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Das Orgien-Mysterien-Theater wird vor allem unter dem Gesichtspunkt der Institutions-, Religions- und Zivilisationskritik im Verhältnis zu gegenwärtigen soziokulturellen Begebenheiten untersucht. Dabei wird Nitschs synästhetische Dramaturgie als Kritik- und Transgressionsmittel dargestellt, um dadurch Menschen in synästhetische Wirklichkeitsbereiche seines Orgien-Mysterien-Theaters einzuführen. Es handelt sich dabei vor allem um solche synästhetische Wirklichkeitsbereiche, die in Form einer ästhetischen Ritualisierung bzw. einer selbstreferenziellen Zeremonie aus postdramatischer Sicht auf ein performatives Reflektieren über den menschlichen Körper im Theater, auf eine funktionelle ästhetisch-transformative Erfahrung, auf die Wiederherstellung fremd gewordener Erfahrungen und somit auf eine eigenartige kulturelle Praktik abzielen – in Verknüpfung mit der Opferbehandlung voraristotelischer Theaterpraxis. Nitschs theatrale Wiederherstellung voraristotelischer Theaterpraxen in den gegenwärtigen Lebensverhältnissen wird unter dem Begriff Urtheatralisierung subsumiert. Auch die Parallelen des Orgien-Mysterien-Theaters zu spätmittelalterlichen Oster- und Passionsspielen, die bis jetzt in der Nitschs Forschung unterbelichtet sind, werden in dieser Arbeit behandelt.

Die Auseinandersetzung mit Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ ist in der vorliegenden Arbeit eine erste umfangreiche Untersuchung dieser Aktion: sie wird zunächst in Relation zur postdramatischen Theaterästhetik und Urtheatralisierung als rituelles und politisches Ereignis gebracht, wobei der Akzent auf die sozialkritische und politische Dimension sowie auf die Einordnung in die gesellschaftskritische Theatertradition von der Aufklärung bis in die 1960er-Jahre gelegt wird. Die Produktions- und die Wirkungsästhetik der Aktion 18, „tötet Politik!“ wird auch hinsichtlich ihrer Kontextualisierung von Aktion, Raum und Zeit sowie der politischen Akteure_innen jenseits der Freizeitgattungen veranschaulicht. Schlingensiefs Fragmentierung und Entgrenzung des theatralen Schauplatzes, sein künstlerisches Schaffen von Ausnahmesituationen sowie -orten und seine störorientierten Strategien als Inszenierungsstil werden analysiert und am Beispiel seines Aufrufs „tötet Möllemann“ diskutiert. Ausgehend vom rituellen Vorgang in Aktion 18, „tötet Politik!“ wird zudem auf die postdramatische Theaterkomposition (vorkolonialer Zeit) in Afrika analytisch eingegangen und in Bezug auf sein Operndorf sowie auf die bereits erwähnten afrikanischen Theaterformen in kulturspezifischer und transkultureller Lesart behandelt.

Aus den gewonnenen Erkenntnissen wird anschließend im dritten Kapitel Theater als Kunst bzw. Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstveränderung behandelt. In diesem Zusammenhang werden die postdramatische Ästhetik bis hin zum postdramatischen Theatersynkretismus sowie die Neuperspektivierung der Werkkategorie postdramatischer Ausprägung beleuchtet.

Die zentrale These der vorliegenden Arbeit lautet: Theater ist eine kulturelle Erscheinungsform des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes. Es ist demnach als künstlerisches und ästhetisches Medium kultureller Kompromisssuche, Selbstdarstellung, Selbstwahrnehmung sowie Selbstveränderung aufzufassen.

1.4. Theater: ein Medium des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes

Aufgrund der in dieser Analyse zu behandelnden Theaterformen bzw. -entwürfe, die sich sowohl auf entfernte als auch aktuelle zeiträumliche Kulturen beziehen, lässt sich Theater als Kunst und Ästhetik kultureller Selbstdarstellung, Selbstwahrnehmung und Selbstveränderung auffassen. Wie im zweiten Kapitel gezeigt wird, entspringen alle Theaterformen ihren jeweiligen zeiträumlichen, kulturspezifischen, sozialen und politischen Kontexten.1 Aus der Perspektive von cultural performance und kulturellem Zelebrieren ist Theater im Allgemeinen ein szenisch-dynamischer Schauplatz sowie ein ästhetisches und künstlerisches Medium kompromissbereiter, performativer Aushandelns- und Erkenntnispraxis. In einer Theatersituation geht es auch darum, die herrschenden Gesellschaftsordnungen auf die Probe zu stellen, um dadurch neue Keime individueller, kollektiver sowie soziokultureller Transformationen treiben zu lassen. Viele postdramatische Theaterformen – z.B. Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ – machen aber auf eine übertriebene Art und Weise Gebrauch von der Wirkungsästhetik der Theatersituation. Derartige postdramatische Verfahren lassen sich anhand des Begriffs Anagnorisis im Verhältnis zur Tragödie besser beschreiben:

Die Tragödie wirkt wie ein Pharmakon, ein Gift, das heftiges Affekt-Fieber auslöst, aber, gemäß dem Doppelsinn des griechischen Begriffs, dadurch zugleich auch Medizin, Heilmittel ist. In den Dienst der Beschreibung dieser Affektwirkung tritt nun auch das Konzept der Anagnorisis. Scheint es sich zunächst nur auf die Dramaturgie zu beziehen und einen Erkenntnisprozess anzuziehen, so kann doch jeder aus der eigenen Theatererinnerung bestätigen, dass Aristoteles präzise erfaßt hat, dass in der Tat die Momente solchen (Wieder-)Erkennens zu den affektiv stärksten Augenblicken einer Theateraufführung gehören – in ungleich höherem Maße als bei der Lektüre. Denn hier spielt das Miterleben, die Raumzeit des Theaters entscheidend mit, meine „Zeugenschaft“, die mich im Theater in der identifizierenden Übernahme der Erkenntnis mit dem Helden verbindet. „Ja, Du bist es, Orest! Gott, ich bin es, Ödipus, der den König tötet!“. Anagnorisis bedeutet: ein plötzlicher Umschlag, eine Umwendung, die wie ein radikaler Beleuchtungswechsel funktioniert […]. Anagnorisis meint nämlich nicht ein für allemal dauerhaft erworbenes Wissen. Vielmehr weist das Wort auf einen Moment hin, auf eine Art affektgeladener Erleuchtung, die blitzartig geschieht […].2

Die Anagnorisis als der in der Tragödie enthaltene Ausdruck von Wiedererkennen und Wissen ist bereits seit der Antike der Konnex zwischen „Theater und Belehrung, Theater und Wissen, Theater und Erkenntnis […].“3 Es geht hierzu um eine prozessuale Fokussierung auf die Performativität und die Potentialität4 der Theaterpraxis: Dabei werden einzelne theatrale Verfahren, wie Heeg betont, im Wechselspiel von „aisthetischer Erfahrung und Konstruktion“ derart exponiert, „dass das Exponierte zwischen den Sphären von Kunst und Wissenschaft oszilliert“,5 womit das Wesen von Theater als künstlerisches und ästhetisches Medium der „Unterbrechung“ und der „Überschreitung“6 im Hinblick auf das Experimentieren anderer Erfahrungswege zur Erkenntnisgewinnung in den Vordergrund rückt. So gesehen fungiert und funktioniert Theater im Allgemeinen als ein ästhetisches Medium nach dem Vorbild eines kulturellen Kompromisses, der es ermöglicht, Spielregeln auszuhandeln, anhand derer Wahrnehmungsverhältnisse reflektiert, historische sowie aktuelle Fragen und soziokulturelle, ökonomische sowie politische Dimensionen der Theaterpraxis hinterfragt und vorangetrieben, Formen sowie Erfahrungen kultureller Begegnungen und Konflikte jeweils experimentiert und (auf-)gelöst werden können. Theater demnach nicht nur als eine künstlerische Ausdrucksform, sondern auch als einen kompromissbereiten Praxis- und Reflexionsschauplatz von Kultur aufzufassen, bezieht sich auf ein Theaterverständnis, welches sich im Mittelpunkt eines dynamischen Prozesses befindet: Theater – im Sinne einer künstlerischen Praxisform von Kultur – als Konsens oder als ein Aushandeln zu verstehen, verweist auf ein Verständnis, das sich mit Kultur als einem „offenen und instabilen Prozess des Aushandelns von Bedeutungen“7 für (produktive) Veränderungen auseinandersetzt. In seinem Beitrag „Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs“ zeigt Andreas Wimmer drei Aspekte eines Aushandelns oder einer Kompromissbildung auf: Der erste Aspekt bezieht sich auf die verinnerlichte Kultur.8 Wimmer greift hier zurück auf Bourdieus Habitus als ein verinnerlichtes Dispositionssystem, das den sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Ordnungen entspricht und sich auf Dauer aus einem Repertoire von Handlungs-, Wahrnehmungs- und Interpretationsmustern sowie -zielen habitualisiert.9 Dann bringt Wimmer diesen Habitus in Verbindung mit der Schematheorie der kognitiven Ethnologie:

Schemata sind Modelle von prototypisch vereinfachten Welten, als Netzwerke miteinander verknüpfter Bedeutungen organisiert. Sie werden im Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsprozess selektiv aktiviert. Als verinnerlichte Form von Kultur kommen sie dem nahe, was die Annales-Schule als Mentalität bezeichnet.10

Mit diesen „Handlungs- und Denkschemata“ modifiziert Wimmer den von den einzelnen Individuen internalisierten Bourdieuschen Habitus. Nach Wimmer wirken diese Schemata nicht auf das Individuum als „gesellschaftliche Zumutungen“ von außen ein. Jedoch verfügen die jeweiligen Individuen – je nach Interessen und Situationen – über eine Entscheidungsfähigkeit und -freiheit. Der zweite Aspekt kommt der „öffentlichen Kultur“ zu, die auf der Grundlage des normativ-kulturellen Aushandlungsprozesses in kollektiven Repräsentationen stattfindet. Die verinnerlichte Kultur ist die zwangsläufige Voraussetzung für den kulturellen Kompromiss (auch „symbolischer Gesellschaftsvertrag“ genannt):

[Er] gründet auf der Zustimmung aller durch eine gemeinsame Öffentlichkeit aufeinander bezogenen Akteure, da moralische Kategorien und soziale Klassifikationen für gültig befunden und für wahr genommen werden müssen.11

Bei dem dritten und letzten Aspekt, der zur „sozialen Schließung und kulturellen Distinktion“ führt, verdeutlicht Wimmer, „dass kulturelle Kompromisse auch Grenzen zwischen denen definieren, die sich an ihm beteiligen, und jenen, welche außerhalb seines Geltungsbereiches stehen.“12 Da die „kulturelle Kompromissfindung [einen] Prozess der sozialen Schließung“ impliziert, schlussfolgert Wimmer, dass diese „Prozesse sozialer Schließung […] zur Bildung von Klassen, von Nationen, Ethnien, Subkulturen, oder Geschlechtergruppen führen“13 können. Wimmer bleibt nicht bei der kulturellen Konsensbildung stehen, die in die soziale Schließung und kulturelle Distinktion mündet, sondern arbeitet das Gemeinsame aller Kulturen heraus. Dieses kulturell Gemeinsame bezeichnet Wimmer als die Pragmatik der kulturellen Produktion – d.h. die Fähigkeit, die „alle Menschen verbindet und es ihnen ermöglicht, die kulturelle Landschaft in Bewegung zu setzen und sich selbst in ihr zu bewegen, […] auf der Suche nach einem Kompromiss, Sinn und Nutzen in Übereinstimmung zu bringen.“14

Theater ist der liminale Bereich, in dem auch solche Prozesse kultureller Kompromissbildungen über ästhetische Wege laufen. Die Vielfalt theatraler Erscheinungsformen sowie ihrer religiösen, sozialen, politischen Funktionen und Zielsetzungen bestätigt verschiedenartig diese Sachlage. Wie viele künstlerische Ausdrucksformen bringt auch Theater eine sekundäre bzw. inszenierte Ebene von Wirklichkeit und Bedeutungen hervor: Dabei werden real-vorgegebene oder erfundene Geschehnisse in theatrale Vorgänge umgeformt.15 Nitschs und Schlingensiefs Theateransätze bringen diesbezüglich gegenkulturelle und grenzüberschreitende Theaterentwürfe hervor, in denen soziokulturelle und politische Aushandlungs-, Veränderungs- und Stabilisierungsprozesse von innergesellschaftlichen Wert‐ und Normsetzungen experimentiert werden. Dabei geht es wiederum, wie in vielen postdramatischen Theaterentwürfen um bewusste Überschreitungen von Grenzen kultureller und selbstverständlicher Verhaltensmuster und Erwartungshaltungen, die in der Regel beachtet werden müssen. Jedoch handelt es sich hierbei keineswegs um den Spaß eines bloßen soziokulturellen Tabubruchs und Überschreitungswillens von Grenzen. Im Gegenteil: Derartige postdramatische Theaterformen gehen von einer bereits im realen Leben „dargestellten Gewalt zur Gewalt der Darstellung“16 aus, um Momente der Anagnorisis hervorzurufen. Patrick Primavesi bemerkt z. B.:

Erwartungen zu enttäuschen, ungewohnte Wahrungs- und Denkweisen zu ermöglichen, war einer der wichtigsten jener Impulse, die seit den 1950er Jahren von Performances ausgingen […]. Dabei wurde vielfach der Körper der Akteure in den Mittelpunkt gestellt, um die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit aufzubrechen […]. In dieser Perspektive sind die Aktionen von Joseph Beuys, Hermann Nitsch, Marina Abramović oder auch Orlan und Stelarc bei allen ideologischen Differenzen doch verwandt. Andererseits war es die Arbeit mit solchen Performanceelementen, die seit den 1970er Jahren die Auseinandersetzung mit ritualisierten Verhaltensweisen im Theater produktiv machen und eine verkrustete Ästhetik der Werkinterpretation aufbrechen konnte. Entscheidend dafür ist aber nicht der Tabubruch als solcher. Wenn sich die Doppelmoral eines sensationsgierigen und/oder kulturpessimistischen Journalismus an Gewaltdarstellung, nackten Körpern und angeblich entwürdigten Symbolen entzündet, ist Theater darin doch zumeist harmloser als viele TV-Programme.17

Die konsequente Reaktion von vielen postdramatischen Theatermacher_innen besteht in dieser Hinsicht wie folgt darin: den Tabubruch als Katalysator für Anagnorisis zu verwenden. Diesbezüglich handelt es sich um einen dezidiert inszenierten Angriff auf konventionell-verankerte, soziokulturelle Ordnungssysteme und deren Erwartungshaltungen, in welchen bereits Keime von Tabubrüchen, Skandalen und Provokationen verdrängt existieren. Hierzu sind Nitsch und Schlingensief sehr gute compagnons de route, die mit Störstrategien und theatralen Mitteln gewohnte Erwartungs- und Wahrnehmungshaltungen von Rezipierenden durch die Auflösung beispielsweise der Beobachterposition erschüttern.

Ausgehend von den bisher dargestellten Auslegungen lassen sich folgende Hypothesen formulieren:

Die Aktivierung des Publikums und seine Einbeziehung in performative Aufführungen im postdramatischen Theater radikalisieren Brechts Konzept des epischen Theaters. Dabei werden deviante Theaterstrategien, die schon lange abweichend vom klassischen Theater praktiziert wurden, um das Publikum zu aktivieren und zu schockieren, wieder aufgenommen.

Zu gegenkulturellen Tendenzen im postdramatischen Theater zählen unter anderem die Rückkehr zu voraristotelischen und mittelalterlichen Theaterformen, die wiederum Parallelen zu außereuropäischen bzw. vorkolonialen afrikanischen Theaterformen aufweisen. Diese Tendenzen stellen im Theater nicht nur eine Rückkehr von rituellen bzw. religiösen Rollendarstellungen unterschiedlicher Kulturen und Epochen als Inspirationsquelle, sondern auch eine Herausforderung für Teilhabende dar, da die Begrenzung der Kunst und ihre Unterscheidung von nichtkünstlerischen Aktivitiäten unterlaufen wird.

Die performativen und rituellen Praktiken im postdramatischen Theater am Beispiel von Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ charakterisieren sich durch kulturelle Elemente sowie Symbole, die eine Pluralisierung bzw. Variabilität von Interpretationsmöglichkeiten bewirken und diese durch eine stets erneuerte Formierung steuern. Denn die Aufführungen als ästhetisch-reale Ereignisse sind durchaus offener und hängen stark von variablen Faktoren ab: dem Objekt, der Reaktion der Teilhabenden, der Zeit, dem Raum und dem Kontext.

Die Auseindersetzung mit der folgenden Fragestellung bezieht sich die angeführten Hypothesen:

Wodurch kennzeichnen sich die gegenkulturellen Tendenzen im postdramatischen Theater und welche Wirkung haben sie auf Rezipierende und die Gesellschaft? Welche Rolle spielen dabei gesellschaftliche, politische, ökonomische und kulturelle sowie religiöse Rahmenbedingungen?

Inwiefern können die Erkenntnisse über voraristotelische, mittelalterliche und vorkoloniale bzw. außereuropäische Rollendarstellungsformen dazu beitragen, die heutigen fließenden Grenzen zwischen Theater und anderen politischen und soziokulturellen Tätigkeiten theoretisch beschreibbar zu machen?

Inwiefern können performative und rituelle Bedeutungsproduktionen unterschiedliche und variable Sinnzusammenhänge aufweisen?

1.5. Theoretische Überlegungen

Viele kulturelle Erscheinungsformen lassen mit und in unterschiedlichen Sparten des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst auffassen. In Anbetracht dessen steht Kunst als Oberbegriff für eine besondere Ausdrucksweise kultureller Praktiken und Erkenntnissuche zu verstehen, die sich im klassisch-modernen und konventionellen Kunstverständnis von der üblichen Lebenspraxis deutlich abhebt. Die Kunst spiegelt am Beispiel von Theaterformen kulturelle Symbolsysteme und -komplexe wider und basiert außerdem auf kulturellen Aushandlungsprozessen: Gegenwärtige transkulturelle Erscheinungsformen von Kultur laden z.B. zu entsprechenden Produktions- und Rezeptionsformen im Theater ein. Dabei geht es um die „Umgestaltung bestehender Denk- und Handlungsformen“1 in der Theaterforschung und -praxis, welche im postdramatischen Theater die Widerspiegelung der gegenwärtigen Kulturinterferenzen nicht nur als „Kultur-im-Zwischen“,2 sondern auch über das „Denken-wie-üblich“3 hinaus als „Projekt“ und konsequenterweise als „Prozess“4 analysiert. Einige Merkmale postdramatischen Theaters, die für diese Arbeit relevant sind, bauen auf Voraussetzungen von Prozess, Dazwischen, Unbestimmbarkeit und Unentscheidbarkeit auf. Aufgrund der performativen Infragestellung sowie Dekonstruktion binärer Denkmuster5 als eine künstlerische Strategie lässt sich zudem beobachten, dass sich tradierte Wahrnehmungskategorien nicht mehr eignen, um Kunst von Nichtkunst zu unterscheiden. In dieser Hinsicht überzeugt die Annahme im Kontext postdramatischer Ästhetik, dass der Autonomisierung bzw. der Freiheit der Kunst zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Bedeutungen beigemessen werden. Insofern wird die nicht mehr eindeutige Bestimmbarkeit sowie Entscheidbarkeit, ob es sich bei einem inszenierten Ereignis um Kunst handelt oder nicht, geradezu zu einem Kriterium für Kunst.6 Viele künstlerische Schauplätze der nicht a priori distraktionsorientierten Gegenwartskunst „scheinen sich nämlich […] dem Vergleich mit der Kunst der Vergangenheit zu entziehen, weil sie sich […] nicht mehr eindeutig vor den Hintergrund je einer Tradition (der Musik, der Malerei, der Bildhauerei, der Literatur usw.) lesen und beurteilen lassen.“7 Folglich ist es in der Auseinandersetzung mit solchen künstlerischen Entwürfen aufschlussreich, sich von dominanten Wahrnehmungsgewohnheiten und Urteilskriterien zu emanzipieren. Durch ihre unklaren Grenzen zur nichtästhetischen Lebenswelt bzw. durch die Unklarheit darüber, welche Elemente überhaupt noch zur Inszenierung zu zählen sind,8 sind unter anderem Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ prägnante Beispiele von gegenkulturellen Tendenzen postdramatischer Gestaltungsformen. Im nächsten Schritt wird auf theoretische Überlegungen und Begriffserklärungen, an die sich die Analyse in dieser Arbeit stark anlehnt, eingegangen: cultural performance und cultural celebration, Institution Kunst/Theater, Institutionskritik, Kultur als Institution, Kult- und Ausstellungswert von Kunst.

1.5.1. Theater als Kunst und Ästhetik des kulturellen Zelebrierens

In dieser Arbeit wird Theater als künstlerischer Funktionsmodus bzw. als ästhetischer Bereich des kulturellen Zelebrierens und des Synkretismus definiert. Zugleich ist Theater als eine Widerspiegelung von und Reflexion über Kultur zu verstehen. Um diese Sachlage zu veranschaulichen, wird auf das Konzept von Performance rekurriert.

Das Konzept der Performance geht, wie Erika Fischer-Lichte bemerkt, auf den Oxforder Linguisten John L. Austin zurück, der 1955 an der Harvard University mit seinen Vorlesungen How to Do Things with Words / Zur Theorie der Sprechakte (1961/62 veröffentlicht) das Paradigma der Performance einführte.1 Im Sinne von Austin bezieht sich das Paradigma der Performance auf den Bereich sprachlicher Äußerungen bzw. auf den ‚performativen Sprechakt‘. Das sind solche Sprechakte, mittels derer durch bestimmte (teilweise formelhafte) Verben/Ausdrücke Handlungen (wie Taufe, Eheschließung) unter konventionellen Voraussetzungen vollzogen werden.2 Die so vollzogenen Handlungen sind „selbstreferenziell“ und „wirklichkeitskonstituierend“.3 Mit Sybille Krämer wird festgehalten,

dass in der sprachtheoretischen Spezifizierung des Performativen drei Gradierungen unterscheidbar werden: (1) das ‚schwache Performanzkonzept‘ bezieht sich auf die Handlungs- und Gebrauchsdimension aller Rede, insofern diese als propositional-performative Doppelstruktur gefasst wird. (2) Das ‚starke Performanzkonzept‘ artikuliert die Konstitutionsleistung symbolischer Handlungen, insofern diese das, was sie bezeichnen, zugleich auch tun. (3) Das ‚radikale Performanzkonzept‘ ist operativ-strategisch zu verstehen: Indem das Performative als die eine Seite eines binären Schemas auftaucht, kann es zur Destabilisierung und Dekonstruktion eben dieses klassifikatorischen Schemas verwendet werden und – als subversive Kraft – auf die Grenzen von dichotomischen Begriffsbildungen verweisen.4

An dieser Stelle ist es nötig, wichtige Grundannahmen in Bezug auf das Performanzkonzept, das für diese Arbeit von Bedeutung ist, festzuhalten:

1) Performanz als Vollzug bzw. Konstruktion von Wirklichkeit, die auf sich selbst verweist: Unter diesem wirklichkeitskonstituierenden und selbstreferenziellen Merkmal ist auch bezüglich der Sprechakte die performative Erfindungs- bzw. Konstruktionsfähigkeit von Sprache (in allen ihren Varianten) oder Diskursen einzuschließen. Das veranschaulicht Fischer-Lichte, wenn sie formuliert, dass der Begriff des Performativen bestimmte Handlungen bezeichne, „die nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken oder repräsentieren, sondern diejenige Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erst hervorbringen. Sie entsteht, indem die Handlung vollzogen wird. Ein performativer Akt ist ausschließlich als ein verkörperter zu denken.“5

2) Performanz gilt als operativ-strategische Methode, die theoretisch und praktisch konventionelle Grenzen überschreitet. Barbara Kirshenblatt-Gimblett unterstreicht diesen methodischen Aspekt von Performanz in Bezug auf die Performance Studies:

The field of Performance Studies takes performance as an organizing concept for the study of a wide range of behaviour. A postdiscipline of inclusions, Performance Studies sets no limit on what can be studied in terms of medium and culture. Nor does it limit the range of approaches that can be taken […]. Performance Studies starts from the premise that its objects of study are not to be divided up and parcelled out, medium by medium, to various other disciplines – music, dance, dramatic literature, art history. The prevaluating division of arts by medium is arbitrary, as is the creation of fields and departments devoted to each.6

Dieses Zitat, das vieles über die operativ strategische Methode von Performanz aussagt, lässt sich auf diese Arbeit übertragen, die sich fachübergreifend und transkulturell mit grenzüberschreitenden Theaterformen auseinandersetzt.

Die folgenden beiden letzten Anhaltspunkte des Performanzkonzepts betreffen den sozialen und ästhetischen Auf- und Ausführungscharakter von Kultur in allen ihren Variationen.

3) Performanz im Dienst der Ästhetik des kulturellen Zelebrierens: Die verschiedenen Konzeptualisierungen von Kultur (Interkulturalität, Multikulturalität, Transkulturalität etc.) sind diskursive und abstrakte Perspektivierungen unterschiedlicher kultureller Auffassungen, die zuerst über Auf- sowie Ausführungen konstruiert und dann beobachtbar bzw. erfahrbar werden. Das jeweilige internalisierte Verständnis von Kultur, Inter-, Trans- oder Multikulturalität wird erst im Zeitverlauf individuell und/oder kollektiv in der Gesellschaft performativ vorgeführt bzw. weiter übertragen. Ohne die Träger kultureller Aus- und Aufführung sind keine beobachtbaren und erfahrbaren kulturellen Praktiken möglich. Der amerikanische Kulturanthropologe Milton Singer spricht in diesem Zusammenhang von cultural performance in Bezug auf die kulturellen Eigenschaften der indischen Brahmanen:

Whenever Madrasi Brahmans (and non-Brahmans, too, for that matter) wished to exhibit to me some feature of Hinduism, they always referred to, or invited me to see, a particular rite or ceremony in the life cycle, in a temple festival, or in the general sphere of religious and cultural performances […]. I found that the more abstract generalizations about Hinduism (my own as well as those I heard) could generally be checked, directly or indirectly, against these observable performances. The idea then occurred to me that these performances could be regarded as the most concrete observable units of Indian culture, the analysis of which might lead to more abstract structures within a comprehensive cultural system.7

Mit dem Begriff cultural performance beschreibt Singer in den ausgehenden 1950er-Jahren „the most concrete observable units of culture“ und „particular instances of cultural organization, e. g. weddings, temple festival, recitations, plays, dances, musical concerts etc.“8 Es ist in dieser Studie festzuhalten, dass die cultural performance unabdingbar ist, damit eine Kultur dynamisch und beschreibbar wird. Die Idee der cultural performance ähnelt einem Theaterereignis, das nicht ohne performative Aufführung unter gleichzeitiger Anwesenheit von Schauspieler_innen und Zuschauer_innen am selben Ort auskommt. Aus diesem performativen Blickwinkel ist Fischer-Lichte zuzustimmen, dass die cultural performance ein dynamischer Prozess ist, der die Wirklichkeit, auf die er verweist, zuallererst hervorbringt.9 Außerdem ist hinzuzufügen, dass „Kultur als Text“ von Clifford Geertz und Andreas Wimmers kultureller Kompromiss bzw. kulturelle Aushandlungen ebenso dem Modell dieser performativen Dynamik folgen wie Singers „concrete observable units of […] culture“. Dies schließt zudem die klassischen, kulturkritischen, essentialistischen, konstruktivistischen usw. Konzeptualisierungen und Konstruktionen von Kultur, Inter-, Multi- und Transkulturalität sowie Gegenkulturen ein: keiner kommt ohne cultural performance aus. Ausgehend von dem theatralen Aufführungsmodell „formuliert eine Kultur in cultural performances ihr Selbstverständnis und Selbstbild, das sie vor ihren Mitgliedern ebenso wie vor Fremden [auch im Sinne von Zuschauenden] dar- und ausstellt.“10 Unabhängig davon, ob es sich um glückliche Ereignisse (wie Heirat) oder um traurige Geschehnisse (wie Tod/Beerdigung) handelt, sieht Peter Brook im performativen Dar- und Ausstellen einer Kultur (das gilt außerdem für alle Kulturauffassungen) eine bewusste Tätigkeit, die in einer cultural celebration individuell und/oder kollektiv durchgeführt wird:

I have asked myself what the word ‘culture’ actually means to me in the light of the different experiences I have lived through, and it gradually becomes clear that this amorphous term in fact covers three broad cultures: one which is basically the culture of the state; another which is basically that of the individual; and then there is a ‘third culture’: It seems to me that each of these cultures stems from an act of celebration. We do not only celebrate good things in the popular sense of the term. We celebrate joy, sexual excitement and all forms of pleasure; but also as an individual or as member of a community through our cultures, we celebrate violence, despair, anxiety and destruction. The wish to make known, to show others, is always in a sense a celebration. When a state genuinely celebrates, it celebrates because it has collectively something to affirm; as happened in ancient Egypt whose knowledge of a world order, in which the material and spiritual were united, could not be described or put easily into words, but could be affirmed by acts of cultural celebration.11

Peter Brooks cultural celebration ist zu verstehen als eine Form von cultural performance, wobei die performative Verhaltensdifferenz durch Situation und Atmosphäre je nach Kontext (künstlerisch, zeremoniell, religiös, politisch oder einfach kulturell etc.) entsprechend hervorgehoben wird. Mit anderen Worten: Das kulturelle Zelebrieren (cultural celebration) ist eine jeweils kulturimmanente und performative Hervorhebung. Sie geht in bestimmten Situationen mit kultureller Verhaltensdifferenz sowie mit dem Wunsch und der Absicht, anderen etwas Bestimmtes mitzuteilen, dar- bzw. auszustellen, Hand in Hand. So findet dieses kulturelle Zelebrieren Ausdruck sowohl in der realen Lebenswelt als auch in der Kunst bzw. im Theater (im weitesten Sinn des Wortes).

Aus ästhetischer Perspektive fungiert Theater bzw. Performance als ein spezifischer funktionaler Modus kulturellen Zelebrierens, der sich je nach der Form als Fiktion, Kunst und/oder Nichtkunst zeigen kann. In diesem Zusammenhang sind die Spielarten des prädramatischen (in dieser Arbeit: voraristotelischen), dramatischen und postdramatischen Theaters als unterschiedliche Funktionsmodi der Hervorhebung kultureller Verhaltensdifferenz zu fassen, die Fiktion und Realität oder eine Mischung sein können. Zudem ist „the wish to make known, to show others“ die conditio sine qua non der theatralen Spielformen in europäischen und außereuropäischen Kulturräumen. In diesem Sinn hat die europäische Theaterkultur über zwei Jahrhunderte eine cultural celebration auf der Basis des geschriebenen und dann werkanalog inszenierten Theatertextes durchgeführt: Die leitende Rolle des geschriebenen bzw. dramatischen Theatertextes lässt sich noch im revolutionären epischen Theater Bertolt Brechts beobachten – in einer epischen oder erzählerischen Form. Die darauffolgenden Theaterformen – wie z.B. das Parabeltheater, das absurde Theater und das Dokumentartheater – stehen gleichermaßen unter dem Primat des geschriebenen bzw. gesprochenen Textes. Dies ist in der Tat eine Art von cultural celebration des „im Laufe des 19. Jahrhunderts in europäischen Gesellschaften durchgesetzten und verfestigten Verständnis[ses] der eigenen Kultur […], das sich im Wesentlichen auf die überlieferten Texte bezog.“12

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9783772001413
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