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Читать книгу: «Erzählungen», страница 3

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Der kleine Lorbeer

Wenn der kleine bescheidene Lorbeer spazierenging, mit trippelnden, vorsichtigen Schritten, die den Boden um Vergebung baten, daß sie ihn berührten, blieb er alle zehn Sekunden stehen, einem Frauenzimmer nachzustarren. Sie mochte hübsch oder häßlich, groß oder klein sein, wenn sie nur einen breiten Busen hatte. Er schämte sich und wurde rot, wenn er hinsah, aber er mußte doch hinsehen. Und starrte noch, wenn das Fräulein längst im Omnibus oder um die Straßenecke verschwunden war. Abends, in seinem möblierten Zimmerchen, das im vierten Stock lag, öffnete er sein Fenster, ließ den blauen, zitternde Schauer weckenden Nachthimmel herein und blickte ängstlich und ehrfürchtig zu den Sternen, ob sie ihm Helfer sein könnten in seiner Not. Und er betete zum lieben Gott und zeihte sich schmutziger Sünden und Gedanken. Aber ihm wurde nicht besser; das Gebet brachte ihm die Lockungen seines Herzens schmerzlich nah ins Gedächtnis, daß er schauderte vor seiner Verderbnis und sich doch nicht von ihr lösen konnte. Er schlug sich und wimmerte und bebte in seiner Entheiligung des Gebetes. Weiße, starkbrüstige Frauen schritten durch seine Träume und rankten und krallten sich an seine sittliche Kraft, daß er sie nicht losreißen konnte. Sie zehrten an ihr. Und wie Lianen schlangen sich ihre flammenden Arme um seine Gedanken, wenn er ihnen entfliehen wollte. Nächtelang lag er wach, mit rotem Gesicht und klopfenden Pulsen, oder hockte und sah nach dem gelben Fenstervorhang, an den die Gaslaternen von der Straße herauf flackernde Bilder warfen, die wie sichtbar gewordene Seufzer über das gelbe Tuch wehten. Seine Bitten zu Gott wurden von Tag zu Tag unaufrichtiger. Er bereute die Wollust seiner Gedanken ja gar nicht, er plapperte es sich nur vor, weil er das Verschwommene, Unsichere liebte und die Wahrheit fürchtete. Er haßte seine Gedanken, o ja!, aber er haßte sie nur, weil sie so schwächlich waren und nie zur Tat wurden.

Wie beneidete er seine Kollegen im Kontor, wenn sie Weibergeschichten erzählten. Fast jeder hatte ein »Verhältnis«, das er abends in den Konzertgarten oder zum Tanzsaal führte: Ladenmädchen, Telefonfräulein, Konfektionöse. Sie sprachen einen vollkommen ausgebildeten erotischen Jargon, der sich entsetzlich roh anhörte. Ihre Mädchen nannten sie »Bolzen, Spritzen«. Mit ihrem Mädchen ausgehen nannten sie »sich die Ziege vorbinden«. Ein Mädchen verführen, hieß »umbiegen«, und wer das nicht wenigstens einmal fertiggekriegt hatte, galt ihnen als »Schlappschwanz«. Der arme Lorbeer war darum ihrer mitleidigen Verachtung anheimgefallen. Wie sehr er sich auch mühte, seine wahre Natur zu verbergen, sie fanden bald, wie es mit ihm stand, und höhnten ihn. Der Don Juan des Kontors, ein junger Mann mit Namen Ziegenbein, der künstlerisch gewundene Krawatten trug, deren Enden wie Fahnen über Weste und Rock flatterten, und den linken Fuß etwas nachzog, schlug dem kleinen Lorbeer vorn auf die Hühnerbrust und schnatterte: »Immer ran, mein lieber Lorbeer, immer ran an den Speck. Nur keine Bange nich. Es gibt immens viel Frauenzimmer – sehen Sie mich! Nich retten kann man sich vor ihnen. Immerhin«, er spuckte sich in die Hände und bestieg wieder seinen Bock, »manchmal ist es zum Kotzen. Sehen Sie mich, lieber Lorbeer. Um gewissermaßen ein Gleichnis zu gebrauchen, einen Vergleich! Wie die Bienenkönigin bin ich, rings um mich rum sind Bienen, und ich stecke drin, ganz tief. Da rauskommen heißt schwer.« Und er begann langsam an einem kalligraphischen D zu malen, während das ganze Kontor zustimmend verehrungsvoll grinste, der kleine Lorbeer aber, weil er sich durchschaut sah, abwechselnd blaß und rot wurde. Heimlich äugte er von nun an, so oft es ging, zu Herrn Ziegenbein hinüber, neugierig, geradezu gefoltert von der Qual der Erwartung, einmal herauszubekommen, weshalb Herr Ziegenbein so nachhaltig auf Frauen wirkte. Hübsch war er nicht – wenn man von seiner Krawatte absah, die er jeden Tag zu wechseln pflegte. Sonntag trug er eine weiße Krawatte, Montag eine blaue, Mittwoch eine grüne, die Farbe der Hoffnung, da es nun wieder auf Sonntag ging, und so weiter. Die Farbe jedes Tages bedeutete ihm ein Symbol. Hübsch war Herr Ziegenbein nicht, seine Nase wuchs sogar über das braune Stutzbärtchen hinaus bis auf die Lippen, Herr Ziegenbein humpelt sogar – und trotzdem …? Durch seine Klugheit? Der kleine Lorbeer zuckte verächtlich mit den Schultern. Klugheit, Bildung, da war er ihnen allen voraus. Wer von ihnen las Gedichte oder versuchte sich manchmal gar selbst in der Poesie? Oder ging ins Theater? Wenn er einem Mädchen durch Bildung hätte imponieren können! So viel war ihm klar, daß Bildung bei Mädchen nicht verfängt. Ja, er dachte deshalb geringschätzig von den Mädchen, daß sie geistige Anmut nicht zu würdigen verstünden – aber er ersehnte ihre Leiber doch und brannte nach ihnen. Er guckte heimlich schnell in seinen Taschenspiegel: schön … so schön wie Herr Ziegenbein war er längst, wenn seine Augen auch in einem Blau schimmerten, das allzu verwässert schien. Woran lag es also, daß er den Mädchen nicht gefiel? Er erinnerte sich, daß er noch gar nicht einmal die Probe aufs Exempel gemacht, daß er die Verachtung der Mädchen immer nur aus der Ferne gefühlt und aus ihren Blicken gelesen hatte. Konnte er sich nicht täuschen? Ein Stein rollte von seinem Herzen! Er wollte es wagen, er wollte einmal ein Mädchen ansprechen! – Des kleinen Lorbeer Verehrung des weiblichen Geschlechts war immer auf das Ganze gegangen. Eine einzelne bestimmte hatte er nie geliebt, wer ihm den Weg kreuzte und sich passabel genug ausnahm, der hatte ihm als »Weib« gegolten, als Weib schlechthin in diesem Augenblicke, bis der nächste Augenblick vielleicht schon die Ablösung brachte.

Am Abend nach Geschäftsschluß schlenderte der kleine Lorbeer durch die Straßen und sah Ladnerinnen, Fabrikarbeiterinnen und jenen andern, die ihm immer als die schönsten erschienen waren, frechschüchtern ins Gesicht. Hin und wieder fing er auch einen Blick, wie die Kinder Heuhüpfer auf der Wiese fangen, hastig zugreifend, aus Angst, er könne ihm sonst entspringen. Er konnte sich aber nicht entscheiden, einem Mädchen nachzulaufen, es waren so viele, und wenn er ein paar Schritte hinter einer Blonden herlief, kam jetzt eine Braune, die ihm bei weitem mehr gefiel. Da trippelte eine kleine Schwarze, zwei Freundinnen kichernd am Arm. Sie war eine übermütige Kröte und drehte ihm große runde Blicke und bog sich schmachtend nach ihm um. Er verstand ihre Zuvorkommenheit aber falsch: den Atem hielt er an vor verliebter Erschrockenheit, seine wasserblauen Augen öffneten sich weit und sahen aus wie zierliche blaue Teller aus Delfter Porzellan. Dann atmete er tief auf und besann sich: er mußte ihr nach. Wo war sie aber? Ganz in der Ferne leuchtete ihre rote Bluse wie eine Mohnblume auf graugrüner Wiese. Er lief und lief, stieß Damen ungalant mit dem Ellenbogen zur Seite, trat einem vornehmen Herrn auf die Lackstiefel und hätte am liebsten geschrieen: »Haltet den Dieb, haltet den Dieb!« Denn, sagte er sich, sie hat mein Herz gestohlen, wie es in den Romanen immer heißt, meistens um die fünfzigste Seite herum, wenn die Liebeserklärung nahe ist. Als er sie endlich eingeholt hatte, waren ihre Freundinnen nicht mehr bei ihr, sie ging, lachend und ihre veilchenfarbene Tasche schlenkernd, in Begleitung eines jungen Mannes, augenscheinlich eines Studenten, der mit eckigen und abrupten Arm- und Handbewegungen überzeugend auf sie einredete.

Der arme kleine Lorbeer blieb mitten auf dem Trottoir stehen und stand mit zusammengekniffenen Augen und gekrampften Lippen, unbeweglich, wie unter einer unangenehm kalten Dusche.

»›Abendpost‹, ›Abendpost‹!« schrie jemand dicht neben ihm. Und ein Schulknabe mit dickem, pfiffigem Gesicht pflanzte sich hart vor ihm auf und piepste: »Sie, Münneken, jehn Se man weiter, Sie stören den Verkehr.«

Ein paar Passanten lachten.

Der kleine Lorbeer ging weiter. Seine Niederlage schmerzte ihn. Er hatte keine Lust zu ferneren Abenteuern. Erbost betrat er eine Stehbierhalle, trank einige Gläser Bier und begab sich auf den Heimweg. Seine vorher so lebhafte Begierde hatte einem leeren, toten Gefühl Platz gemacht, in dem Zorn, Hoffnung, Resignation und Müdigkeit um den Vorrang stritten. Es wollte keines zum Siege gelangen, seine Gedanken wallten in ein sumpfiges Chaos, das ihn anekelte.

Diese Nacht schloß er das Fenster und sah nicht nach den Sternen.

Am nächsten Tag plagten ihn Kopfschmerzen. Er machte einen so blassen, grämlichen Eindruck, daß man im Kontor anzügliche Bemerkungen vom Stapel ließ und der Don Juan, Herr Ziegenbein, eine Behauptung aufstellte, die ihm das Blut vor Scham in den Kopf trieb – weil sie leider der Wahrheit ermangelte. Da wurde es ihm wieder klar, daß er es seiner Ehre schuldig sei, endlich ein Mädchen zu gewinnen. Und am Abend machte er sich wieder auf den Weg, diesmal von tollkühnem Wagemut besessen. Heute traute er nicht jedem verwegenen Mädchenblick, und so kam er überhaupt zu keinem Entschluß und lief schon eine Stunde durch die Straßen, als er am Gitter einer Villa der Vorstadt ein Mädchen sah, dessen stahlblauer Blick wie ein Blitz zischend in seine wasserblauen Augen fuhr. Strohgelbe Haare flochten sich wie ein Erntekranz um ihren Kopf, und unter dem Blau ihrer Augen schimmerte ein leichter rosa Glanz – wie oben in der schwarzblauen Nordsee in heißen, klaren Sommernächten ein rosa Ton liegt, den das Meer vom Tage, von der Sonne zurückbehielt.

Der kleine Lorbeer kreiste wie eine Fledermaus verlegen um sie herum, wurde rot, würgte an einer Anknüpfung; plötzlich trat er mit einem Ruck auf sie zu.

»Gestatten … statten Sie, mein Fräulein, warten Sie … auf … auf jemand?«

Sie sagte langsam und langweilig, ohne ihn anzusehen : »Auf Sie nich.«

Der kleine Lorbeer stand fünf Minuten neben ihr, mit dem Gefühl einer unrühmlich verlorenen Schlacht. Er wollte sie irgendwie gut machen. Aber er fand keine Worte. Er ging in die Stehbierhalle und begab sich auf den Heimweg. Drei Tage dachte er überhaupt nicht an Weiber und arbeitete im Kontor mit einem Eifer, als ob er sich eine Gehaltsaufbesserung verdienen wolle.

Am vierten Tag stellten sich seine verliebten Gedanken wieder ein. Und er nahm sie nicht ungnädig auf, brachten sie ihm auch Unruhe genug. Er hielt sie vorerst in Schranken. Sie benahmen sich so gesittet, daß er sogar die Tochter des Portiers, ohne sie zu entkleiden, aus nur kindlichem Wohlgefallen betrachten konnte.

Am 23. Juli aber – er ist der wichtigste Tag im Leben des kleinen Lorbeer und verdient namhaft gemacht zu werden – drohte der kleine Lorbeer den ganzen Tag in Liebessehnsucht zu verschmelzen. Heimlich betete er im Kontor zum lieben Gott, er möge ihm doch seine einzige Bitte erfüllen.

Diesen Abend – es war ein warmer Sommerabend, an dem keine Bank unbesetzt ist von Liebespärchen und selbst die Schutzleute paarweise durch den Park patrouillieren – ging er nach Geschäftsschluß noch einmal nach Hause, band sich einen neuen, rotseidenen Schlips um und spritzte sich Parfüm »Königin der Nacht« auf den Rock. Seinen Spazierstock ließ er fröhlich zwischen seinen Fingern tänzeln. Heute wandte sich sein Blick vorzugsweise jenen Frauen zu, die so apart gekleidet sind und einen so exklusiven Eindruck machen, auch eine exklusive Stellung in der Gesellschaft einnehmen. Man lädt sie zwar gern durch die Hintertür zum Souper, treibt sie aber vom Vorderaufgang, »Nur für Herrschaften«, mit Peitschen hinweg.

Der kleine Lorbeer wußte, daß es eine Liebe für Geld gebe. Er hatte oft genug geschwankt, ob er sie nicht einmal probieren solle. Aber so reizend ihn diese Frauen dünkten – die viel schöner als Ladnerinnen, Mamsells und Stubenmädchen aussahen –, er hatte ein Prinzip, und das sagte ihm, diese Liebe um Geld sei unmoralisch, ja gemein. Denn jeder könne die Frau besitzen, die er vielleicht grade begehrte, wenn er nur Geld habe. Heute, wie er sich wieder mit diesem Problem zu schaffen machte, zeigte es ihm überraschend neue Seiten. Wie, konnten diese Mädchen nicht auch – lieben? Würden sie nicht manchen, dem sie mit seltsamen Blicken winkten, vielleicht wirklich lieben – ohne Geld –, wenn sie ihn, sein gutes Herz, seinen Charakter näher kennenlernten? Wenn nun er …? Der kleine Lorbeer suchte in den Augen der schön geputzten Damen nach Verständnis … nach Liebe; würde er sie nicht bei einer – bei einer wenigstens finden?

Da streifte ihn eine schlanke Schöne. Ihre Augen waren klein und braun, ihre gutgeformten Brüste hoben sich unter der weißen Bluse deutlich ab. Sie trug kein Korsett. Dem kleinen Lorbeer wurde schwindlig. Diese, diese … war es. Er lief hinter ihr, dann neben ihr und zog seinen Hut. Sie lachte, als sie den Kleinen sah. Dann bogen sie in eine Nebenstraße ein, dann in ein Haus. Es ging vier Treppen hoch. Vier Treppen, wie bei mir, dachte der kleine Lorbeer. Sie schloß auf, ließ ihn herein und klinkte die Tür wieder zu. »Leg ab«, sagte sie und machte die Nadeln vom Hut los, den sie sorgfältig auf einen Stuhl legte.

»Wie gefällt er dir?« sie zeigte auf den Hut.

Der kleine Lorbeer hatte bisher kein Wort gesagt, sie nur immer wieder verwundert, beklommen und sehr verliebt angesehen. Wenn sie ihn doch lieben möchte … lieben … ohne Geld. Denn das ist ja keine Liebe … mit Geld.

»Sag«, und sie rieb ihre Brüste an seinen Oberarm, »du gibst mir etwas?«

Er erschrak.

Er fiel vor ihr nieder, sein Kopf lag zwischen ihren Knien: er stöhnte, und die Worte kamen wie Bröckel und Klötze, die sich vom Felsen seines Leides lösten, unbeholfen, von verhaltenen Tränen durchströmt, aus seinem Munde: »Du, lieb mich, hab mich lieb … warum willst du Geld? Dann ist es keine Liebe … Dann ist es Sünde … Mich hat noch niemals eine Frau geliebt … warum wollen Sie Geld? Warum lieben Sie mich nicht?«

Das Mädchen sah auf ihn herab mit frommen Blicken, wie die Madonna auf einen Büßer, der ihr sein Herz beichtet.

Sie zupfte zärtlich an seinen Haaren: »Kind, du bezahlst mich doch nicht … ich hab dich wirklich lieb … sieh … du schenkst mir nur etwas – freiwillig … ganz freiwillig.«

Der kleine Lorbeer verstand langsam, dann jubelte er auf: das war Liebe! –

Im Kontor trug er nun ein selbstgefälliges Wesen zur Schau. Nebenbei ließ er durchblicken, daß er eine Geliebte habe, eine Geliebte.

Dreimal wöchentlich besuchte er seine »Geliebte«, indem er ihr jedesmal ein kleines Geldgeschenk mitbrachte.

Übrigens stand sein Fenster des Nachts wieder auf. Der blaue Nachthimmel kam herein und brachte die Sterne mit, die, einst Zeugen seiner Not, nun Zeugen seines Glückes wurden.

Nach knapp einem halben Jahr lud der arme kleine Lorbeer zur Hochzeit.

Marietta

Ein Liebesroman aus Schwabing

Ich habe kein Vaterland.

Ich habe kein Mutterland.

Jede fremde Sprache berührt mich heimatlich.

Ich bin eine polnische Prinzessin: hübsch, aber schlampig.

Ich schiele.

Das ist meine Weltanschauung.

Eigentlich müßte ich ein Monokel tragen.

Ich gewinne auf der Münchener Wohlfahrtslotterie eine kleine Kuhglocke.

Ich binde sie mir um den Hals und lasse sie läuten.

Jeder möchte mein Hirt sein.

Ich bin Marietta.

Aber ich bin noch nicht ganz Marietta.

Ich will Marietta werden.

Ich schwanke noch.

Bin funkelndes Feuer.

Und sehr viel Rauch.

Ich habe eine unordentlich zugeknöpfte orangine Bluse und verkünde nachts im »Simplicissimus« blaue Fabeln und graue Anekdoten von Klabund.

Manche nur sind leise rosa und schmecken wie Himbeerkompott.

Ich kriege für den Abend vier Mark und nicht mal warmes Abendbrot.

Ich suche nach Nebenverdienst.

Gestern kam ein sehr junger Mann mit glattem Gesicht in Begleitung Etzels in den »Simplicissimus«.

Etzel sagte: »Der Herr möchte ein Manuskript tippen lassen!«

Ich kann Schreibmaschine schreiben, denn ich war eine Zeitlang auf dem Büro der Zeitschrift »Lese« (am Rindermarkt) beschäftigt.

Ich sagte: »Ich werde es gerne tun.«

Der junge Mann bestellte ein Glas Bowle für mich.

Ich setzte mich neben ihn auf die Bank.

Wir sprachen nicht viel.

Einmal legte er schüchtern seinen Arm um meine Hüfte.

Emmy Hennings sang das Lied von den »Beenekens«. Sie kreischte wie eine dänische Möwe, die sich von den Wellen des Kattegats erhebt.

»Kommen Sie morgen früh um elf, und holen Sie sich das Manuskript«, sagte der junge Mann und ging.

Er ging mit Schritten wie ein Gymnasiast und mit den Augen eines Seeräubers.

Er trug einen segelblonden Anzug.

Der roch nach Tang und wehte.

Der junge Mann wohnt Kaulbachstraße 56, parterre.

Die Tür stand offen, als ich kam, und er sagte: »Begleiten Sie mich ein Stück? Hier ist das Manuskript!« Auf dem Tisch lag eine Postanweisung von der »Jugend«.

Ich nahm das Manuskript.

Es waren Verse.

Ich fragte ihn: »Haben Sie das gemacht?«

»O nein«, lächelte er, »gewiß nicht!«

Aber ich glaubte, daß er es sei.

– Wir gingen durch die Kaulbachstraße.

– In der Sonne.

Er nahm den Hut ab und die Sonne ließ sich wie ein goldener Vogel auf ihn nieder.

»Ich habe einen schönen Akt«, sagte ich.

Ich mußte doch etwas sagen. »Der Habermann hat mich gemalt.«

Er sah mir durch die Bluse und meinte: »Vielleicht!«

An der Ecke der Kaulbach- und Veterinärstraße hockte eine italienische Blumenverkäuferin.

Er kaufte ihr eine rote Nelke ab und schenkte sie mir.

Ich fühlte, daß er sie mir schenkte.

Er ist hochmütig.

Ich mag ihn nicht.

Er verabschiedete sich.

Um zu einer Schreibmaschine zu gelangen, stieg ich nachts durch ein Parterrefenster in den Verlag Heinrich F. S. Bachmair, bei dem ich früher einmal Fräulein gewesen war. Ich tippte die Gedichte auf offizielle Briefbögen des Verlages Heinrich F. S. Bachmair, weil sich kein anderes Papier fand.

Becher kam mit Dorka und überraschte mich.

Er wollte mich schlagen. »Was hast du denn hier zu suchen, du Aas?«

Aber Dorka beruhigte ihn.

Sie gingen zusammen ins Nebenzimmer und aufs Sofa.

Der junge Mann war nicht mehr in München.

Ich brachte das Manuskript einem Herrn, den er mir schriftlich bezeichnet hatte.

Ich empfing acht Mark.

Ich weinte.

Ich haßte den jungen Mann in der Ferne.

Der mir fremd war.

Der mir »über war«.

Wie ein Aviatiker.

Ich mußte fort.

Ich erbrach München.

Major Hoffmann sagte im Café Stefanie zu mir: »Möchten Sie nicht als Modell zur Fürstin von Thurn und Taxis?«

Ich sagte: »Sehr gern« (… ich habe einen schönen Akt. Der Habermann hat mich gemalt …). Man schickte mir telegraphisch das Reisegeld, und ich fuhr.

Die Photographie der Fürstin von Thurn und Taxis hängt immer über meinem Bett. Sie ist eine fürstliche Frau. Ihre Geschenke sind fürstlich.

Aber die Hände, mit denen sie sie reicht, sind die einer entthronten Bürgerin.

Während sie mich modelliert, lese ich aus einem Buch vor: »Die japanische Nachtigall«.

Oder ich erzähle ihr allerhand Geschichten.

Aller Hand streichelt dann über mich hin, und ich bin wie Welt.

Ich erzähle ihr, daß ich in Treppenhäusern geschlafen habe und auf einer Bank in den Anlagen der Pinakothek.

Gegen vier Uhr öffnete ich die Augen, und die Schildwache stand vor mir.

Sie lächelte mit geschultertem Gewehr: »Schon ausgeschlafen?«

Sie sagte, daß sie Bäcker sei und immer früh aufstehen müsse.

Sie stehe gern des Nachts Posten, wenn die Sterne wie goldene Kinder über den Himmel gingen, Hand in Hand.

Sie habe viel Spaß an dem Soldatensein.

Es gab schöne Rosen in den Anlagen: hell- und dunkelrote.

Die Schildwache sagte, ich solle mir welche abpflücken.

Sie passe auf, daß kein Schutzmann komme.

Es wird schon sehr kalt.

Ich habe keinen Mantel.

Ich schlafe mit dem Kaufmann Hirsch.

Er sieht aus wie ein verstaubtes Buch, das man nicht gern zur Hand nimmt.

Er ist anonym.

Er sprüht angeregt.

Er hat einen Bruder und einen Freund, die beide Maler sind.

Sie spotten: »Bei der Marietta kommst du nicht so leicht an! Das ist ein Mädchen aus der Bohème. Die geht nicht für Geld!«

Kaufmann Hirsch hat mir fünfzig Mark gegeben.

Er macht mir einen Heiratsantrag.

Er ist sehr besorgt um mich.

Er läßt mir vom Kellner einen Fußschemel bringen.

Ich stelle die Füße unter den Schemel, damit man meine zerrissenen Schuhe nicht sieht.

Er ist sehr unglücklich.

Sein Bruder und sein Freund hätten einen idealen Beruf.

Er sei nur Kaufmann. Was könne er mir bieten?

Ich sei ein ideales Mädchen. (Ich glaube, er hat Murgers »Bohème« gelesen, ehe er mit mir schlafen ging.) Ich sagte, ich sei gar kein so ideales Mädchen, wie er dächte.

Denn ich würde nie mehr mit ihm schlafen.

Trotz der fünfzig Mark.

Ich lasse mich nicht auf den Boden schlagen.

Wir sitzen im Café Stefanie.

Der junge Mann ist auch da.

Er ist eben zurückgekommen.

Während ich in Paris war, war er in der Schweiz.

Ich bin durch das Rote Meer in Paris geschritten, trockenen Fußes, und die Wogen wölbten sich vor mir.

Er glaubt noch immer, über mich hinwegzusehen wie über einen Kiesel.

Aber ich bin nun ein Fels.

Er erschrickt.

Seine Stirn blutet vom Anprall ans Gestein.

Ich liebe ihn.

Sein Blut rinnt in meinen Schoß.

Ich erzähle ihm von Paris.

Wir trinken Samos im »Bunten Vogel«.

Wir fahren im Auto zu neunen nachts ins Isartal.

Es regnet.

Wir überfahren einen Hasen.

Es war eine Häsin und hatte drei Junge im Leib.

Der Chauffeur wird ihn sich braten.

Seine Frau wird ihn mit Gurkensalat servieren.

Wir kommen auf den Gedanken, einen Verein zu gründen und uns alle grüne Schärpen zu kaufen.

Es ist fünf Uhr früh.

Der junge Tag schwingt seinen gelben Hut.

Zwischen Wolken hervor.

Wir wandeln durch die Leopoldstraße.

Die Pappeln stehen steif wie männliche Glieder, aber belaubt.

Ich erzähle ihm von Paris.

Er schweigt wie ein Parlograph, in den man alles spricht, der alles treu bewahrt.

Oh, daß er mich ganz bewahre!

Nicht meine Sprache nur: auch meine Locken.

Meine kleinen Brüste.

Meine schiefen, obszönen Augen, meine turmschlanken Füße.

Und meinen durstigen Mund.

Ich bin sein Kind.

Ich liege gekrümmt in seinem Bauch.

Die Hände vor meinen blinden Augen zu Fäusten geballt.

Wen wollen sie schlagen, wenn meine Blicke sehend werden?

Er wird mich gebären.

Am Morgen bestellt er Frühstück bei seiner Wirtin.

Eier, Kakao und Schinken.

Sein Zimmer ist sehr klein.

An den Wänden hängen Bilder, die er auf der Auer Dult gekauft hat.

Das Stück zu etwa 1,25 Mark.

Er sagt, sie seien von Veronese, Habermann (den kenne ich), Paolo Francese und Anton von Werner.

Ein Akt ist auch da, dem wirbeln die Brüste bis auf die Knie.

Der Geldbriefträger klopft.

Ich ziehe die Decke über den Kopf.

Der junge Mann gibt mir zehn Mark.

Er lächelte: er werde ein Feuilleton über mich schreiben. Im »Berliner Tageblatt«.

Er gewähre mir zehn Mark Honorarbeteiligung. Vielleicht werde er noch einmal sehr viel an mir verdienen, wenn ich mit ihm im künftigen Frühling nach Monte Carlo ginge.

Als sein Kapital.

Er würde mir die Garderobe bezahlen.

Und meine Aktien würden steigen bis weit über 500 …

Ich berichte dem jungen Mann (er hängt jetzt neben der Fürstin von Thurn und Taxis über meinem Bett: ein lachendes Gesicht in Hut und Mantel), daß ich ein Tagebuch führe.

Ich führe es, wie man ein Maultier führt im Gebirge: steinige Straßen, an brodelnden Schluchten vorbei und patinagrünen Almen.

Aber über der Ferne leuchtet die weiße Jungfrau mit dem Silberhorn, und Grindelwald ruht in besonntem Schweigen.

Er ist begeistert.

Er meint, ich solle ihm das Tagebuch doch einmal bringen.

Vielleicht könne man es seinem Verleger zeigen.

Vielleicht würde der es drucken.

Als ich ihn verließ, lag auf der Treppe ein zertretener Nelkenstrauß.

Hat er mich je geliebt?

Mein Kopf wird herumgeworfen.

Er ist kein Mensch.

Er ist ein Wald mit tausend Bäumen.

Hochwald.

Der streckt sich nach einer anderen Sonne.

Und seine Winde wehn von Uruguay.

»Marietta«, sagte der junge Mann, »ich werde die Köpfe der Gehenkten über mich befragen …«

Ich hatte Angst und lachte.

Denn die Gehenkten wissen jede dunkle Zukunft.

»Wenn sie die Wahrheit sagen, opfere ich dir einen Taler, Marietta.«

Er verschwand hinter dem Vorhang.

Auf einmal ertönte Geschrei.

Nicht ein Schrei: Millionen entsetzlicher Schreie. Es klang von außen, von der Straße und warf mich, ich stand am Fenster, betäubt ins Zimmer zurück.

Ich zog den Vorhang.

Der junge Mann hing am Ofenhaken.

Die Augen krochen ihm wie zwei schwarze Weinbergschnecken aus den Höhlungen.

Am Boden zu seinen Füßen lag ein funkelnagelneuer Taler.

Ich werde nie die Köpfe der Gehenkten über mich befragen. (Und jenes entsetzliche Geschrei beim Tode des jungen Mannes weiß ich natürlich zu deuten: es kam vom nahen Schlachthof. Es brüllte aus Tausenden von sterbenden Ochsen, Kälbern und Schweinen.) Bei meinem Tode werden nicht die Ochsen schreien …

Ich habe Sehnsucht nach dem elektrischen Rausch der Boulevards.

Nach Paris.

Nach den kleinen Dirnen, die am Abend wie Porzellan blinken.

Nach den dünnen Blumenmädchen, die gegen einen Frank Honorar im dämmerigen Hauseingang mit einem onanieren.

Mein Kopf ist wie gehenkt.

Der junge Mann hat mich gehenkt.

Mein Kopf hängt lotrecht wie ein Kronleuchter von der Decke.

Meine Augen brennen wie Wachskerzen.

Sie duften.

Wie Weihnachten.

Ich bin Maria.

Ich werde den Heiligen Geist unbefleckt empfangen.

Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
06 декабря 2019
Объем:
130 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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