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2. Framesemantik

Wenn man die Bedeutung eines unbekannten Wortes wissen will, schlägt man, so denn möglich, in einem Wörterbuch nach. Das ausführlichste altnordisch-deutsche Wörterbuch stammt von Baetke (2002). Es erwähnt beispielsweise für das Lemma lesa vier Bedeutungen, aufgeführt mit entsprechenden Zitaten aus der Prosaliteratur, die hier weggelassen werden: „1. zusammen-, auflesen, sammeln“, „2. (er-)greifen, nehmen“, „3. Figuren einweben od. sticken“, „4. lesen, verlesen“. Für die vierte Bedeutung, welche für diese Arbeit von besonderem Interesse ist, führt Baetke (2002: 376) jedoch keine Belege aus der Prosaliteratur an. Für das Verstehen oder Übersetzen des Lemmas lesa stellen sich zwei Fragen: 1. In welchem Kontext trifft welche Bedeutung zu? 2. Was ist mit „lesen, verlesen“ eigentlich gemeint? Noch knapper verhält es sich mit dem Lemma rita, für das Baetke (2002: 503) keine Zitate darlegt und die Bedeutungen „schreiben, aufzeichnen, berichten“ anführt. Zusätzlich nennt er die Konstruktion rita til e-s mit der Bedeutung „an jmd. schreiben“, welche immerhin anhand der Valenz unterschieden werden kann. Hier stellt sich wieder die Frage nach dem Konzept SCHREIBEN. Forschungsarbeiten in den letzten Jahrzehnten ergaben, dass sich die mittelalterliche und die heutige Schriftkultur deutlich unterscheiden (vgl. Kap. II.1. und III.1.), so dass sich das heutige Konzept SCHREIBEN nicht ohne weiteres auf das historische Konzept übertragen lässt.

Diese Problematik des Bedeutungswandels diskutiert Lobenstein-Reichmann (2002: 74f., 79) anhand des Beispiels leben im Frühneuhochdeutschen und Neuhochdeutschen: Die Bedeutungen in beiden Sprachperioden sind zwar ähnlich, aber in der Frühen Neuzeit spielen moralische Kriterien und die soziale Ordnung beim Leben eine grössere Rolle, während heutzutage Genuss und materielle Ausstattung im Vordergrund stehen. Diese schärfere Analyse der Bedeutung wird durch Einbeziehen der syntagmatischen Relationen, besonders durch Betrachtung der Begriffsgefüge, erreicht. Gerade diese syntagmatischen Relationen fehlen in Baetke (2002), sodass die Übersetzungen ‚lesen‘ und ‚schreiben‘ für lesa und rita in die Irre führen können, da sich die Konzepte LESEN und SCHREIBEN im mittelalterlichen Island von den heutigen deutlich unterschieden.

Die Bedeutung des betreffenden Lexems hängt also vom Kontext ab, einerseits von einem aussersprachlichen Kontext, der mittelalterlichen Schriftkultur, und andererseits vom innersprachlichen Kontext, den syntagmatischen Relationen, die gerade beim Verstehen von polysemen Lexemen wie lesa entscheidend sind, was die Kollokationen lesa bók ‚Buch lesen‘ und lesa ber ‚Beeren lesen‘ beispielhaft verdeutlichen. Die Bedeutung muss deshalb auch im Kontext des Lexems analysiert werden. Aber wie analysiert man die Bedeutung im Kontext? Hier muss zunächst die Frage geklärt werden, was mit Bedeutung und Kontext überhaupt gemeint ist. Die Bedeutung ist der Inhalt des sprachlichen Zeichens, welcher sich auf einen tatsächlichen Referenten bezieht. Den Bezug vom Zeichen zum Referenten stellt der Zeichenbenützer her. Dieses semiotische Dreieck übersieht aber ein wichtiges Zwischenglied, das Konzept. Das in der Romanistik verwendete semiotische Fünfeck wird diesen Tatsachen gerechter: Zwei Ecken liegen auf einer aktuellen/konkreten Ebene: 1. das tatsächliche Zeichen und 5. der tatsächliche Referent, während drei Ecken sich auf einer virtuellen/abstrakten Ebene befinden: 2. die lexikalische Form des Zeichens im sprachlichen System, bestehend aus Phonemen oder Graphemen, 3. der Zeicheninhalt – beide gehören zum Lexem – und 4. das Konzept. Das aktuelle/konkrete Zeichen ist mit dem Lexem verbunden und der Referent mit dem Konzept (vgl. Glessgen 2011: 422–426).

Übertragen auf eine historische Sprachstufe entspräche die erste Ecke, das aktuelle/konkrete Zeichen, dem schriftlichen Beleg, die zweite der lexikalischen Form, welche als Lemma in einem Wörterbuch existiert, die dritte und vierte der Bedeutung bzw. dem Konzept, welche in den Wörterbüchern nicht klar unterschieden und relativ knapp und nicht immer harmonisch dargestellt werden, und die fünfte einem tatsächlicher Referenten, der Jahrhunderte später nur in Ausnahmefällen auch noch tatsächlich vorliegt. Gerade die dritte und vierte sind für historische Wissenschaften entscheidend. Dabei stellt sich die Frage, was den Unterschied zwischen Bedeutung und Konzept eigentlich ausmacht. Laut Glessgen (2011: 450–456) sind beide Begriffe grundsätzlich identisch und können neurologisch nicht unterschieden werden. Die Bedeutung lässt sich lediglich durch den syntagmatischen Kontext (Kollokation), die diasystematischen Merkmale (Konnotation) und die morphologische Struktur des Lexems (Flexion) vom Konzept abgrenzen. Unabhängig vom Sprachsystem sind die Konzepte jedoch soziokulturell und historisch verschieden. Das Konzept BUCH äussert sich beispielsweise in der Antike als eine von Hand beschriebene Rolle aus Papyrus, im Mittelalter als ein von Hand beschriebener Kodex aus Pergament und in der Neuzeit als ein gedruckter Kodex aus Papier. Die hier angeführten Konzepte beschränken sich jedoch lediglich auf das materielle Objekt, wie es aus den jeweiligen Epochen erhalten ist, lassen aber beispielsweise Gebrauch, Inhalt oder kulturelle Bedeutung aus. Wie erhält man nun Zugang zu mittelalterlichen Konzepten und Bedeutungen, welche u.a. über die Materialität hinausgehen? Mit dieser Problematik beschäftigen sich drei jüngere Untersuchungen mit unterschiedlichen Lösungsansätzen, die im Folgenden besprochen werden:

Lenerz (2006) zeigt erstens, dass bei jedem Lexem abhängig vom Kontext diverse konzeptuelle Verschiebungen auftreten. Zum Beispiel hat nhd. Buch verschiedene Konzepte wie das Buch als physisches Objekt, Handelsware, oder Text. Diese konzeptuellen Unterschiede erklären beispielsweise, dass mittelalterliche Texttermini mit modernen Konzepten in der Regel nicht übereinstimmen und den Umgang gerade in der Mediävistik erschweren. Lenerz untersucht diese Unterschiede am Beispiel des mittelhochdeutschen Lexems mære. Je nach Kontext kommen verschiedene Konzepte zum Zuge, die alle zur Bedeutung von mære beitragen. Die Bedeutung des Lexems bewegt sich dabei zwischen Geschichte und Ereignis, Stoff und Erzähltext, Erzähltradition und Quelle. Daneben gibt es metonymische Verschiebungen zum Geschehenen, Ereignis oder zur Mitteilung oder dem Mitteilen (vgl. Lenerz 2006: 41f.). Lenerz geht aber nicht näher darauf ein, wovon genau diese konzeptuellen Verschiebungen abhängen, insbesondere nicht von welchen syntagmatischen Relationen, obwohl er den Kontext erwähnt. Es wird auch nicht deutlich, ob die Bedeutungsebenen konventionell oder nicht-konventionell sind. Lenerz (2006: 38) verlässt sich dabei auf ein „Sprachgefühl“, welches sowohl in der Hermeneutik als auch in der Linguistik angewandt wird. Diesbezüglich muss aber beachtet werden, dass dieses Sprachgefühl in der Muttersprache sicher verwendbar ist, und auch in einer Fremdsprache, wenn die Kompetenz genug hoch ist. Schwieriger verhält es sich mit einer historischen Sprachstufe, die keine Sprecher mehr hat, welche als Korrekturinstanz fungieren könnten. Ein solches Sprachgefühl basiert auf der Kenntnis des Korpus, der Wörterbücher und der Grammatik, und muss keineswegs zu falschen Schlüssen führen. Dass dies aber bei einer unreflektierten Herangehensweise häufig doch geschieht und fatale Fehlinterpretationen nach sich zieht, demonstriert Lobenstein-Reichmann (2011: 69f.) am Beispiel von nhd. Leidenschaft. Dieses Lexem ist erst seit dem 17. Jahrhundert belegt. Das neuhochdeutsche Konzept LEIDENSCHAFT wird aber auf andere Sprachen bis in die Antike übertragen, ohne zu reflektieren, dass sich die jeweiligen Konzepte grundsätzlich unterscheiden.

Wesentlich transparenter ist die zweite Analyse des afrz. aventure von Lebsanft (2006). Er vergleicht diverse Kollokationen dieses Lexems in einem Korpus und arbeitet verschiedene Bedeutungen heraus, welche von den jeweiligen syntagmatischen Relationen des Lexems abhängen. Bedeutungskern ist „etwas Aussergewöhnliches, das jemandem unwillentlich widerfährt“, also eine Begebenheit oder ein Ereignis. Dass diese berichtenswert sind, zeigen Belege mit Verben des Hörens und des Sagens mit aventure als Akkusativobjekt (vgl. Lebsanft 2006: 316f.). Als Subjekt des Verbs mener bekommt es die Bedeutung ‚Zufall‘, mit den Adjektiven bone und male die Bedeutung ‚Glück‘ bzw. ‚Unglück‘. Abhängig von der syntagmatischen Relation kann auch ein Tausch der thematischen Rollen stattfinden. Beim Verb avenir ist aventure als Agens im Subjekt und das Dativobjekt ist der Experiencer, bei den Verben aler querre und trover fungiert es als Thema im Akkusativobjekt und das Subjekt ist Agens (vgl. Lebsanft 2006: 329). Lebsanft (2006: 336) stellt mit dieser Methode insgesamt acht verschiedene Bedeutungen für aventure fest. Seine Methode liesse sich ebenso gut auf das obenerwähnte Lexem nhd. Buch anwenden. Ein Adjektiv schwer verweist beispielsweise auf das Buch als physisches Objekt, ein Verb kosten auf das Buch als Handelsware oder lesen auf das Buch als Text. Lebsanfts syntaktische Analyse mittels der Valenz und der thematischen Rollen zeigt, dass sowohl auf der Ausdrucksseite als auch auf der Inhaltsseite eine Struktur existiert.

Die dritte der hier vorgestellten Untersuchungen von Braun (2016) beschäftigt sich eingehender mit der Struktur der Inhaltsseite für das Verb bitten in althochdeutschen Gebeten und wendet dazu das Prinzip eines kognitiven Frames an, um die Valenz des Verbs „vor dem Hintergrund des textuellen Gesamtbildes“ zu analysieren. Braun (2016: 98) postuliert hierfür einen Frame A bittet B um D, also ein Betender (A), welcher eine höhere Instanz (B) um etwas (D) bittet. Dieser Frame erweitert sich aber in Otlohs Gebet um die Stellen für C (Personen, für die gebetet wird) und mittels E (legitimierendes Wirkmittel). Beim Augsburger Gebet fallen A und C hingegen zusammen (vgl. Braun 2016: 103–105). Braun geht in seiner Analyse somit noch tiefer auf die Inhaltsseite als Lebsanft (2006) ein, indem er das Konzept mithilfe eines kognitiven Frames strukturiert.

Die drei aufgeführten Untersuchungen zeigen zum einen, dass das Lexem nicht auf ein Konzept reduziert werden kann, und zum anderen, dass die verschiedenen Konzepte vom Kontext abhängen. Diese Abhängigkeit äussert sich einerseits in den syntagmatischen Relationen, welche die Valenz und Kollokationen auf der Ausdrucksseite umfassen. Andererseits gibt es auch auf der Inhaltsseite eine Struktur, den kognitiven Frame. Genau bei dieser Schnittstelle zwischen Valenz und Frame soll die vorliegende Arbeit ansetzen.

Lange vor dem Aufkommen der Framesemantik beschäftigte sich Porzig (1934/1973) mit syntagmatischen Relationen, welche er „wesenhafte Bedeutungsbeziehungen“ nennt. Während der Hochphase des Strukturalismus fanden diese im Gegensatz zu den paradigmatischen Relationen, welche das Wortfeld konstituieren, lange Zeit keine Beachtung (vgl. Geeraerts 2010: 57f.). Porzig (1934/1973: 82) stellt beispielweise fest, dass die Ergänzung eines Verbs zu seinem Begriff nicht etwas Neues hinzubringt. Die Bewegungsverben fahren, reiten, gehen unterscheiden sich beispielsweise in der Art der Fortbewegung mit Fahrzeug (fahren), Reittier (reiten) oder ohne Hilfsmittel (gehen). Das Fortbewegungsmittel bleibt implizit, kann aber explizit als Ergänzung vorkommen (z.B. Ich reite auf einem Pferd, vgl. Porzig 1934/1973: 82f.). Zu diesen simplen Beispielen erwähnt Porzig aber auch einen komplizierteren Fall, der für diese Arbeit besonders interessant und inspirierend ist, das Verb schreiben:

Man muß sich nur einmal klar machen, welch einer complicierten situation ein wort wie schreiben entspricht. Nicht nur der schreibende mensch, die schreibende hand, das schreibwerkzeug und das schreibmaterial stecken darin, sondern auch, daß die geschriebenen zeichen sinnvoll sein und daß sie sprache repräsentieren müssen. Eine anscheinend unwesentliche änderung der situation, das aufkommen eines stärker abweichenden schreibwerkzeuges, bringt unruhe in das elementare bedeutungsfeld: noch ist es nicht entschieden, ob schreiben in seine unmittelbare bedeutung auch die schreibmaschine aufnimmt, oder ob sich ein neues verbum durchsetzt (Porzig 1934/1973: 83).

Die einzelnen Elemente dieser „komplizierten Situation“ lassen sich alle als Ergänzung des Verbs schreiben ausdrücken, wie beispielsweise im folgenden Satz: Der Mensch schreibt mit der linken Hand mit einem Bleistift auf Papier. Es wird nicht ganz klar, was Porzig mit Sprache meint, ein bestimmtes Sprachsystem (langue) oder das in einer Sprache Gesprochene (parole), welches die Schriftzeichen sinnvoll repräsentieren müssen. Beim Schreiben spielt beides eine Rolle und kann ebenfalls als Ergänzung des Verbs auftreten. Das Gesprochene bzw. Gedachte erscheint im Akkusativobjekt, z.B. als Laut, Wort, Satz, Text, und das Sprachsystem als Adjektiv oder als Präpositionalobjekt, z.B. auf Deutsch. Die in der Bedeutung eines Lexems enthaltenen Elemente können also als Ergänzung des Lexems auftreten. Porzig erklärt allerdings nicht, wann und warum solche Elemente explizit vorkommen.

Der von Porzig angesprochene technische Wandel zur Schreibmaschine ist ebenfalls einer näheren Betrachtung wert, weil er entweder einen lexikalischen oder semantischen Wandel nach sich zieht. Aus heutiger Warte kann man bestätigen, dass nur ein semantischer Wandel stattgefunden hat, davon sogar mehrere, denn auf das Schreibwerkzeug Schreibmaschine folgten Computer, Smartphones, Tablets u.ä. Die aussersprachliche Welt wirkt also auf das Konzept des Lexems ein; wenn diese einem Wandel unterworfen ist, verändert sich auch das Konzept und damit entweder die Bedeutung des Lexems oder das Lexem selbst. Dies gilt auch für das mittelalterliche Schreiben, das sich in fast allen von Porzig angeführten Aspekten vom heutigen Schreiben unterscheidet: im Schreibwerkzeug, im Schreibmaterial und in der Sprache. Übersetzt man also einen altnordischen Satz hann ritaði mit Hilfe von Baetke (2002: 503), lautet das Ergebnis zwar er schrieb, jedoch unterscheidet sich das Konzept SCHREIBEN im Mittelalter vom heutigen grundlegend.

Die von Porzig zur Analyse herangezogenen syntagmatischen Relationen drücken also aus, was bereits in der Bedeutung bzw. im Konzept enthalten ist. Ein Modell, welches auf diesen Relationen die Bedeutung aufbaut, ist die Framesemantik von Charles J. Fillmore, welche auch Braun (2016) verwendet. Unter Frame versteht Fillmore (1982/2006: 373) ein System von Konzepten, das man als Ganzes kennen muss, um die einzelnen Konzepte zu verstehen. Auf ihn gehen bereits die thematischen Rollen zurück, welche er Tiefenkasus nennt. Diese Tiefenkasus werden je nach Verb und Diathese in der Oberflächenstruktur je nach Sprachsystem als unterschiedliche Kasus realisiert. So ist beim Verb geben der Empfänger im Dativ und beim Verb erhalten im Nominativ. Bei den Diathesen Aktiv und Passiv werden Agens und Patiens bzw. Thema unterschiedlich als Subjekt und Objekt realisiert. Die thematischen Rollen können allerdings nichts über den Bedeutungsunterschied zweier Verben, wie zum Beispiel geben und senden aussagen, obschon die Valenzen und die thematischen Rollen dieser Verben identisch sind. Fillmore entwickelt deshalb dieses Modell weiter, indem er der syntaktischen Valenz mit Aktanten/Ergänzungen/Argumenten auf der Ausdrucksseite eine ,semantische Valenz‘ („‚semantic valence‘“) mit Rollen/Stellen auf der Inhaltsseite gegenüberstellt. Beispielsweise haben Verben des Urteilens wie blame, accuse, criticize immer eine Person, welche das Urteil fällt (judge), eine Person, deren Verhalten zu einer Verurteilung führt (defendant) und eine Situation, welche zur Verurteilung der Person führt (situation) (vgl. Fillmore 1982/2006: 377f.). Dieses Modell entwickelt er im Kaufhandlungsereignisframe weiter, das immer aus den vier Rollen KÄUFER, VERKÄUFER, WARE und GELD besteht (vgl. Busse 2009: 85). Die zu diesem Frame gehörigen Verben geben lediglich unterschiedliche Perspektiven. Das Verb kaufen lenkt sie auf den KÄUFER (Subjekt) und die WARE (Akkusativobjekt), während VERKÄUFER und GELD Leerstellen bilden. Die Bedingungen für ein Kaufhandlungsereignis sind allerdings nicht erfüllt, wenn kein VERKÄUFER oder GELD vorkommen. Andere Verben geben Perspektiven auf andere Rollen wie beispielsweise verkaufen auf VERKÄUFER (Subjekt) und WARE (Akkusativobjekt) oder bezahlen auf KÄUFER (Subjekt), VERKÄUFER (Dativobjekt) und GELD (Akkusativobjekt). Die zu diesem Frame gehörigen englischen Verben buy, sell, charge, spend, pay und cost können fast alle Stellen als Ergänzungen (Subjekt, direktes und indirektes Objekt oder Präpositionalobjekt) ausdrücken; vereinzelt gibt es auch eine Leerstelle (vgl. Fillmore/Atkins 1992: 79). Obwohl fast alle Stellen des Frames als Ergänzung ausgedrückt werden können, bleiben gewisse optional wie die beiden Präpositionalobjekte im Beispiel John bought the sandwich from Henry for three Dollars (vgl. Fillmore 1977: 64f.). Gewisse Teile des Frames sind also Leerstellen auf der Ausdrucksseite, während andere Füllungen sind. Jedes zu diesem Frame gehörende Verb gibt ohne seine optionalen Ergänzungen eine andere Perspektive auf bestimmte Stellen. Das Wort kann aber nur über den vollständigen Frame verstanden werden, den es evoziert und der seine Bedeutung strukturiert (vgl. Fillmore 1982/2006: 378). Das Set von Ergänzungen kann auch das Problem der Polysemie zu einem weiten Grad lösen. Dies demonstrieren Fillmore/Atkins (1992: 81–84) am englischen Lexem risk (als Verb und Nomen), dessen Frame aus zwölf Kategorien besteht: actor, victim, valued objekt, (risky) situation (Lokalpräpositionen in, on), deed (by/in + Gerundium, Infinitiv), actor, intended gain (for), purpose (Infinitiv, Finalsatz), beneficiary (for) und motivation (for). Das Verb hat sieben Bedeutungen (senses), die mithilfe der Valenz unterschieden werden können. Das Subjekt ist entweder durch actor oder victim besetzt und das direkte Objekt durch harm, deed oder valued object. Die übrigen Kategorien können optional als Präpositionalobjekte (intended gain, beneficiary, motivation mit for, risky situation mit Lokalpräpositionen) oder Infinitive (purpose) vorkommen (vgl. Fillmore/Atkins 1992: 81–84, 99f.). Auf welche Kategorie bzw. Stelle des Frames das direkte Objekt oder die Präposition for genau referiert erklären Fillmore/Atkins (1992) jedoch nicht.

Eine noch feinere Analyse führen Fillmore/Atkins (2000: 91–95, 99) am Verb crawl durch und demonstrieren, wie mithilfe eines Korpus und der Framesemantik die Polysemie des Lexems nicht nur analysiert, sondern auch strukturiert werden kann. Auf dieser Basis lassen sich auch Bedeutungsverschiebungen erklären. Der Vergleich verschiedener Wörterbücher ergab für crawl drei bis sechs verschiedene Bedeutungen, die Kollationierung der verschiedenen Bedeutungen neun Resultate. Diese sind einerseits abhängig vom Subjekt, ob es sich um Menschen (im Besonderen um ein Baby), Tier (im Besonderen Insekt, Krabbe, Schlange, Wurm) oder einen Ort (im Besonderen die Haut) handelt. Daneben spielen Angaben wie die Richtung oder Präpositionalobjekte als Ergänzungen in zwei Fällen eine Rolle, beim Kriechen als unterwürfiges, schmeichlerisches Gebaren eines Menschen mit for und beim Wimmeln von einer Menge auf einer Fläche mit with. Die verschiedenen Bedeutungen lassen sich als Netzwerk darstellen, mit dem prototypischen Kriechen von Mensch und Tier im Zentrum und den verschiedenen peripheren taxonomischen, metonymischen und metaphorischen Verschiebungen (vgl. Fillmore/Atkins 2000: 103). Der Frame besteht hier aus den folgenden Elementen: mover, area, path, source, goal, distance, manner und speed (vgl. Fillmore/Atkins 2000: 109). Die jeweiligen Bedeutungsverschiebungen lassen sich durch diese Elemente erklären: Die Langsamkeit der Bewegung wird beispielsweise auf den Verkehr übertragen, die Art und Weise auf das unterwürfige Verhalten.

Fillmore (1977: 64f.) widmet sich auch dem Begriff SCHREIBEN, indem er das englische Verb write mit dem japanischen kaku vergleicht, welches dem englischen semantisch weitgehend entspricht, wobei Fillmore das japanische mit somebody guiding a pointed trace-leaving implement accross a surface (Fillmore 1977: 64f.) übersetzt. Das Ergebnis der Handlung im Japanischen kann also nicht nur Schrift, sondern auch eine Skizze oder ein Kreis sein. Das weite Spektrum des englischen write zeigt sich in diversen Ergänzungen: on something, with something, in a language, to somebody, welche wieder an Porzigs (1934/1977: 83) Definition mit den Elementen Sprache, Schreibwerkzeug etc. erinnern. Mit Fillmores Frame kann jedoch das von Porzig beschriebene schreiben viel systematischer analysiert werden. Agens ist beispielsweise der schreibende Mensch (ich schreibe), Thema die Sprache oder die Zeichen (Buchstaben, Sätze, eine Geschichte), Instrument sind Hand und Schreibwerkzeug (mit der rechten Hand, mit dem Bleistift), das Schreibmaterial ist der Ort (auf Papier). Diese Stellen des Frames sind aber meistens Leerstellen. Da die Lexeme in den Füllungen wieder neue Frames evozieren, können die Leerstellen teilweise anhand derer gefüllt werden. Wenn ich eine Postkarte schreibe, sind Schreibmaterial, Schreibwerkzeug und Textsorte schon weitgehend vorgegeben. An diesem Punkt stösst Fillmores Modell allerdings an seine Grenzen, weil es diese Beziehungen nicht integriert.

Für die Analyse solcher Beziehungen ist die Frametheorie des Kognitionspsychologen Laurence W. Barsalou (1992a, 1992b) besser geeignet, die nicht auf der Syntax, sondern auf der menschlichen Kognition aufbaut, wobei sie die Strukturen auf der Ausdrucksseite der Sprache kaum beachtet. Barsalous Frame strukturiert das Konzept (vgl. Barsalou 1992a: 61), das aus den deskriptiven Informationen besteht, welche man für eine Kategorie kognitiv repräsentiert, und der Intension oder Bedeutung entspricht. Das Konzept lässt sich in Attribute und Werte unterteilen. Das Attribut beschreibt einen Aspekt zumindest einiger Mitglieder einer Kategorie. Die Werte sind wiederum einem Attribut untergeordnete Konzepte. Dies kann ad infinitum betrieben werden, weil die Werte selbst wieder ihre eigenen Konzepte mit Attributen und Werten haben, was bei der Analyse eine gewisse Gefahr mit sich führt. Barsalou (1992a: 29f.) bringt dies in folgendem Satz auf den Punkt: „It is important to remember that constructing a complete conceptual frame for a single category is a challenging and sobering experience.“

Barsalous Frame lässt sich gut am Verb buy veranschaulichen, welches einerseits zu Fillmores Kaufhandlungsereignis gehört und Barsalou andererseits selbst als Beispiel verwendet. Er strukturiert den Frame in vier Attribute (payment, buyer, seller und merchandise), die sich in der Nomenklatur nur geringfügig von Fillmores Stellen (buyer, seller, goods und money) unterscheiden. Das Attribut payment beispielsweise hat verschiedene Werte für die Bezahlungsarten (cash, check und credit card, vgl. Barsalou 1992b: 159) und ist umfassender als Fillmores money. Die Attribute sind einer Systematik unterworfen, so dass bei einem Frame immer wieder die gleichen Attribute vorkommen und den Kern des Frames bilden, ohne den das Konzept nicht verstanden werden kann (vgl. Barsalou 1992a: 34f.). Wenn der Wert eines Attributs nicht bekannt ist, werden Defaultwerte inferiert (vgl. Barsalou 1992a: 49). Diese ergeben sich aus einem stereotypen Konzept, beispielsweise das Bezahlen mit Bargeld.

Zwischen den Attributen und Werten bestehen verschiedene Relationen. Die Attribute sind einerseits durch strukturelle Invarianten (structural invariants) verbunden (vgl. Barsalou 1992a: 35–37). Sie werden beispielsweise durch verschiedene Verben des Kaufframes beschrieben: verkaufen zwischen VERKÄUFER und WARE, bezahlen zwischen KÄUFER und WARE, kosten zwischen WARE und BEZAHLUNG und entsprechen weitgehend Fillmores Perspektiven, welche von der Ausdrucksseite her betrachtet verschiedene Attribute beleuchten. Eine weitere Art der Relation sind Beschränkungen (constraints), welchen Attribute und Werte unterworfen sind. Die Attributbeschränkungen (attribute constraints) sind allgemeinen Regeln unterworfen. Barsalou (1992a: 37–40) erklärt sie anhand des Ferienframes, in dem beispielsweise REISEDAUER und -GESCHWINDIGKEIT einander beschränken, weil eine höhere REISEGESCHWINDIGKEIT eine kürzere -DAUER zur Folge hat. Die Wertbeschränkungen (value constraints) sind hingegen spezifischer: wenn zum Beispiel für das Attribut VERKÄUFER der Wert Bäcker zutrifft, werden die Werte des Attributs Ware auf Backwaren eingeschränkt. Durch die Constraints können Werte eines Attributs über ein anderes inferiert werden und sind deshalb entscheidend für das Verstehen des Konzepts.

Obwohl Barsalou sich hauptsächlich auf die Inhaltsseite konzentriert, bezieht er vereinzelt die Ausdrucksseite bei der conceptual combination mit ein, d.h. die Kombination zweier Konzepte. Das Adjektiv in der Nominalphrase red bird ist eine Füllung mit einem Wert für das Attribut FARBE. Das Adjektiv kann darauf hinweisen, dass die Farbe des Vogels vom Prototyp abweicht. Der Modifikator des Kompositums appartment dog enthält einen Wert für das Attribut LEBENSRAUM/AUFENTHALTSORT des Kopfes. Diese beiden Beispiele zeigen zum einen, dass zwei Konzepte aufeinander einwirken, und zum anderen, dass die Strukturen des Barsalou-Frames auf der Ausdrucksseite vorkommen, auch wenn sie nicht über die Nominalphrase hinausgehen.

Barsalou geht das Konzept somit von der Inhaltsseite, Fillmore von der Ausdrucksseite her an. Diese Zugänge widerspiegeln sich auch in den Modellen, welche jeweils auf der einen Seite ihre Stärken haben. Wie das Beispiel des Kaufframes gezeigt hat, lassen sich aber beide Modelle verbinden und ihre Qualitäten nutzen, Fillmores Beziehungen von Frame und Valenz einerseits und Barsalous Beziehungen innerhalb des Frames andererseits. Fillmores Rollen bzw. Stellen stimmen mit Barsalous Attributen überein. Dies soll hier wieder auf das Beispiel schreiben übertragen werden: Das Attribut HAND hat drei Werte links, rechts oder beide, das Attribut SCHREIBWERKZEUG zahlreiche Werte wie Bleistift, Kreide, Computertastatur, genauso das Attribut SCHREIBMATERIAL mit Werten wie Papier, Schiefertafel, Computerbildschirm. Zwischen den Attributen bestehen folgende strukturelle Invarianten: Die HAND führt das SCHREIBWERKZEUG, welches das SCHREIBMATERIAL beschreibt. Die strukturellen Invarianten wiedergeben zudem die verschiedenen Konzepte des Schreibens wie das Bilden von Schriftzeichen, das Auftragen von Schriftzeichen auf einen Schriftträger, das Konzipieren eines Textes.

Weiter lassen sich diverse Constraints feststellen: Wenn der MENSCH Linkshänder ist, hat das Attribut HAND den Wert links. Wenn das Attribut SCHREIBWERKZEUG den Wert Bleistift hat, ist ein Wert Papier für das Attribut SCHREIBMATERIAL zu erwarten.

Die bisher besprochenen Modelle beschreiben die syntagmatischen Relationen auf verschiedenen Ebenen und aus verschiedenen Perspektiven. Sie setzen diese auch zu einem gewissen Grad mit dem Konzept in Beziehung. Dennoch schafft es keines die konzeptuellen und syntaktischen Strukturen gesamthaft zu betrachten. Dies soll nun im Folgenden herausgearbeitet werden. Den Weg gibt das semiotische Fünfeck vor (vgl. Glessgen 2011: 422–426): Die erste Ecke in einer historischen Sprachstufe ist die graphische Form des Zeichens. Die zweite Ecke umfasst die lexikalische Form und ist eng mit der dritten, mit dem signifié, verbunden. Entscheidend für diese enge Verbindung ist neben den diasystematischen Markern und der morphologischen Struktur der syntagmatische Kontext. Dies demonstrieren die Analysen der Lexeme risk und crawl von Fillmore/Atkins (1992 und 2000). Fillmores Framemodell zeigt zudem, dass die Valenz die Strukturen des Frames widerspiegelt. Hiermit kommt die vierte Ecke mit dem Konzept ins Spiel. Fillmores Modell stösst hier zwar an seine Grenzen, Barsalous Frame kann hingegen die Strukturen sehr gut beschreiben. Die fünfte Ecke kommt kaum zum Zuge, weil die Referenten in den seltensten Fällen noch erhalten sind.

Dieser Weg soll in dieser Arbeit ebenfalls gegangen werden, um den Wortschatz des Schreibens und Lesens im Altisländischen zu analysieren. Den Ausgangspunkt bildet die Belegstelle mit dem jeweiligen Lexem und seinem Kontext. Dies setzt ein Korpus voraus, welches im folgenden Kapitel (I.3.) beschrieben wird. Da es sich bei den hier untersuchten Lexemen ausschliesslich um Verben handelt, geht es in erster Linie darum, ihre Valenz zu analysieren, und ihre Ergänzungen möglichen Attributen im Frame zuzuordnen. Dazu gehören alle direkt vom Verb abhängigen Konstituenten: Subjekt, Akkusativ-, Dativ- und Genitivobjekt, Präpositionalobjekte und Adverbien. Es wird keine Grenze zwischen (obligatorischer) Ergänzung und (fakultativer) Angabe gezogen, weil diese nicht bekannt und für die Analyse wahrscheinlich auch nicht relevant ist. Da je nach Diathese gewisse thematische Rollen unterschiedlich realisiert werden, werden abhängig davon die Konstituenten nach diesen als Agens, Patiens, Thema oder Causer benannt.

Die Nomenklatur der Attribute muss im Laufe der Analyse kontinuierlich angepasst werden, weil das Konzept nicht a priori bekannt ist. So beginnt auch Braun (2016) mit einem postulierten Frame und revidiert diesen nach der Analyse der jeweiligen Texte. In der vorliegenden Arbeit werden mögliche Attribute in den Einleitungskapiteln zu den beiden Analyseteilen reflektiert und im Laufe der Analyse angepasst. Die in den Ergänzungen enthaltenen Lexeme werden bei der Analyse als Werte gesammelt. Auf die Wertkonzepte kann nur anhand der vorliegenden Belege eingegangen werden, was zwangsläufig ein unvollständiges Bild des Wertkonzepts ergibt. Der Analyse muss jedoch, wie auch von Barsalou (s.o.) konstatiert wurde, eine Grenze gesetzt werden, weil jeder Wert wieder ein eigenes Konzept hat, welches wiederum für sich analysiert werden müsste, was bei Dutzenden von Werten nicht möglich ist. Da die Wertkonzepte nicht genau bekannt sind, sind auch Aussagen über Constraints nur begrenzt möglich.

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