschaft nach einem performativen Übergangsritual. Dies geschieht vor allem nach der körperlichen Trennungsphase (auch Schwellenphase, Isolationsphase oder Liminalität):

This theme is in the first place represented by the nature and characteristics of what Arnold van Gennep (1909) has called the “liminal phase” of rites de passage. Van Gennep himself defined rites de passage as “rites” which accompany every change of place, state, social position and age. To point up the contrast between “state” and “transition”, I employ “state” to include all his other terms. It is a more inclusive concept than “status” or “office”, and refers to any type of stable or recurrent condition that is culturally recognized. Van Gennep has shown that all rites of passage or “transition” are marked by three phases: separation, margin (or limen, signifying “threshold“ in Latin), and aggregation. The first phase (of separation) comprises symbolic behaviour signifying the detachment of the individual or group either from an earlier fixed point in the social structure, from a set of cultural conditions (a “state”), or from both. During the intervening “liminal” period, the characteristics of the ritual subject (the “passenger”) are ambiguous; he passes through a cultural realm that has few or none of the attributes of the past or coming state. In the third phase (reaggregation or reincorporation), the passage is consummated. The ritual subject, individual or corporate, is in a relatively stable state once more and, by virtue of this, has rights and obligations vis-à-vis others of clearly defined and “structural” type; he is expected to behave in accordance with certain customary norms and ethical standards binding on incumbents of social position in a system of such positions.14

Es soll hier festgehalten werden, dass bei diesem performativen Übergangsritual das menschliche Wesen als Subjekt individuell oder kollektiv über seinen Körper die Liminalität erlebt und erfährt. Es ist eine nolens volens körperliche Liminalität, die eine transformative Kraft auf das Subjekt ausübt, das nach diesem körperzentrierten und rituellen performativen Akt sichtbare und/oder spürbare Spuren der erfahrenen Transformation zeigt. Turner erklärt: „The neophyte in liminality must be a tabula rasa, a blank slate, on which is inscribed the knowledge and wisdom of the group.“15

Mit Turner wird betont, dass Performanz als Funktionsmodus körperzentrierter und ritueller Erfahrung bzw. Transformation fungiert, wobei Körper und Subjekt interdependent zueinander stehen. Diese transformative Kraft des Performativen, das eine Transformation bewirkt, ist wiederum soziokulturellen und vor allem rituellen cultural celebrations immanent und wird in ästhetischen Ausdrucksformen formal oder symbolisch durchgeführt – wie noch im zweiten Kapitel dieser Arbeit am Beispiel des Orgien-Mysterien-Theaters aufgezeigt wird. Singer sieht sogar Ähnlichkeiten zwischen performierten Riten und künstlerischen/ästhetischen Aufführungen in all ihren Ausdrucksformen:

Looking at performances from this point of view, it soon becomes evident that rites or ceremonies performed as ritual obligations […] had many elements in common with the most secular cultural performances in the theatre, concert hall, radio programs and films and that these linkages revealed not only the outlines of a cultural structure but many indicators of trends and process of change in that structure.16

An diesem Punkt wird ein Übergang zum Theater vollzogen. Theater wird in diesem Zusammenhang – wie bereits erwähnt – nicht nur als eine der Ausdrucksformen des kulturellen Zelebrierens gesehen, sondern auch als Kunst und Bereich des kulturellen Synkretismus betrachtet.

[Theater als Kunst] ist auch Medium für die Konstitution einer kulturellen, nationalen oder individuellen Identität. Die verschiedenen Erscheinungsorte und Erscheinungsweisen des Kunstbegriffs deuten darauf hin, daß Kunst ein multifunktionales Phänomen in menschlichen Gesellschaften ist. Denn jedes Kunstwerk kann mehrere Funktionen einnehmen und mehrere Zwecke erfüllen. Es erfüllt Funktionen, weil es sich in einem System von kollektiven (ökonomischen, sozialen, politischen, kulturellen) und individuellen Bedürfnissen befindet.17

Kunst fungiert in dieser Arbeit als Oberbegriff für ein bestimmtes kulturelles Phänomen, in dem sich eine Kultur in Form der bereits angesprochenen cultural performance bzw. cultural celebration vorstellt. Mit Kunst meint z.B. Tasos Zembylas sowohl die Kunstproduktion als auch die Kunstvermittlung und die Rezeption, die ein kulturelles Phänomen sind und verschiedene Funktionen für das einzelne Individuum, für Personengruppen (Berufsgruppen, soziale Klassen) und Institutionen haben.18 Um diese Auslegung besser nachvollziehen zu können, wird im Folgenden aus ästhetischer Perspektive der Kult- und Ausstellungswert von Kunst im Sinne Walter Benjamins erörtert. In diesem Zusammenhang wird der Akzent verstärkt auf das Theater verschoben.

1.5.2. Institution Kunst: vom Kult- zum Ausstellungswert kulturellen Zelebrierens

Etymologisch führen Kunst und Kultur nicht nur auf die gemeinsame lateinische Wurzel cultura zurück. Kultur- bzw. kunstgeschichtlich gesehen, bedingen sie beide einander1 und verweisen zudem ständig aufeinander. Wird – abgesehen vom modernen Kunstverständnis – an den Ursprung von Kunst und Theater gedacht, so wird verständlich, wieso sich Menschen der frühen Antike beinahe gedrängt fühlten, ihre Welterfahrung in künstlerische Ausdrucksformen zu verwandeln. Der schöpferische Drang zum Kunstschaffen fand seinen Nährboden in magischen, rituellen oder religiösen Umständen – wie z.B. in voraristotelischen theatralen Kulturpraktiken, in deren Mittelpunkt rituelle Opferhandlungen sowie das reziproke Verhältnis zwischen Leben und Tod standen. Die Praxis voraristotelischer theatraler Rollendarstellungen zeichnete sich vor allem durch den Kultwert ihres kulturellen Zelebrierens aus.

In „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ hat Walter Benjamin 1936 den Begriff Kultwert geprägt, um die Einbettung von einem Kunstwerk in das Ritual zu bezeichnen. Benjamin geht von der These aus, dass die Rezeption von Kunst durch Fotografie und Film aufgrund der technischen Reproduzierbarkeit in Massen einem Wandel unterzogen sind. Dieser Wandel ist zugleich mit der Veränderung der gesellschaftlichen Funktion der Kunst einhergegangen. Es ist nicht nur um eine Veränderung sowie um eine Akzentverschiebung der funktionellen Rolle der Kunst im gesamten Kulturgefüge gegangen, sondern auch um die Vergeistigung und Verdrängung blutiger Ritualvorgänge.

Die ursprüngliche Rolle der Kunst lässt sich aber durch ihren untrennbaren Zusammenhang mit dem Ritual erschließen: „Die ursprünglichste Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen.“2 Diese Ritualfunktion verleiht der Kunst bzw. dem Kunstwerk ein besonderes Qualitätsmerkmal, das Benjamin als Aura bezeichnet. Die Aura ist die „Einzigkeit des Kunstwerks“ und bürgt für die Tatsache, dass seine Daseinsweise „identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition“ ist und „niemals durchaus von seiner Ritualfunktion“3 getrennt werden kann. Für Benjamin ist die Aura „ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“4 Der Kultwert und das Auratische sichern „das Hier und Jetzt des Originals“,5 das den einzigartigen „Wert des ‚echten‘ Kunstwerks […] immer theologisch fundiert.“6 Diese Merkmale, die im Sinne Benjamins den Kultwert eines Kunstwerkes ausmachen, lassen sich auch auf ästhetische performative Theaterereignisse am Beispiel des Orgien-Mysterien-Theaters übertragen, welches das Dasein als Ganzes über die kultische bzw. mystische Dimension von Kunst rechtfertigen soll. Der Kultwert setzt somit etwas Spirituelles bzw. Transzendentales voraus, das wiederum auf die philosophische Daseinsfrage des Menschen in der Lebenswelt zurückführt. Es geht bei kultischen performativen Vorgängen um eine spirituelle und seelische Transformation des Menschen, die unter anderem über eine ästhetische Erfahrung zu erlangen ist. Diesbezüglich liefert Friedrich Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik einige Auslegungen, welche die funktionelle Leistung der Tragödie und der tragischen Erfahrung mit rituellen Zügen veranschaulichen:

Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: Um überhaupt leben zu können, musste er vor sich hin die glänzende Traumgeburt des Olympischen stellen […]. Um leben zu können, mussten die Griechen diese Götter aus tiefster Notwendigkeit schaffen […]. Wie anderes hätte jenes so reizbar empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre.7

Der Aufführungscharakter der Tragödie ermöglicht dem Menschen die Empfindung von Schrecken und Entsetzlichkeiten, die ihn wiederum befähigen, die Probleme des Daseins ästhetisch zu bewältigen. Nietzsche legt den Akzent auf den Kultwert, der über Opferrituale, Übermaß, Rausch, Erlebnis der Ekstase und über die Überwindung des „principium individuationis“ (des Apollinischen, auf dem auch die Entwicklungsbasis des aristotelischen Theaters ruhen soll) entsteht.

Benjamin bemängelt den Verlust dieses Kultwertes bzw. der auratischen Daseinsweise am Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Der Ausstellungswert ist eine ästhetische Kategorie, die eine Konzeptualisierung von Kunst als abgehoben von ihrer rituellen Fundierung sowie von der Lebenspraxis definiert und durchführt. Das ist für Benjamin mit dem Verfall der Aura verbunden; er hat den Begriff Ausstellungswert geprägt, um den Funktionswandel der Kunstproduktion zu beschreiben. Dieser Funktionswandel geht mit der Reaktion der Kunst auf das „Aufkommen des ersten wahrhaft revolutionären Reproduktionsmittels – der Photographie (gleichzeitig mit dem Anbruch des Sozialismus) –“ einher. Eben auf diese Situation antwortet die Kunst „mit der Lehre von l’art pour l’art“, aus der die „Idee einer reinen Kunst“ hervorgegangen ist, „die nicht nur jede soziale Funktion, sondern auch jede Bestimmung durch einen gegenständlichen Vorwurf ablehnt.“8 Diese Erkenntnis führt somit zu einer entscheidenden Konzeptualisierung und Betrachtungsweise, die „zum ersten Mal in der Weltgeschichte“ die Emanzipation des Kunstwerks „von seinem parasitären Dasein am Ritual“9 bewirkt haben soll. Bekräftigend spricht Benjamin auch von der Umwälzung der sozialen Funktion der Kunst, sodass „an die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual […] ihre Fundierung auf eine andere Praxis getreten“ ist: „nämlich ihre Fundierung auf Politik.“10 Für Benjamin besteht deshalb die Möglichkeit, die Kunstgeschichte als Auseinandersetzung zweier Polaritäten im Kunstwerk selbst darzustellen und die Geschichte ihres Verlaufes in den wechselnden Verschiebungen des Schwergewichts vom einen Pol des Kunstwerks zum anderen zu erblicken. Diese beiden Pole sind sein Kultwert und sein Ausstellungswert.11

Während der Kultwert das Kunstwerk hauptsächlich im Verborgenen hält, womit es ausschließlich bestimmten Personen (z.B. Priestern etc.) zugänglich ist, ermöglicht nun der Ausstellungswert dank der technischen Reproduzierbarkeit die massenhafte Reproduktion, Ausstellung und Rezeption von Kunstwerken.12 Damit wird die Betrachtung eines Kunstwerks allen zugänglich, die aus rein subjektiver Zweckmäßigkeit im Sinne von Immanuel Kant an Kunst teilhaben.

Lange vor Benjamin hat Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft das ästhetische Urteil ausschließlich auf das wahrnehmende Subjekt fokussiert. Demnach ist das ästhetische Urteil stark subjektabhängig und findet ausschließlich in der subjektiven Einbildungskraft statt. In diesem Sinn ist das Subjekt als eine autonome Instanz zu verstehen, die aufgrund eigener Kriterien einen subjektiven und autonomen Blick auf ein Kunstwerk wirft. Dabei spielt die eigentliche Funktion des Kunstwerks keine Rolle, da es aus rein formalen bzw. ästhetischen Gründen dem autonomen Subjekt als Projektionsfläche für sein subjektives und „subjektzentriertes“ Geschmacksurteil dient. Der Ausstellungswert eines Kunstwerks gewinnt in diesem Zusammenhang immer mehr an Bedeutung – jedoch nicht aufgrund der sozialen und rituellen Funktion des Kunstwerks, sondern wegen der ansteigenden Anzahl an autonomen Betrachter_innen (Subjekten) der Kunstwerke. Da bei Kant das autonome Subjekt und sein Geschmacksurteil zentral sind, verschwindet die gesellschaftliche Funktion des Kunstwerks als Objekt zugunsten des reinen ästhetischen Urteils bzw. der reflektierenden Urteilskraft:

Dasjenige Subjective aber an einer Vorstellung, was gar kein Erkenntnisstück werden kann, ist die mit ihr verbundene Lust oder Unlust; denn durch sie erkenne ich nichts an dem Gegenstande der Vorstellung, obgleich sie wohl die Wirkung irgend einer Erkenntnis sein kann. Nun ist die Zweckmäßigkeit eines Dinges, sofern sie in der Wahrnehmung vorgestellt wird, auch keine Beschaffenheit des Objects selbst (denn eine solche kann nicht wahrgenommen werden), ob sie gleich aus einem Erkenntnisse der Dinge gefolgert werden kann.13

Damit wird deutlich, dass die Ästhetik bei Kant das Schöne nicht in den Kunstwerken findet, sondern in den betrachtenden Subjekten. Da es dem Subjekt im Sinne Kants bei der Betrachtung eines Kunstwerks a priori nicht um Erkenntnis geht, ist sein ästhetisches Urteil oder Geschmacksurteil ohne Interesse. Folglich geht die ästhetische Urteilskraft verloren, wenn sie nicht mehr auf das autonome Subjekt, sondern mit Interesse auf ein Objekt gerichtet ist. Erst wenn das autonome Subjekt aus subjektiver Perspektive das Kunstwerk in einer Art von freiem Spiel betrachtet, kann sich das Geschmacksurteil entfalten.

Mit Kants Bestimmung der ästhetischen Urteilskraft werden die gesellschaftlichen Implikationen von Kunstwerken ausgeblendet: Es geht dem Philosophen nicht primär um Objekte oder Kunstwerke, sondern um die Einbildungskraft des autonomen und reflektierenden Subjekts ohne objektivierbares Interesse. Dennoch haben diese ästhetischen Bestimmungen stark dazu beigetragen, die Autonomie von Kunst und den Ausstellungswert von Kunstwerken herauszubilden. Die autonome ästhetische Urteilskraft, die Autonomie von Kunst und der Ausstellungswert von Kunstwerken bilden somit die Grundlage, um Kunst vom Ritual und von der Lebenspraxis zu trennen. Peter Bürger stellt diesbezüglich fest:

[…] Autonome Kunst etabliert sich erst in dem Masse, als, mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, das ökonomische und das politische System vom kulturellen abgekoppelt werden und die traditionalistischen, durch die Basisideologie des gerechten Tausches unterwanderten Weltbilder die Künste aus dem rituellen Gebrauchszusammenhang entlassen […]. Es ist darauf zu insistieren, dass Autonomie hier den Funktionsmodus des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst bezeichnet: dessen (relative) Selbständigkeit gegenüber gesellschaftlichen Verwendungsansprüchen.14

Damit gewinnt außerdem das kulturelle Zelebrieren einen neuen Funktionsmodus, der die Kunst in der modernen bürgerlichen Gesellschaft als eine von der Lebenspraxis abgehobene Tätigkeit umsetzt.15 Die Institution des klassischen Theaters ist beispielsweise das Produkt eines solchen von der Lebenspraxis abgehobenen Kunst- bzw. Theaterverständnisses.

1.5.3. Institution Kunst/Theater und künstlerische Institutionskritik

Aus der Betrachtungsweise der bereits erörterten cultural performance bzw. cultural celebration steht fest, dass Theater zugleich Reflexion über Kultur ist. Es ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass Kultur auch einen institutionellen Charakter aufweist, wobei ihre konventionell normativen und performativen Konstruktzüge beobachtbar werden. Kultur mit einer Institution gleichzusetzen, ist insofern nachvollziehbar, weil sie wie eine Institution ein Repertoire von Handlungs-, Wahrnehmungs- und Interpretationszielen sowie Interpretationsmustern bereitstellt, die habitualisiert1 werden. Kultur als Institution zu lesen, soll die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass zu allen Epochen der Kultur ein zeiträumlich entsprechendes Bündel von Regeln sowie Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Kommunikationsnormen implizit zugrunde liegt. Diese kulturelle Normierung, die einen institutionellen Charakter aufweist, führt auch das Theater vor Augen. Hier steht Theater für ein Medium, das in unterschiedlicher Ausprägung diesen institutionellen Charakter von Kultur bestätigt. So lassen sich verschiedene Kulturauffassungen an vielen Kunst- bzw. Theaterformen als kulturgeschichtliche Zeugnisse und Faktoren ablesen. Denn die verschiedenen Sparten von Kunst (Theater, literarische Werke, Kunstwerke, Musik etc.) erfüllen nicht nur Unterhaltungs- und Bildungsfunktionen. Sie sind zudem kulturelle Vermittler, die in einem dafür vorgesehenen institutionellen Rahmen (wie z.B. in Museen, Galerien, Theaterhäusern, Opernhäusern, Universitäten, Schulen etc.) gesellschaftliche sowie kulturelle Wertsetzungen, Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster kommunizieren und konsolidieren.

Während sich der Begriff Institution (in der klassischen Moderne) auf institutionelle und künstlerische Einrichtungen wie Museen, Galerien etc. bezieht, erweitert die US-amerikanische Performerin Andrea Fraser den Institutionsbegriff auf Museen- und Galeriendirektor_innen, Kunstsammler_innen, Künstler_innen. Damit bringt Fraser vor allem Individuen bzw. Subjekte als institutionalisierte Kulturträger_innen ans Licht, die entweder als Verantwortliche, als Vertreter_innen oder als Akteure_innen an der Gestaltung und der Aufrechterhaltung der Institutionen arbeiten.

Ab diesem Punkt wird erstens auf die Begriffsbestimmung der Institution und die Institutionskritik eingegangen, um sie dann auf Kultur und die Institution Theater zu übertragen. Zweitens wird die Institutionskritik im Sinne von Fraser veranschaulicht. Drittens wird konkret die Institution Theater im klassischen Sinn als Widerspiegelung eines entsprechenden kulturellen Tatbestands erörtert. Hier handelt es sich um die Institution des dramatischen bzw. klassischen Theaters, das ein enges bzw. textzentriertes Theaterverständnis vertritt. Anschließend werden einige künstlerische Verfahren und Ausdrucksmittel der Institionskritik behandelt. Nitschs und Schlingensiefs Theaterentwürfe stehen diesbezüglich als Beispiele. Deshalb werden im zweiten Teil die Entstehungskontexte dieser beiden Theateraktionen, ihre soziokulturellen und politischen Hintergründe hervorgehoben, um die funktionelle Dimension von Theater im kulturellen Gefüge herauszuarbeiten.

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