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2.3.2 Symbolische Herrschaftssicherung

Im Folgenden wird nun die Herstellung einer symbolischen Herrschaftssicherung und die damit verbundenen Rechtfertigungen von sozialer Ungleichheit dargestellt. Als symbolisch gelten Bedeutungsträger (Bilder, Ideen, Ideologien, Theorien, Meinungen etc.) die eine Vorstellung vermitteln, mit der sich ein Individuum ein Gesamtbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit machen kann.

Die symbolische Herrschaftssicherung zur Regulation der Produktionsbedingungen wird allgemein in den „ideologischen Staatsapparaten“ (Althusser 1977), wie in religiösen, schulischen, juristischen, politischen, gewerkschaftlichen, medialen, kulturellen oder familiären Apparaten, hergestellt. Diese Apparate bzw. „Institutionen leiten gesellschaftliches Handeln an und begrenzen es“ (Hirsch 2005: 43). Die ideologischen Staatsapparate statten sozusagen ihre Staatsbürger_innen mit der jeweiligen herrschenden Ideologie – demokratisch, faschistisch, religiös, neoliberal, heteronormativ etc. – aus, welche die jeweiligen Apparate bzw. Institutionen als hegemoniale Praxisformen vorgeben. Ideologien sind dabei

„praktische Normen, die die Haltung und die konkrete Stellungnahme der Menschen gegenüber den realen Gegenständen und den realen Problemen[27] ihrer gesellschaftlichen Existenz sowie ihrer Geschichte ‚bestimmen‘“ (Althusser 1985: 31).

Das heißt, Ideologien liefern komplexe Formationen von „Begriffen, Vorstellungen und Bildern innerhalb von Verhaltensweisen, Handlungen, Haltungen und Gesten“ (ebd.: 31) und koppeln bestimmte Handlungen, Verhaltensweisen und Denkformen an eine gesellschaftliche Position. Ein Beispiel dafür ist die Heterosexualität. Die Vorstellung der Heterosexualität als das hegemoniale bzw. normale Beziehungsmodell organsiert Begehrensformen, strukturiert gesellschaftliche Institutionen (z.B. Ehe, Familie, Recht), ist in alltagskulturelle Praxen eingeschrieben (z.B. Familienfeste feiern, Formulare ausfüllen) und strukturiert ökonomische Verhältnisse (z.B. die geschlechtsbezogene Arbeitsteilung) (vgl. Hark 2010: 108). Das bedeutet: Um bestimmte Vorstellungen als gültig und wahr einzusetzen, bedarf es nicht ausschließlich repressiver Institutionen und Apparate, sondern auch ideologischer Institutionen, die bestimmte „Wahrheiten“ bzw. gültiges Wissen verbürgen und reproduzieren. Ideologien sind somit gelebte gesellschaftliche Praxen und soziale Formen.

Wie jeweils gültiges Wissen zustande kommt, hat Foucault in „Die Ordnung des Diskurses“ (2001) beschrieben. Der Begriff Diskurs lässt sich wie folgt beschreiben:

„‚Diskurs‘ ist stets lediglich die sprachliche Seite einer ‚diskursiven Praxis‘. Unter ‚diskursiver Praxis‘ wird dabei das gesamte Ensemble einer speziellen Wissensproduktion verstanden, bestehend aus Institutionen, Verfahren der Wissenssammlung und -verarbeitung, autoritativen Sprechern bzw. Autoren, Regelungen der Versprachlichung, Verschriftlichung, Medialisierung“ (Link/Link-Heer 1990: 90).

Diskurse üben durch die Übermittlung von jeweils gültigem Wissen Macht aus, weil sie Wissen transportieren und dadurch kollektives und individuelles Bewusstsein ermöglichen. Sie sind gleichzeitig selbst ein Machtfaktor, indem sie Verhalten und andere Diskurse ins Leben rufen können. Demnach tragen sie zur Strukturierung von Machtverhältnissen in einer Gesellschaft bei. Foucault beschreibt drei zentrale Regulierungsweisen von Diskursen:

• Es existieren Prozeduren der Ausschließung von bestimmten Vorstellungen, welche durch Verbote installiert werden. Subjekte dürfen nicht alles in den Diskurs einbringen, was sie wollen, weil dieser durch Normen, Vorschriften und Gesetze bestimmt ist.

• [28]Ein zweites Regulierungsinstrument stellt eine Grenze zwischen dem Vernünftigen und dem Unvernünftigen auf und beurteilt, ob Subjekte nützliche oder irrige Aussagen machen. Diese Regulierung konstruiert das Logische bzw. das Wahnsinnige und teilt Menschen in die mit „gesundem Menschenverstand“ und „Spinner“ auf.

• Das dritte Regulierungsinstrument von Diskursen ist die Konstruktion des Gegensatzes von Wahr und Falsch, der auf der Grundlage des je vorherrschenden politischen, philosophischen, religiösen oder wissenschaftlichen Wahrheitsgehalts erzwungen wird (vgl. Foucault 2001a: 10–22).

Ergebnis dieser Reglements sind hegemonial durchorganisierte und durchstrukturierte Vorstellungen, die durch Kontrolle, Selektion, Kanalisierung und Hierarchisierung von Wissen und Wahrheiten entstehen. Es etablieren sich gesellschaftliche Zwänge, „wahre“ Diskurse zu produzieren und neue Diskurse an den vorherrschen Wahrheitsaussagen zu überprüfen (vgl. Lemke 1997: 51). Das bedeutet, dass die „wahren“ Diskurse die Individuen an bestimmte Aussagetypen, z.B. über Geschlecht, Nation, Klasse oder „Rasse“, binden und demnach alle anderen Denkformen diskreditieren und verbieten. Somit können Diskurse durch direkte Verbote und Einschränkungen, Anspielungen, aber auch durch Konventionen, Verinnerlichungen, Bewusstseinsregulierungen wie Moral und Religion oder durch Selbstregime eingeengt werden. Die daraus entstehende „wahre“ Wissensproduktion normiert die Gesellschaften, und diese erhalten „so ihre eigene Ordnung der Wahrheit, die aus einer bestimmten Beziehung von Subjektivierungsweisen, Gesetzestexten, Normen, sinnvollen Optionen und Verhaltensweisen erwächst“ (Opitz 2004: 50). Einfach formuliert: Gesellschaftliche Vorstellungen werden durch Machtverhältnisse hervorgebracht.

Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Geschichte des Naturwissenschaftlers Galileo Galilei. 1615 veröffentlichte er seine Erkenntnisse zum heliozentrischen Weltmodell. Dieses erklärt, dass die Planeten um die Sonne kreisen und die Sonne Mittelpunkt unserer Galaxie sei. Dieses neue Weltbild widersprach den Ideen in der katholischen Kirche. Im Zuge der Veröffentlichung wurde Galilei untersagt, seine Lehre zu verbreiten. Seine Schrift wurde verboten. Galilei musste ins Gefängnis, weil er seine Erkenntnisse nicht widerrief.

Ein aktuelles Beispiel für Regulierungsweisen von Diskursen sind die Debatten über Mutter- und Vaterschaftsurlaub nach der Geburt eines Kindes. Erwerbstätige Mütter haben in der Schweiz nach der Geburt des Kindes laut Bundesgesetz Anspruch auf 14 Wochen Mutterschaftsurlaub bei 80% des Lohns. Vätern stehen lediglich 1–2 freie Tage zu. Diskurse sind hier, so könnte man zugespitzt sagen, insofern wirksam, als Mütter und Väter[29] z.B. recht selbstverständlich mit den gesetzlichen Regelungen umgehen und diese nicht weiter infrage stellen; oder aber auch wirkungsvoll, indem Mütter, die direkt nach der Geburt wieder arbeiten gehen, und Väter, die längere Zeit nicht arbeiten gehen (wollen), sich normativen, moralischen, konventionellen usw. Aspekten gegenüberstellen.

Im Gegensatz zum Feudalismus, indem die Kirche der zentrale dominierende ideologische Staatsapparat und die Religion die grundlegende Ideologie zur Gesellschaftsreproduktion bildete, kommen in der kapitalistischen Gesellschaftsformation den schulischen und familiären Staatsapparaten die dominierenden Rollen zu (vgl. Althusser 1977: 125ff.). Da die Reproduktion der Arbeitskraft für die Reproduktion der Produktionsbedingungen wesentlich ist, ist nicht nur der Lohn ein wesentliches Mittel zur Reproduktion, sondern Betreuungs-, Fürsorge- und vor allem Qualifizierungstätigkeiten müssen ebenfalls gewährleistet werden. Die Qualifikation der Arbeitskraft erfolgt „mehr und mehr außerhalb der Produktion: durch das kapitalistische Schulsystem und durch andere Instanzen und Institutionen“ (Althusser 1977: 111). Das heißt, in Kindergärten, Schulen, Universitäten, Sportvereinen oder Familien werden potentiellen Arbeitskräften Regeln beigebracht: „Regeln der Einhaltung der gesellschaftlich-technischen Arbeitsteilung und letztlich Regeln der durch die Klassenherrschaft etablierten Ordnung“ (Althusser 1977: 112). Damit Arbeitskräfte ihre Aufgabe wahrnehmen können, müssen sie erst von den je verschiedenen Regeln durchdrungen sein, um ihre je eigene Arbeitsaufgabe umzusetzen. Im Prinzip erfolgt die Reproduktion der Qualifikation der Arbeitskraft „in und unter den Formen der ideologischen Unterwerfung“ (Althusser 1977: 112).

Die grundlegende ideologische Formierung der Individuen findet demnach innerhalb der Familien, der Bildungsapparate – Kindergarten, Schulen, Universitäten – und durch Erziehung bzw. Sozialisation statt. Jedes Individuum, das einen dieser Apparate bzw. eines dieser „Einschließungsmilieus“ (Deleuze 1993: 255) durchläuft, ist mit einer zweckmäßigen Ideologie ausgestattet, welche der Rolle als Lohnarbeiter_in, Mutter und Hausfrau, Vater und Ehemann, Demokrat_in etc. entspricht, sofern das Individuum diese Rolle für sich annimmt. Das Erlernen zweckmäßiger und scheinbar neutraler Fertigkeiten dient letztlich dazu, die Produktionsverhältnisse einer kapitalistischen Gesellschaftsformation zu reproduzieren. Die Mechanismen, die diese Fähigkeiten als „für das kapitalistische Regime lebensnotwendige Ergebnis produzieren“ (Althusser 1977: 129), sind verdeckt und verborgen durch eine Ideologie, die die Bestrebungen der Bevölkerung deckungsgleich mit den Bestrebungen des hegemonialen Blocks erscheinen lassen.

[30]Für die Sozialisation kapitalistischer Ungleichheitsverhältnisse ist die heteronormative Ideologie ein wesentlicher Bezugspunkt der ideologischen Herrschaftsformation. Heteronormativität bezeichnet im Prinzip das gesellschaftliche Ordnungssystem der Heterosexualität im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung von Personen. „Liebe“ oder sexuelles Begehren sind in dieser Ideologie ausschließlich gegenüber Angehörigen des „entgegengesetzten“ biologischen Geschlechts bzw. des sozialen Geschlechts zu empfinden. Heteronormativität kann hierbei als eine gesellschaftliche Norm verstanden werden, die institutionell und juristisch abgesichert ist. Sie ist außerdem an die Vorstellung gekoppelt, dass es nur zwei Geschlechter gibt und alle anderen Begehrensformen jenseits der Heterosexualität als Abweichung der Norm gelten und dementsprechend sanktioniert bzw. stigmatisiert werden (vgl. Warner 1991: 3ff.). Diese zweigeschlechtliche Ideologie bzw. diese Zwangsheterosexualität strukturiert nicht nur das Zusammenleben von Menschen durch bestimmte Familien- und Begehrensformen, sondern strukturiert auch Denkweisen in Form von binären Denkmodellen wie Mann/Frau. Besonders in heterosexuellen Familienformen mit der Struktur Vater-Mutter-Kind(er) bildet sich die heteronormative Ideologie ab. Die Kinder erlernen so in der Familie die gesellschaftlichen Normen und Werte.

Die „Harmonie“ zwischen den repressiven und ideologischen Herrschaftsorganisationen wird ebenfalls über Ideologien hergestellt, und kein hegemonialer Block kann dauerhaft gesellschaftliche Widersprüche regulieren, ohne gleichzeitig die Hegemonie über die symbolischen Formen auszuüben. Die Mechanismen der bisher beschriebenen Herrschaftssicherungen sind zusammenfassend als Kombination von Gewalt und Zustimmung zu verstehen. Ziel und Zweck der Herrschaftssicherung ist die Herstellung eines relativ stabilen inneren Friedens. Allerdings reicht es nicht aus Ideologien und Normen zu formulieren, sondern diese müssen auch von den Individuen übernommen und verinnerlicht werden.

2.3.2 Subjektive Herrschaftssicherung

Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit der Verinnerlichung von Normen und Werten sowie mit entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Deshalb stellt sich auch die Frage, wie die Prozesse der Verinnerlichung stattfinden.

Für eine Klärung dieser Frage bietet der Körper einen zentralen Ort an, um die Übernahme von gesellschaftlichen Ungleichheitsprozessen zu auszumachen. Bourdieu nennt diese Prozesse „Somatisierung der Herrschaftsverhältnisse“ (Bourdieu 1997: 166) und Judith Butler „leibliche Einschreibung“ (Butler 2003: 190). Beide Ansätze sehen in der sinnlichen Wahrnehmung von Mitmenschen ein wesentliches Herrschaftsinstrument,[31] weil hegemoniale Leitbilder oder Ideologien eine bestimmte Wahrnehmung in Bezug auf den menschlichen Körper erzeugen können. Das Erklärungsmodell der Einschreibung von Herrschaftsverhältnissen in den Körper erklärt nicht nur sinnliche Wahrnehmungen von Anderen, sondern verdeutlicht auch, warum Normen und Werte so „tief“ in einem selbst sitzen.

Allgemein gibt der Körper dem Individuum die Möglichkeit, seinem Geschlecht, seiner Herkunft, seiner Konstitution oder seinem Alter eine Bedeutung zu verleihen. Demnach lässt sich der menschliche Körper als ein gesellschaftliches und kulturelles, aber auch als individuelles Projekt verstehen. Es vollziehen sich nicht nur biologische Funktionen im Körper, sondern der Körper bewahrt auch seine Geschichte auf. Er behält das Erlebte und dient als Informationsträger von sozialen Strukturen: Damit z. B. bestimmtes „normales“ Verhalten nicht ständig bewusst vollzogen werden muss, ermöglicht der Körper einen automatischen Ablauf von erwünschten Verhaltensweisen. Dies wird etwa bei Spielen oder Ritualen – Begrüßungen, Bewegungen, Haltungen etc. – deutlich: Die praktische Beherrschung von Verhaltensweisen ist unmittelbar durch den Körper vermittelt. Mit anderen Worten: Der Körper verinnerlicht soziale Normen oder Strukturen und speichert diese ab. Denn was „der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man“ (Bourdieu 1987: 135). Oder: „Dem Leib prägen sich die Ereignisse ein“ (Foucault, zitiert nach Butler 2003: 191).

Ein geschlechtsspezifisches Körperbewusstsein wird nicht nur durch bestimmte Sportarten wie Gymnastik, militärische Übungen, Bodybuilding etc. hergestellt, sondern auch durch unterschiedliche Kleidungen, Frisuren, Bewegungsabläufe, Kosmetika, soziale Verhaltensformen für Männer und Frauen etc. Durch die sozialen Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit wird ein hegemonialer Zwang in fast allen gesellschaftlichen Feldern hergestellt, das eigene Geschlecht durch spezielle Ausformung und Sichtbarmachung permanent zu inszenieren und zu modellieren (vgl. Kreisky 2003; Villa 2003: 72). Das bedeutet, dass sich durch die Verbindung von Tätigkeiten und geschlechtsspezifischen Normierungen diese sich bis in die Gesten, Haltungen, Körperwahrnehmungen, Deutungen, Verhaltensweisen etc. zurückverfolgen lassen bzw. einschreiben und sich durch Wiederholungen dieser Normen eine bestimmte (binäre) Form von Geschlechtlichkeit und auch von Sexualität herausstellt. Die dem Körper andisziplinierte Zweigeschlechtlichkeit wird somit zu einem normativem Ideal der psychischen Identität (vgl. Butler 2001: 82). Festzuhalten bleibt, dass für die Verinnerlichung von sozialen Normen und Werten Mechanismen nötig sind, die sich im Kontext der jeweiligen Gesellschaftsformation zusammensetzen. In der Regel funktioniert die Einverleibung oder „Einverseelung“ (Nietzsche [32]1999: 210) der Struktur der vorherrschenden Gesellschaftsformation, ihrer kulturellen und historischen Bedingungen und Machtverhältnisse sowie ihrer hegemonialen Leitbilder nicht mehr ausschließlich über Gewalt oder offensichtlichen Zwang, sondern sie wird auch durch subtile Formen vollzogen (vgl. Jäger 2004: 184).

Eine fundierte Erklärung, wie sich Herrschaftsverhältnisse im Körper durch subtile Formen einschreiben bzw. wie sie einverleibt werden, ist durch die Zuhilfenahme des Habituskonzepts von Pierre Bourdieu möglich (vgl. Bourdieu 1997: 166). Laut Butler lässt sich das Habituskonzept auch als Reformulierung von Althussers Ideologiebegriff lesen. Durch dieses Konzept können die verkörperten Alltagsrituale analysiert werden, mit der die „Kultur ihre eigene ‚Selbstverständlichkeit‘ erzeugt und aufrechterhält“ (Butler 2001: 194). Um diese Prozesse analytisch zu fassen, entwickelte Bourdieu die Begriffe Habitus und Hexis. Der Habitus wird als ein System verinnerlichter Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsschemata beschrieben, die u.a. durch Sozialisationsprozesse erlernt werden (Bourdieu 1970: 150).

• Die Wahrnehmungsschemata ermöglichen die Strukturierung der sozialen Welt.

• Die Denkschemata ermöglichen die Interpretation der sozialen Welt und ordnen durch Normen und Werte die Beurteilung gesellschaftlicher Handlungen.

• Die Handlungsschemata bringen Individuen als Akteur_innen hervor.

Allerdings sind diese Schemata nur analytisch trennbar und vollziehen sich auf verschiedenen Ebenen (vgl. Schwingel 1995: 60). Der Habitus beschreibt aber nicht ausschließlich bewusste Verhaltensweisen von Angehörigen bestimmter Gruppen oder Klassen, die einem ähnlichen Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungsmuster entsprechen, sondern der Begriff Habitus lässt sich als „generative Grammatik der Handlungsmuster“ (Bourdieu 1970: 150) definieren. Er organisiert die Wahrnehmung, Muster, Ordnungen, die dem Handeln von Individuen vorausgehen. Ähnlich wie beim Sprechen, bei dem die Sprechenden grammatischen Regeln folgen – ohne dass die Regeln allgegenwärtig beim Sprechakt bewusst sind –, generiert der Habitus unbewusst Regeln und Normen, nach denen die jeweiligen Personen handeln (vgl. Hülst 1999: 273f.). Der Habitus einer Person ist so nicht nur gesellschaftlich bedingt, sondern auch eine soziale Praxis. Die soziale Praxis enthält unbewusste Vorstellungen, die über die bewussten Absichten des Individuums hinausgehen (vgl. Bourdieu 1987: 106; Hirsch 2005: 40). Deshalb existiert einerseits eine Vielzahl von Beurteilungen, subjektiver Wahrnehmungen etc. Andererseits sind diese Beurteilungen nicht[33] unabhängig von Einteilungskriterien, Unterscheidungsprinzipien oder Normen der jeweiligen Hegemonie. Die Hexis hingegen kann als eine Art körperlicher Speicher der Struktur des Habitus verstanden werden. Dieses Konzept beschreibt aber keine vorsoziale Identität, es entsteht hingegen als Verbindung von sozialen Strukturen und Praxen. Regeln verkörpern sich im Tun und reproduzieren sich in verkörperten Handlungsritualen (vgl. Butler 2001: 112). Die Übernahme heteronormativer Normen und deren Reproduktion ist demnach nicht mechanisch, sondern „verweist darauf, dass sie durchgeführt, performiert wird und dass in der Durchführung dieser Wiederholung eine Überzeugung entsteht, die in der Folge dann in die Durchführung integriert wird“ (Butler 2001: 113).

Wenn Menschen demnach z.B. von Männern oder Frauen sprechen oder von Flüchtlingen, dann existiert bereits eine normativ kodierte Vorstellung davon, was ein Mann oder eine Frau oder ein Flüchtling ist, d.h. bestimmte sprachliche Formulierungen festigen, regulieren oder reproduzieren bestimmte Vorstellungen. Das meint aber nicht, dass der Körper vollständig durch Vorstellungen bzw. durch Ideologien produziert wird, sondern lediglich, dass keine von einer symbolischen Ordnung losgelöste körperliche Materialität existiert. Körperlichkeit ist somit keine willkürliche und beliebige Inszenierung.

Mittels der Theorie der Anrufung (vgl. Althusser 1977: 140ff.), welche durch Butler weiterbearbeitet wurde, lässt sich dies weiter verdeutlichen. Anrufungen charakterisieren spezifische Weisen des Anredens, z.B. durch die Verleihung eines Namens oder einer sozialen Bezeichnung (Mann/Frau, Inländer_in/Ausländer_in), die wiederum auf Identitäten bezogen sind. Anrufungen oder Anfragen können auch wörtlich verstanden werden: Durch Anrufungen wie „Du bist Deutschland!“, „Wir sind Schweiz“ oder Anfragen wie „Bist Du schwul, oder was?“ werden Individuen aufgefordert, die jeweilige Bedeutung und Bezeichnung zu hinterfragen, anzunehmen oder abzulehnen bzw. sich mit diesen zu identifizieren. Anrufungen ermöglichen durch je historisch-konkrete Ideologien mit ihren je eigenen konkreten Bedeutungen die Hervorbringung von individuellen und/oder kollektiven Identitäten. Das heißt, leere Subjektformen werden durch „Ideologien mit ihren je eigenen konkreten Inhaltsformen“ (Müller/Reinfeld/Schwarz/Tuckfeld 1994: 52) angefüllt. Die Sprache bzw. das Wissen über sich wird vorgefunden, und somit erhält die Identität „eine symbolische Dimension: Sie muss von den Beherrschten eine Form von Zustimmung erhalten, die nicht auf der freiwilligen Entscheidung eines aufgeklärten Bewusstseins beruht“ (Bourdieu 1992: 165), sondern auf der direkten und vorreflexiven Einordnung. Die symbolische Ordnung hält hierfür ein Ensemble von als „Wahrnehmungskategorien[34] fungierenden Gegensatzpaaren“ (Bourdieu 1997: 165) wie breit/schmal, groß/klein, schwarz/weiß, männlich/weiblich etc. bereit.

Durch diese Ausschlussmechanismen, z.B. entweder männlich oder weiblich etc. zu sein, entstehen und verfestigen sich identitäre Gruppierungen. Aber erst durch Normen, die die Körper und Identitäten klassifizieren, ist es möglich, geschlechtsspezifische Einteilungen als solche zu verstehen. Diese Norm regiert sozusagen die Hervorbringung der Geschlechter, weil selbst das, was außerhalb der Norm liegt, nur in Relation zur Norm gedacht werden kann. Mit Butler ausgedrückt: „Nicht ganz männlich, nicht ganz weiblich zu sein, heißt immer noch, ausschließlich im Verhältnis zur eigenen Beziehung zum ‚ziemlich Männlichen‘ und ‚ziemlich Weiblichen‘ verstanden zu werden“ (2004: 46). Die sichtbaren Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Körpern werden so zu unanfechtbaren fixen Ideen, weil die Wahrnehmung der vergeschlechtlichten Körper aus einer heteronormativen Symbolordnung heraus interpretiert wird. Dabei ist nicht der Phallus – oder sein Fehlen – das Fundament dieser Weltsicht, sondern die Vorstellung, welche die Einteilung in männlich und weiblich organisiert (vgl. Butler 2003: 37ff.; Bourdieu 2005: 44). Hierbei besteht immer ein Risiko der Missachtung einer Bezeichnung. „Missachtet man diesen Versuch zur Hervorbringung eines Subjekts, dann gelingt diese Hervorbringung nicht“ (Butler 2001: 92f.).

Dies kann auch wörtlich verstanden werden, wenn eine Person gegen einen Namen oder eine Bezeichnung protestiert, mit der sie benannt/charakterisiert wurde (vgl. Butler 1998: 54). Dieser Protest wiederum kann nur funktionieren, wenn die Person sich selbst anspricht und reflektiert, sich selbst als ein Ich herbeiruft, denn „erst durch Rückwendung gegen sich selbst erlangt das Ich überhaupt den Status eines Wahrnehmungsobjekts“ (Butler 2001: 158). Demnach bringt die Anrufung ein Individuum als eine machtvolle Konstruktion im doppelten Sinne hervor: Einerseits wird eine Person durch Sprechakte geformt und unterworfen, und andererseits wird sie dadurch mit einer Handlungsmacht ausgestattet (vgl. Butler 1998: 198). Die Prozesse der Anrufung bringen somit auch handelnde Subjekte hervor, die innerhalb von Herrschaftsverhältnissen „den starren Codes der hierarchischen Binaritäten widersprechen“ (Butler 2003: 213), ja sogar Anrufungen aufbrechen, verschieben und dezentralisieren können, indem sie neue Begrifflichkeiten, Bedeutungen und Identitäten fordern, die in keiner Opposition mehr zueinanderstehen. Dadurch entsteht eine „Möglichkeitsbedingung für eine radikal bedingte Form der Handlungsfähigkeit“ (Butler 2001: 19). In letzter Konsequenz sind dies Kämpfe, „die den Status des Individuums infragestellen“ (Foucault 1994: 246), indem sie all das bekämpfen, was „das Individuum auf sich selbst zurückwirft und zwanghaft an seine [35]Identität fesselt“ (Foucault 1994: 246). Das Individuum erfährt seine Bestimmung durch hegemoniale Anrufungen, und es erhält dadurch seinen Platz in der Gesellschaft. Gleichzeitig ist seine Subjektivität umkämpft, „weil die Subjekte zur Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen dienen und weil Subjekte zugleich auch die Potentialität einer unbotmäßigen Widerspenstigkeit bergen“ (Naumann 2000: 7).

Zusammenfassend: Die Verinnerlichung von Herrschaftsstrukturen ist identitätsstiftend. Der Körper spiegelt sich in einem erworbenen System von gesellschaftlichen Ideologien wider. Es ist durch diese inkorporierte Politik z.B. schwer möglich, „einen Körper nicht entweder als weiblichen oder männlichen zu sehen“ (Gisler/Emmenegger 1998: 149). Frauen und Männer erhalten in dieser Folge ein objektiviertes Verhältnis zu ihrem Körper. Sie verkörperlichen die gesellschaftlichen Umgangsformen von und mit Männern oder Frauen und werden letztlich „selber Subjekte von sich als Objekt“ (Gisler/Emmenegger 1998: 150). Daraus resultiert auch die Herstellung einer Gesamthaltung des Körpers mit den je spezifischen Gesten, bis schließlich der Körper mit einer Identität verzahnt ist. Dadurch, „dass es im Kern der Machtverhältnisse und als deren ständige Existenzbedingung das Aufbegehren und die widerspenstigen Freiheiten gibt“ (Foucault 1994: 259), lässt sich behaupten, dass zumindest theoretisch keine Herrschaftsverhältnisse ohne Widerstand existieren können. Zwar führen Widerstandsstrategien nicht zwangsläufig zur Freiheit von Herrschaftszuständen, aber sie können ein Feld für Machtverhältnisse eröffnen (vgl. Foucault 1985: 11; Mümken 1998). Widerstandsstrategien führen letztlich zu Formen der Auseinandersetzung, die sich konsequenterweise nicht darum drehen, „das Individuum vom Staat und dessen Institutionen zu befreien, sondern uns sowohl vom Staat als auch vom Typ der Individualisierung, der mit ihm verbunden ist, zu befreien“ (Foucault 1994: 250).

Identitätsstiftend sind allerdings nicht nur diese Eingriffe am individuellen Körper. In der Auseinandersetzung mit der Frage, wie Macht und Herrschaft wirksam werden, sind neben dem leiblichen Körper auch der gesellschaftliche Körper bzw. der Staatskörper und die Bevölkerung ein weiterer Bezugspunkt. Durch Kontrollen, Prüfungen, Blicke, Regulierungen und Normalisierungen der Körperbewegungen und Gesten werden im Körper Machtverhältnisse internalisiert. Wie beschrieben, führt das dazu, dass die Individuen diese gegen sich selbst einsetzen (vgl. Foucault 1977: 260). Herrschaftssicherungen in Bezug auf die Gesamtheit hat die Spezies Mensch und ihre „Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen“ (Foucault 1983: 166) im Visier. Foucault spricht bezüglich dieser Prozesse von der „Biopolitik der Bevölkerung“ (Foucault [36]1983: 166). Die Biopolitik ist eine Technologie, die nicht die individuelle Dressur zum Gegenstand hat, sondern einen stabilen gesundheitlichen Zustand des „Volkskörpers“ herstellen will. Ziel der Biopolitik ist es, „das Leben zu verwalten, zu sichern, zu entwickeln und zu bewirtschaften“ (Lemke 1997: 135).

Am Beispiel der Verbindung von Körper, Sexualität und Rassismus lässt sich dieser Zusammenhang verdeutlichen. Neben Medizin und Hygiene ist Sexualität Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem Feld strategischer Bedeutung zur Sicherung von Herrschaftsverhältnissen geworden. Durch die medizinische Aufwertung der Sexualität ist diese auch zum Gegenstand des Diskurses über öffentliche Hygiene und der „Furcht vor rassischer Degeneration im 19. Jahrhundert“ (Opitz 2004: 37) avanciert. Vor allem durch einen negativen Diskurs, der Sexualität als zu freizügig brandmarkt, wird die Angst vor „Entartung“ des Individuums, der Familie oder der „Rasse“ geschürt. Als Wegbereiter, als Aufstachler der Angst vor der Gefahr der „Entartung“ und als Vordenkerin der nicht nur in der NS-Zeit praktizierten Zwangssterilisationen und Massenmorde an als „lebensunwert“ definierten Menschen kann die am Ende des 19. Jahrhunderts entstandene gesellschaftswissenschaftliche Ideologie angesehen werden, die sich unter dem Namen Sozialdarwinismus formiert. Sozialdarwinist_innen behaupten – in Anlehnung an Charles Darwins Theorie der Evolution der Arten –, dass die Entwicklung von Individuen und Gesellschaften durch natürliche Selektion verlaufen würde und dass sich die Erbanlagen einer Art kontinuierlich verschlechtern würden, wenn die natürliche Selektion verhindert werde. Diese Theorie besagt im Wesentlichen, dass die Individuen einer Population alle verschieden voneinander sind. Von diesen Individuen sind bestimmte an die herrschenden Umweltbedingungen besser angepasst als andere und haben damit größere Überlebens- und Fortpflanzungswahrscheinlichkeiten. Die genetische Beschaffenheit dieser besser angepassten Individuen wird durch Vererbung an folgende Generationen weitergegeben. Die eugenische Bewegung, welche von Francis Galton (1822–1911) initiiert wurde und eine lange geschichtliche Tradition aufweist (vgl. Becker 1996: 11), führt ein Graduierungssystem zur Messung der genetischen Qualität von Menschen ein. In einem „naturwissenschaftlichen“ Kontext gesehen, ist Eugenik die historische Bezeichnung für die Anwendung der Humangenetik auf Bevölkerungen, die die Fortpflanzung „gesunder“ Menschen begünstigt und die Fortpflanzung „kranker“ Menschen verhindert. Durch diesen Vorgang sollen die Erbanlagen der Gesamtbevölkerung langfristig verbessert werden. Ziel der Eugeniker_innen ist „die Inventarisierung aller ‚rassischen‘ Merkmale von Menschen und die Förderung der Fortpflanzung von höheren und die Reduktion der Fortpflanzung von niederen „Rassen“ (Mies 1992: 60). [37]Der präfaschistische „Rassentheoretiker“ Wilhelm Schallmayer postuliert 1918 in seinem Buch „Vererbung und Auslese“ in diesem Zusammenhang:

„Und in dem die Selektionstheorie zeigt, dass das letzte Ziel jeder staatlichen Politik kein anderes sein darf als das, das staatlich organisierte Volk zum Bestehen des Daseinskampfes für die Gegenwart und Zukunft zu kräftigen, um dem Volkskörper dauerndes Leben zu sichern, liefert sie uns auch einen Maßstab zur Wertung aller bestehenden und erstrebenden gesellschaftlichen Zustände und Einrichtungen“ (Schallmayer zitiert nach Becker 1996: 7).

Mithilfe von Zwangssterilisationen und Züchtungen sollen die „rassenhygienischen“ Maßnahmen umgesetzt werden (vgl. Klee 1993; Bock 1996). Aber erst im Nationalsozialismus können die Eugeniker_innen durch staatlich organisierte Programme „sich erstmals über die Beschränkungen der Pathologie hinwegsetzen und lebendige Körper bearbeiten und zerstückeln“ (Strobel 1989: 33). Die Idee hinter diesen bevölkerungspolitischen Maßnahmen sei dadurch begründet, dass das Erbgut die soziale Stellung bestimmen würde, dass der Wert des Menschen sich angeblich nach seinen Erbanlagen bestimmen ließe und dass es durch „Rassenmischungen“ zu einer Degeneration des „Volkes“ komme, welche die „Volkswirtschaft“ beeinträchtige. Die Form der Selektion von Körpern durch einen staatlich organisierten Prozess und durch die industrielle Ermordung von Menschen in Arbeits- und Konzentrationslagern erreicht im Nationalsozialismus bisher die ökonomischste Form (vgl. Postone 1988: 246ff.). Allerdings wurden auch bis ins Jahr 1985 in schweizerischen psychiatrischen Kliniken Tausende von angeblich „erblich Minderwertigen“ zwangssterilisiert und zwangskastriert. In diesem Zusammenhang lässt sich das 1926 gegründete Programm der Pro Juventute für die „Kinder der Landstraße“ verorten, das versuchte, die fahrende Lebensweise der Jenischen zu zerstören. Ziel des Programms war es, die Kinder aus den als „asozial“ beurteilten Lebensverhältnissen der Eltern herauszunehmen und sie an die sesshafte Lebensweise anzupassen. Hier kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Biopolitik die totale Kontrolle der Individuen aus „rassenanthropologischen“ Gründen für die Formierung eines produktiven „Volks- und Produktionskörpers“ zum Gegenstand hat. Funktion dieser Politik ist es, die Sicherheit der bevölkerungspolitischen Prozesse und somit der Reproduktion der Machtverhältnisse zu gewährleisten.

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