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Aber ihr Werk war jetzt abgeschlossen. Und vor ihr lagen nur die Begegnung mit dem Dirigenten. Die Proben. Die Aufführung. So würden die kommenden paar wenigen Frühlingswochen vergehen. Bis sämtliche Vögel durch die Musik gezogen wären, heimwärts, und bis dahin hatte sie die Wohnung, diese Räume, den Flügel. Also ja. Frühling in London. Magnolien. Es genügte doch, einfach noch einmal hier zu sein, oder?, bei dem einen Baum direkt vor ihrem Fenster an der Haustür, die Blütenblätter dickfleischig fest und gebogen wie Flügel?
Die Reise hatte sie allerdings ermüdet. Sie war daher, nach den paar Minuten unten gleich nach ihrer Ankunft, ziemlich sofort ins Bett gegangen. So ist es, krank zu sein, dachte sie, als sie die Treppe hinaufstieg. So ist es … Alles wurde erschlagend. Sie hatte gerade noch die Kraft, aus dem Wäscheschrank Laken und ein Federbett zu zerren, Kissenbezüge … gerade genug, um halbwegs das Bett zu beziehen – dabei auf das Federbett, das doch zu schwer war, zu verzichten –, und dann, als der letzte Baumwollkissenbezug übergestreift war, ihre Schuhe von sich zu schleudern, ihren Rock zu Boden gleiten zu lassen, zwischen die kühlen, frischen Laken zu kriechen und das leicht kratzige Federbett noch zu sich heranzuziehen, ehe sie in einen traumlosen Schlaf versank … So ist es, krank zu sein. War ihr erster Gedanke, als sie, wohl Stunden später, die Augen aufschlug und es dunkel war.
Zuerst wusste sie beim besten Willen nicht, wo sie war. Sie lag da, leicht panisch im Grunde, versuchte, sich zu erinnern, was für ein Fenster das sein sollte, was für eine Wand daneben, versuchte, sich an die Einsicht zu erinnern, die sie vergessen hatte, während sie schlief … Ach ja: Sie musste sterben. Die Erinnerung selbst war längst nicht so schlimm wie der Versuch, sie zu erhaschen, die verworrenen Nanosekunden nach dem Schlaf, während derer sie irgendwie mit Schrecken, so fühlte es sich an, das Bewusstsein wiedererlangte. Die Erinnerung längst nicht so schlimm wie der Versuch, sich zu erinnern. Eher … unausweichlich. Wie das Leben überhaupt. Eins, das zum anderen führte. Ein Tag zum anderen, manche, die mit einem Morgen endeten, während andere eben nur endeten.
Sie blieb noch einen Augenblick liegen, genoss die Dunkelheit und das Gefühl, zur Ruhe zu kommen in diesem ihr so vertrauten Schlafzimmer. Wie oft hatte sie hier im Dunkeln gelegen. Wie jetzt … jetzt … möge es jetzt sein, denkt sie, als könnte sie jetzt die Augen schließen und das Licht um sie herum wäre weg. Wie die vielen Male, wenn sie sich am frühen Abend kurz hingelegt hatte, ehe sie noch einmal wegging, sich einen Moment gegönnt hatte, ehe sie sich erhob und anzog, fertigmachte, still dagelegen und das Tageslicht langsam von den vertrauten Wänden und Kanten hatte rinnen lassen, das Violett und die Schatten einließ. Oder wenn sie mitten in der Nacht aufgewacht war und neben ihr Ed. Alles, all die Male und alles an diesem Zimmer ihr bekannt und vertraut. Alle Ruhepausen. Alle Dämmerungsstunden. Alle Mitternächte. Aller Schlaf.
Im Dunkeln dieses speziellen Abends lächelte sie. Fast konnte es einer der Abende vor langer Zeit sein, wenn sie und Ed noch etwas vorhatten, ein Konzert oder eine seiner Lesungen, einen Auftritt … das Gefühl, in einem wohlig dunklen Raum zu liegen, aber sehr bald schon wieder aus dem Haus treten zu können, wo sich dir eine ganz neue Phase des Abends eröffnete: hell erleuchtete Räume, Musik, das Klirren von Gläsern, Klänge und Stimmengewirr … Jetzt, wo sie daran dachte, packte sie plötzlich eine neue Energie, ein Ja – und sie beschloss, tatsächlich wegzugehen. Einfach aus dem Moment heraus. Alles andere zurückzustellen – die Telefonate, das Herrichten der Wohnung, das Auspacken – und stattdessen aufzubrechen, wie sie damals aufgebrochen war, ungebunden und klar und erfüllt von jugendlichem Elan und der Zukunft. Als könnte ihr nichts auf der Welt etwas anhaben, gar nichts.
Sie suchte aus ihrem Koffer eine Jeans hervor, stieg hinein, nahm ihr nachlässig über einen Stuhl geworfenes Jackett, ging nach unten und zur Tür hinaus.
Der Magnolienbaum war noch immer da. Stand wie erstarrt in der Nacht, die Äste weiß im Schein der Straßenlaterne, dicht besetzt mit herrlichen Blüten, aber vollkommen reglos, als warteten sie allesamt auf etwas. Selbst erwartungsvoll, blieb Elisabeth dort vor dem Baum einen Augenblick stehen, nein, eher eine geschlagene Minute. Es war eine laue Nacht. Die Kälte, die sie tagsüber angeweht hatte, als sie aus dem Zug stieg, war einer wunderbaren Anmutung gewichen, einer Art frühsommerlicher Wärme, fast, und auch das Klamme war verflogen, sodass der tiefblaue Himmel und die Luft draußen herrlich frei und weit wurden, wohltuend, friedlich. Ihr war, als könnte sie umgehend ihr Jackett ablegen, in der dunklen, weichen Luft nur ihr T-Shirt tragen … Und das tat sie, zog das Jackett aus, und mit der sorglosen Stimmung kam das Gefühl, wieder jung zu sein, so wie mit Anfang zwanzig, vor dem Komponieren, vor den Aufführungen, vor der Begegnung mit Edward und der Ehe und dem Umzug nach Schottland auf die Insel … vor alledem, und da war sie nun, trieb sich herum, wie sie sich früher herumgetrieben hatte, als sie spät noch wegging, die ganze Nacht wegblieb, in Bars und Restaurants jobbte, auf abgefahrene, exotische Musikfestivals und Konzerte in leeren Lagerhallen ging, die erst um Mitternacht anfingen und bei denen nur Kerzen brannten … Weißt du noch, damals … Weißt du noch? fragten die Magnolienblüten. Wer du mal warst? Wer du bist? Da merkte sie, dass sie, als sie zur Tür hinaustrat, keine Ahnung gehabt hatte, was sie mit dieser tief dunkelblauen Nacht anfangen sollte, aber jetzt wusste sie es.
Gleich gegenüber an der Ecke gab es einen Pub, den sie vor Jahren oft aufgesucht hatte, dort hatte sie sich manchmal nach der Arbeit mit Ed getroffen, oder sie waren auf einen Schlummertrunk hingegangen, und manchmal auch sie allein, hatte sich an die Bar gesetzt, mit dem vertrauten Barmann gesprochen, und dann war da noch ein alter irischer Priester gewesen, Stammgast und wie eine Figur aus einem Roman von Graham Greene, fand Ed. Auch mit ihm hatte sie sich öfter unterhalten, ein kluger, kluger Mann, hatte eine Weile bei ihm gesessen und mit ihm über Sünde und Tod und Hoffnung gesprochen … Wo mag der alte Priester jetzt sein? Der Pub hatte immer lange auf, sie entsinnt sich, häufig erst bei hellblauem Frühsommerhimmel unterm offenen Fenster wieder im Bett gewesen zu sein. Weniger wie ein Londoner Pub und mehr wie eine irische Kneipe oder New Yorker Bar. Aus der Nähe allerdings sah sie jetzt, dass der Pub neu gestrichen, irgendwie überholt, aufgepeppt worden war – wie das? Was früher eine heruntergekommene Schankstube gewesen war, hatte man zum Inbegriff einer solchen umgestylt, das war es, quasi zu einem modisch-maroden Salon – noch am selben Fleck wie damals mit den gleichen Gästen und Jukeboxklängen, eigentlich, nur sorgte heute für die Musik eine Band in der Ecke, Gitarrist und Drummer und Geigerin … Das war früher sie gewesen. Geigerin. Elisabeth schmunzelte. Die Tür stand offen, sie trat ein.
Lärm und Gedränge schlugen ihr entgegen. Männer und Frauen umlagerten den Tresen oder hockten an kleinen Tischen beieinander, lachten und schwatzten. Sie heizten den Raum auf mit ihrer Energie, jeder angeregt von seinen jeweiligen Nachbarn, von der Gesellschaft, sie sprühten vor Leben, alle möglichen Leute, als wäre die ganze Welt da. Elisabeth bahnte sich einen Weg an den Tresen, um zu bestellen, was sie einst immer bestellt hatte – Wodka Tonic, viel Zitrone, viel Eis. Es war das Party-Getränk damals, weißt du noch? Die Partys? Sie würde, später, sogar eine Schachtel Zigaretten kaufen und draußen vor der Tür eine rauchen.
«Hallo!», übertönte die junge Frau hinter dem Tresen die Band. «Was darf’s sein?» War sie Australierin? Vielleicht Neuseeländerin? Jedenfalls eine dieser patenten, aufgekratzten Stimmen, diese umgängliche Art. Die Stimme von einer, die viel Zeit in der Sonne verbracht hat, am Strand vor einem endlosen blauen Meer auf einem weiten grünen Rasen.
«Wodka Tonic also, ja?», meinte sie, als Elisabeth ihre Bestellung aufgab, und grinste. «Klingt gut.»
Elisabeth wühlte in ihrer Tasche nach Geld. «Ja», sagte sie. «Mit viel Eis, bitte. Und Zitrone.»
«So mag ich ihn auch.» Die junge Frau lächelte wieder breit, nur diesmal mit prüfendem Blick. «Alles in Ordnung?», fragte sie.
Elisabeth erstarrte, ihr blieb fast das Herz stehen – war es so? Blieb ihr das Herz stehen? Blieb ihr Körper stehen, war es das Ende, nicht etwa später, wie sie gedacht hatte, sondern hier, jetzt, jetzt … Dann fing sie sich wieder. «Haben Sie vielleicht Kleingeld für den Zigarettenautomaten?», fragte sie.
Die Barfrau widmete sich wieder dem bestellten Drink. «Nope.» Sie schüttelte den Kopf und schaufelte Eis in ein hohes Glas. «Gibt keinen Automaten mehr. Aber ich spendier Ihnen gern eine Zigarette, wenn Sie wollen. Ich habe gleich Pause. Wir können nach draußen gehen.» Sie drehte sich um und schenkte Elisabeth erneut ihr strahlendes Lächeln, wie direkt vom Strand, voller Sonne und langer, heißer Tage.
«Okay?», meinte sie.
«Okay», sagte Elisabeth.
Das Ganze war wie wieder jung sein. So dachte Elisabeth im Nachherein. Dieses Okay? Okay! Die Sorglosigkeit, die Offenheit für das, was kommen würde, weil alles okay wäre. Die Mühelosigkeit, das Gefühl, die Nacht schließe jeden mit ein, alle seien sie vereint, jeder dein Freund.
Okay.
Okay.
Sie hört es sich sagen.
«Okay», wiederholte die Barfrau. «Ich sag dann Bescheid, und wir gehen zusammen nach draußen und sündigen.» Sie führte gestisch eine Zigarette an den Mund, sog den Rauch ein und stieß ihn wieder aus.
Elisabeth nickte, «Alles klar», und wanderte Richtung Ecke und Band. Die Geigerin spielte ein herrliches Arpeggio in a-Moll, über ihr Instrument gekrümmt wie ein alter Highland-Fiedler, den Bogen über die Saiten führend wie bei einem Cèilidh in den Bergen, mit diesem federnd leichten Strich, den man auf der Insel bei allen Dorftänzen hörte … Hübsch klang das inmitten des dichten Pub-Geschnatters zum Puls der Gitarrenakkorde. Erinnerte Elisabeth an irgendwas. An ihre Flöte, begriff sie. Die Flöte in ihrer Elegie für Streicher, ihr Adagio – die gleiche Art unerwarteter Klang, der weniger mit der Musik der anderen im Orchester konkurrierte oder einherging als schlicht eine weitere Stimme dazu war, sich durch die Melodie hindurchwand und sie erhellte, lichtete, als bahnte sie sich klanglich einen Weg. Elisabeth war euphorisch. Und sich dessen bewusst. Diese Klänge hier zu hören. Und auf diese Weise gespielt. Zu später Stunde. Spät noch weggegangen zu sein, allein, zutiefst allein, wie sie es liebte, und alle Welt da, ihr Gesellschaft zu leisten, wenn nötig, aber wahrscheinlich wäre es das letztlich nicht. Sie wollte tanzen und mit Leuten reden, bis spät bleiben und … bleiben. Die Band spielte den Song zu Ende, und alle klatschten.
«Nun», sagte die Sängerin. «Nun», und sie begannen mit der nächsten Nummer.
Ein junger Mann beugte sich zu ihr herüber. «Gut, nicht?», und Elisabeth wandte sich ihm zu. Er war jung. Mitte, Ende zwanzig. Hinter ihm hob die Barfrau zwei Finger, mimte «jetzt» und deutete auf die Tür.
«Sind Sie Musikerin?», fragte der Junge.
Elisabeth lächelte. «War ich.»
Sie löste sich von ihm – er hatte ihr eine Hand auf den Unterarm gelegt – und machte sich auf den Weg nach draußen.
Dort stand ein Klüngel junger Leute, vier oder fünf Frauen in schwarzen Stiefeln und schmalen Mänteln, die Typen in dicken Jacken und Parkas. Elisabeth stellte sich neben sie an die Ecke. Von dort konnte sie ihre Wohnung sehen; sie hatte Licht gemacht, ehe sie ging, und die Fenster des Wohnzimmers waren rechtwinklige gelbe Flecken im Dunkel, auch aus dem Schlafzimmer oben schien Licht. Die Euphorie von vorhin, von drinnen hielt an, in ihrem Herzen, in ihrem Kopf, nur der Körper streikte plötzlich wieder. Sie musste sich setzen. Eine Bierkiste stand hochkant an der Wand, man hatte mehrere als improvisierte Sitzgelegenheit herausgeschleppt, und drum herum versammelten sich einige Raucher. Sie spürte neben sich Bewegung, die Barfrau; Elisabeth nahm ihren Arm, und sie setzten sich.
«Tja», meinte die junge Frau, und Elisabeth hörte erneut die Sonne in ihrer Stimme und das viele blaue Wasser. Sie kam von weit, weit her. «Da wären wir also.»
Sie zupfte zwei Zigaretten aus ihrer Schachtel, reichte Elisabeth eine und schnickte ihr Feuerzeug auf.
«Wohnen Sie hier in der Gegend?»
«Früher mal.»
Die Müdigkeit war überall, in den Knochen um ihre Augen, in ihren Fingerspitzen, im Gewicht der Zigarette in ihrer Hand. Sie wollte sich am liebsten gleich jetzt, gleich hier an der Straße niederlegen.
«Früher mal?», meinte die Barfrau. «Aber jetzt nicht mehr? Keine schlechte Gegend zum Früher-mal-Wohnen», sagte sie, «schätze ich.» Sie schüttelte den Kopf und zog an ihrer Zigarette. «Kenn ich, das Gefühl von ‹früher mal› …»
Da erreichte sie ein Johlen; die Band beendete einen Set, es gab Applaus und anerkennende Pfiffe.
«Wissen Sie …», hob Elisabeth an, konnte den Satz aber nicht beenden. Dort waren die Fenster ihrer Wohnung, leuchteten im Dunkeln.
«Ja, ich weiß, Honey», sagte die Barfrau. «Ich weiß. Kennen wir alle, oder? Unfassbar, verdammt.» Sie legte den Kopf in den Nacken, hob ihr Gesicht dem Himmel entgegen, dem Mond, als wäre er die Sonne und lasse sie sich wärmen, und Elisabeth tat es ihr gleich, hielt das Gesicht in den Mond, dass er auch sie bescheine. Nur war der Mond hier nicht zu sehen, das hier war London. Sie lebte schon sehr lange.
«Lassen Sie uns noch ein bisschen bleiben», sagte sie, und die junge Barfrau nickte. «Okay, geht klar. Zehn Minuten hab ich schon noch.»
Zehn Minuten reichen mir, denkt Elisabeth jetzt. Sie zeigte auf ihre Wohnung, das Haus, den herrlichen Baum davor. «Ich habe mal genau dort gewohnt», sagte sie zu der Barfrau, zeigte auf die erhellten Fenster, auf den weißen Baum, und wieder durchströmte sie die Euphorie wie eine köstliche Droge. Alles andere konnte warten. Alles, was noch kommen sollte. Die Klinik. Die Musik. Das Telefon und die Anrufe und was alles noch zu erledigen war. Edward zu sagen, dass es keine Tests mehr geben werde, dass damit Schluss sei, dass sie beschlossen habe, den Rest allein zu bewältigen. Zehn Minuten. Die Blüten waren dort in ihrem Baum, sie konnte sie sehen, sie hatten sich zu ihrer Heimkehr wieder eingenistet. Es blieb Zeit noch, bis sie sich zu voller Blüte entfalten, zu Boden sinken und wieder ein Jahr vorbei sein würden. Zeit nun, sagt Elisabeth zu sich im Schlafzimmer, zum weiten Himmel. Denn nun war es, als würden diese selben Blüten sich eine um die andere von den Zweigen lösen und als einziger dichter Schwarm abheben.
Szenario
Vor ein paar Wochen traf ich bei einer Dinnerparty auf meine alte Freundin Clare Revell, und es entspann sich sofort ein Gespräch über Wörter und Gefühle. Am Abend zuvor hatte ich Lars von Triers Film Melancholia gesehen, und ich erzählte Clare, dass mich daran die «fehlende Stringenz» gestört habe – so drückte ich mich aus, ziemlich formelhaft, um das, wie ich meinte, Ungereimte des Films zu charakterisieren, der zwar wirkungsvoll sei, aber geklittert, aus vielen disparaten Teilen zusammengestückelt, lauter Stars, typisierten Figuren, Filmhommagen und so weiter, mit denen der Film wichtigtue und denen die immer gleichen Takte aus Wagners Tristan und Isolde – und zwar die bekanntesten – Tiefe und Geschlossenheit verleihen sollten, wieder und wieder und wieder.
«Das finde ich überhaupt nicht», sagte Clare – und da nahm das Gespräch richtig Fahrt auf: Das finde ich überhaupt nicht. «Warum sollte eine Geschichte nicht collagiert sein?», meinte sie. «Und was heißt schon ‹fehlende Stringenz›? Damit mokierst du dich doch bloß darüber, dass jemand an die Dinge anders herangeht als du, dass dir der Zugang missfällt. Für mein Gefühl ist Melancholia ein ganz großer Film –»
«Dein Gefühl?», sagte ich. «Was habe ich von deinem Gefühl? Verrate mir doch mal, womit der Film das bei dir bewirkt hat – dieses ‹Gefühl›. Ich hätte schon gern einen Grund gehört, weshalb er groß sein soll – nicht bloß so ein olles ‹Gefühl›.»
Da lachte Clare, bleckte die Zähne auf diese hübsche, aufreizende Art, die, glaube ich, Tolstoi in seinem Porträt der kleinen Fürstin in Krieg und Frieden erwähnt, wenn er sie anhand ihres Erscheinungsbilds charakterisiert: «Ihre hübsche Oberlippe … war ein wenig zu kurz für ihre Zähne, doch umso liebreizender war es, wenn sie sich hob», schreibt er. Ich habe ein solches Lächeln stets sehr anziehend und sexy gefunden – verblüffend irgendwie – und spaßig. Daran ist der liebe alte Russe wohl schuld. Und Clare schälte ihre Strickjacke ab und machte es sich auf ihrem Stuhl erst einmal bequem, denn nun wurde es ernst mit der Debatte; wir hatten die Partie eröffnet und würden uns voll und ganz dem Thema in allen Facetten widmen.
Ich sah zu meinem Mann in der Ecke hinüber und musterte auch die anderen Gäste. Alle unterhielten sich angeregt. Keiner würde es bemerken oder sich daran stören, dass Clare und ich uns zu einem eigenen Gespräch über Gefühl und Verstand verstiegen, das bei einer solchen Party eigentlich unangebracht war – einer Cocktailparty im Grunde, aber mit Buffet und Musik, die später vielleicht zum Tanzen verleiten würde – und das alle anderen ausschloss, als rasselte ein Fallgitter herunter, «kein Zutritt» zu unseren hochtrabenden Reden. Ich nahm einen Schluck Wein, und Clare begann.
«Ich muss dir etwas erzählen», sagte sie, «was mir vor Jahren passiert ist, als ich noch studiert habe. Semantik und Philosophie, wie du weißt, Roland Barthes und Irigaray und Deleuze und Guattari rauf und runter. Bücher wie Sprache, Zeichen und der Text – kennst du das?»
Ich schüttelte den Kopf. Ich kannte den Titel, hatte das Buch aber nicht gelesen, also skizzierte Clare kurz den Inhalt, der von «Zeichen und Bezeichnetem» handelte, wie sie sagte, und betonte, wie wichtig es damals für sie gewesen war, dieses Buch, als junge Frau, als sie zu ergründen versuchte, wer sie war, wer sie sein wollte. Daran habe sie unlängst denken müssen, sagte sie, weil sie gerade den neuen Roman von Jeffrey Eugenides gelesen habe, und der beginne mit einer Figur, die ein erhellendes Buch von Barthes lese, Fragmente einer Sprache der Liebe. Tatsächlich sei dieser Hinweis, verriet sie mir, der «Schlüssel» zu Eugenides’ Roman, den sie auch als groß empfinde. Sie habe sogar, sagte sie, dem Autor eine E-Mail geschickt und ihm mitgeteilt, wie sehr ihr sein jüngstes Buch gefallen habe, und er habe gleich «zurückgepingt», um sie wissen zu lassen, wie ihn das freue.
«Und das alles, weil das Buch mit einem Werk von Barthes beginnt», sagte Clare. «Das mich an eine entscheidende Phase in meinem Leben erinnert hat.»
Die eigentliche Geschichte – ich weiß, das habe ich anderswo schon gesagt –, habe, erzählte sie nun (wir hatten uns Wein nachgeschenkt und uns in unserer Ecke eingekuschelt, wie zwei Katzen, fand ich – aber mein Mann verriet mir viel später, bevor wir ins Bett gingen, dass ich während dieser ganzen Episode, während alle ihre Aperitifs zu sich nahmen, auf denkbar vulgäre Art dagesessen sei, mit weit gespreizten Beinen, sodass mir jeder hätte unter den Rock sehen können), ihren Anfang damals vor langer Zeit genommen, als Clare an der London School of Economics Semiotik studierte, und zwar bei einer Frau, die ich hier X nennen will, einer Koryphäe auf ihrem Gebiet und Verfasserin grundlegender und, Clare zufolge, «hochtheoretischer» Schriften zu Bedeutung und Wahrnehmung, Sprache und Körper. «Das waren ungemein hermetische Werke», sagte sie, «die ich verzweifelt lesen und verstehen wollte, weil ich so schrecklich scharf auf sie war.» Sie hielt einen Augenblick inne, dann lachte sie lauthals. «Für mich», sagte sie, «ging es bei den Büchern, der Lektüre … immer nur um Sex und Liebe und Gefühle und den Wunsch, sie möge auch auf mich scharf sein, und keineswegs um die Welt der Wörter oder Ideen!» Sie lachte erneut und zeigte die Zähne. «Ich wollte sie einfach küssen! Es hatte mit Büchern nicht das Geringste zu tun! Und ich kam mir wie eine Schwindlerin vor, weil ich diese viele Theorie doch verstehen und von ihr lernen sollte. Zeichen und Bezeichnetes. Ich sollte ihre Schülerin sein, sie meine Lehrerin – und ich kam mir vor wie eine Hochstaplerin, eine Heuchlerin, weil es eigentlich gar nicht darum ging, was sie mich lehren könnte. Es ging um Körper und Sex.»
«Wow», sagte ich. Sie hatte es so treffend beschrieben. Writing and the Body – lautete der Titel eines Buchs, das ich meinerseits an der Uni gelesen und sehr aufregend gefunden hatte, von Gabriel Josipovici; es behandelte ähnliche Themen. «Ach, deshalb kommst du jetzt nach dem Auftakt mit Melancholia darauf», sagte ich. Ich glaube jedenfalls, dass ich das in dem Moment sagte. Denn wir, Clare und ich, erlebten gerade dieses elektrisierende Gefühl, das man im Gespräch mit jemandem manchmal hat, dass man in Wirklichkeit über vieles gleichzeitig spricht – der Ausgangspunkt war in diesem Fall der Film und wieso wir dazu so ganz unterschiedliche Haltungen einnahmen, woraus sich aber nun dieses ganz anders gelagerte Gespräch ergab über Körper versus Sprache und das, was Clare als Studentin mit einer glamourösen älteren Frau widerfahren war. Und was war ihr widerfahren? Ich war neugierig, versteht ihr, wollte mehr darüber wissen, ob die Gefühle, die jede Reaktion auf was immer begleiten, ob ein Film von Lars von Trier oder die Geschichte, die Clare jetzt erzählte, von Wert und von Interesse waren oder nicht.
Ich saß also mit gespreizten Beinen da, wie mein Mann mir später sagte, und überlegte – während ich aber zugleich an meinem Ideal vom wahren Künstler als kreativen Kopf mit Gesamtkonzept festhielt, einem, mit anderen Worten, der sich nicht auf die berühmten Passagen aus Tristan und Isolde stützen musste – die Passagen, die sowieso alle lieben –, um sein Publikum zu überzeugen, und dass das, was er geschaffen hat, Bedeutung hat und irgendwie zwingend ist, ästhetisch gesehen, gelungen und dem Zweck angemessen, ein Kunstwerk eben.
Und mir gegenüber Clare, das ganze Gegenteil, die mir bei anderer Gelegenheit erzählt hatte – und sie bestand darauf, dass sie das keineswegs postmodern meine –, dass sie bei der Szene in Mary Poppins, wo die alte, gebeugte Frau in der Abenddämmerung erscheint und Mary Poppins dazu «Feed the Birds» singt, unweigerlich weinen müsse. Also ja. Wir waren verschieden, sie und ich. Wir waren grundverschieden, und mich faszinierte, das wurde mir im Laufe unserer Unterhaltung klar, die Rigidität meiner eigenen Ansichten, die mir so langweilig erschienen, irgendwie; ich dort in meinen schwarzen Strumpfhosen und meinen hochhackigen schwarzen Schuhen, meinem kurzen schwarzen Rock – unfassbar! – neben dieser freigeistigen und aufgeschlossenen Intellektuellen mit ihrem rosa Zahnfleisch und ihren weißen Zähnen, die wirklich was zu erzählen hatte … eine Geschichte, in der ein Fluss vorkomme, fuhr sie fort, und eine Brücke und die eisige Luft tiefsten Winters auf ihrer entblößten Haut, an ihrem Hals und ihrem Gesicht und, als erst ihre Bluse aufgeknöpft war, an ihren Brüsten, eine von Kälte belebte Geschichte, Dezember in London, ein klirrend kalter Wind, der über die Themse strich, die «fröstelnde» und «erregende» Stimmung.
Denn sie selbst steckte in der Geschichte, wild und frei. Besessen von dieser außergewöhnlich klingenden älteren Frau und – «Wie war sie denn?», fragte ich Clare immerzu. «Ich meine körperlich? Groß? Blond?»
«Aber ja, alles», kam es von Clare wie aus der Pistole geschossen. «Sie war unglaublich», und sie kehrte immer wieder zu der Feststellung zurück, wie scharf sie auf sie gewesen war. «Ich war unheimlich scharf auf sie», wiederholte sie.
Deshalb kriegte ich nie wirklich ein Bild von X für diesen Text hin, was mir aber, ehrlich gesagt, gefallen hätte, ein Porträt der Frau liefern zu können in der Manier von Henry James’ Figurenzeichnung, die nicht die von Tolstoi ist, sondern verklemmter, die bis ins Kleinste die Moral einer Person umreißt, ehe wir überhaupt von der äußeren Erscheinung etwas erfahren, wie das bei Tolstoi gleich der Fall ist, bei dem wir zuerst von der Erscheinung lesen. Stattdessen bleiben mir bloß das «groß» und «blond» meiner eigenen Formulierung – was X zur Walküre macht, womöglich, um das Wagner-Motiv wieder aufzugreifen, mehr eine Tochter des Gottes Wotan als eine irdische Isolde –, während Clare berichtete, dass sie jede Woche bei dieser Frau im Seminar saß und es natürlich genoss, alles in sich aufsog von Zeichen und Bezeichnetem und dazwischen die Sekundärliteratur verschlang, das Buch von Barthes und dazu Lacan und Foucault und wie sie alle heißen, und das alles, weil sie in diese X verknallt war und das die einzige Art und Weise war, wie sie sich X nähern konnte, indem sie die Bücher las, die X gelesen und über die sie geschrieben hatte.
«Schließlich», sagte Clare, «nach alledem, den ganzen Seminaren und den Signalen – denn ich wusste, sie flirtet mit mir, benutzt die Bücher, ihre Texte, um mich anzumachen –, schließlich also …» Und dann glaubte ich, Clare sagen zu hören: «War uns ein gemeinsamer Tag vergönnt.»
Schließlich war uns ein gemeinsamer Tag vergönnt.
Das glaubte ich wenigstens, gehört zu haben. Wie die Geschichte dann weiterging, steht und fällt damit, dass ich sie genauso wiedergebe – getreu, aber mit einem Schuss Drama und Dénouement –, wie von Clare berichtet, mit diesem «schließlich» als Wendepunkt, versteht ihr. Schließlich war uns ein gemeinsamer Tag vergönnt.
Clare weiß, dass sie an diesem Tag gut aussah. Sie trug eine Lederjacke und eines ihrer Lieblingshemden. «Das war von ‹Flip›», das immerhin gebe ich richtig wieder. «Aus erstklassiger Baumwolle», sagte sie. Als ich sie später nach Einzelheiten fragte – als wir darauf zu sprechen kamen, wie wichtig das Gefühl der Kleidung sei, die wir auf der Haut tragen, dieser innersten Schicht, und wie sich das anfühlt, wenn du mit jemandem bist, auf den oder die du scharf bist, wie dir jedes kleinste Detail in Erinnerung bleibt –, meinte sie, es sei ein hellblaues Hemd mit feinem gelben Streifen gewesen, «feingestreift», sagte Clare und hielt Daumen und Zeigefinger aneinander, um zu zeigen, wie fein. «Ziemlich preppy –»
«Ein Connecticut-Hemd», meinte ich. «Wie sie die Jungs dort an der Ostküste tragen.»
«Ja», sagte Clare. «Und es war, wie gesagt, aus erstklassiger Baumwolle, und ich wusste, ich sehe darin toll aus. Ich wusste, ich sehe umwerfend aus.»
Da ist sie also schließlich, ich wiederhole es noch mal. So gestylt – und alles «verboten». Clare benutzte das Wort mehrfach. «Es war verboten», sagte sie. Dass sie einen Tag zusammen verbrachten, sich davonstahlen, einen ganzen Tag, erst zum Lunch irgendwo in Soho und dann durch ganz London zogen, sie beide, während des Semesters und allein zu zweit … Und sie waren auf der Westminster Bridge gelandet, küssten sich in der Kälte, beißend kalt auf Clares entblößter Haut, denn diese Frau hatte ihr das Hemd direkt dort auf der Brücke aufgeknöpft, hatte das hellblaue Hemd mit dem feinen gelben Streifen unter der Lederjacke aufgeknöpft, um beim Küssen ihre Brüste berühren zu können. Dezember, und über die Themse säuselte ein kalter Wind, und da waren sie, diese zwei Frauen, eine jüngere in Lederjacke und ziemlich toll klingendem Männerhemd, und eine weltgewandte und – soll ich sagen prächtige? – ältere Frau. (Ich will, dass sie prächtig ist, also bleibt es so), eine schöne, stattliche ältere Frau, ihre Lehrerin. Ja, «groß» und «blond», und sie küssten sich, sie konnten gar nicht mehr aufhören, und X schob die Hand unter das Männerhemd, und «befingerte mich, sie hat mich befingert!», sagte Clare.
Sie griff sich eine Faustvoll Sojanüsse aus der Schale vor uns und mampfte sie weg. Ich sah das wunderbar wilde rosa Zahnfleisch blitzen, die weißen Zähne. Sie lachte, und ich lachte. Wir lachten beide.
«Verstehst du?», sagte Clare. «Es war verboten! Ich hätte nicht in der Weise mit meiner Lehrerin zusammen sein dürfen, sie hätte das nicht tun dürfen. Sie war die Seminarleiterin, und ich fand es toll, sie zu küssen und von ihr geküsst und befummelt zu werden. Ich war in sie verknallt, ich wollte mit ihr durchbrennen … und das alles auf der Westminster Bridge in der Kälte, im Dezember, wir küssten uns, wir waren ganz wild, und dann ließ sie plötzlich von mir ab», sagte Clare. «Sie ließ von mir ab und fragte: ‹Liest du die Feminist Review?›»
«Bitte?», sagte ich. Und dann: «Wow.»
«Ich weiß», sagte Clare. «‹Liest du die Feminist Review?›»
«Die kenne ich nicht einmal», sagte ich. «Oder habe sie jedenfalls nie gelesen. Davon gehört schon, aber –»
«Ich weiß», wiederholte Clare. «Ich hatte sie auch nicht gelesen – aber das konnte ich ihr natürlich schlecht sagen …»
«Und?», meinte ich. «Was hast du gemacht?»
«Na ja, ich habe yeah gemurmelt», sagte Clare. «Yeah, habe ich gesagt, ein bisschen. Ich kenne die Feminist Review.»
«Und dann?»
«Dann sagte sie zu mir – und du musst bedenken, es war eiskalt, mein Gesicht, meine Haut, das Hemd noch offen, die Jacke, da in der Dezemberluft –»
«Und unter euch der Fluss …», sagte ich.
«Klar, der Fluss. Und es war vielleicht kalt. Aasig kalt, und eben noch hatten wir uns geküsst und hatte sie mich befummelt und dann – pass auf. Das ist der Teil der Geschichte, auf den ich hinauswollte – sagt sie zu mir, nachdem ich gemeint hatte, yeah, ich kenne die Feminist Review, sagt sie: Und meinst du, das hier könnte ein Szenario sein?»
«Ha!», rief ich.
«Ich weiß!», meinte Clare.
«Wie ist denn das zu verstehen?», sagte ich.
«Genau das habe ich auch gedacht! Was soll das sein: ein Szenario?» Clare griff erneut in die Sojanüsse und kaute und knackte und schluckte so hastig, als wären hungernde Horden hinter ihr her.
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