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2 [15]Soziale Ungleichheiten

Die aktuellen Debatten zur „Intersektionalität“ verweisen auf die Verwobenheit und das Zusammenwirken verschiedener Kategorien und Dimensionen sozialer Ungleichheit. Kategorien bezeichnen in diesem Zusammenhang die Zusammenfassung einer Gruppe von Personen mit gemeinsamen sozial relevanten Merkmalen, welche mit Diskriminierungen einhergehen können. Typische intersektionale Kategorien sind Klasse, „Rasse“, Geschlecht und Körper. Dimensionen bezeichnen die Orte oder Abmessungen bzw. die gesellschaftlichen Ebenen, auf denen diese Diskriminierungen sich abspielen. Typische intersektionale Dimensionen sind die Strukturebene (Wirtschaft, Politik, Gesetze, Institutionen, Einkommen), die Symbolebene (Diskurse, Medien, Ideologien, Religion, Moral, Normen und Werte) und die Subjektebene (individuelles Verhalten, Wahrnehmen, Handeln). Mit diesen beiden Zugängen ist es möglich, die Verbindungen von gesellschaftlichen Strukturen und individuellem Handeln als Interaktionen zu verdeutlichen. Die intersektionale Beschreibung von sozialer Ungleichheit ermöglicht daher nicht nur eine formale Beschreibung von Ungleichheitskategorien und -dimensionen, sondern auch die damit verbundenen Prozesse und gesellschaftlichen Machtverhältnisse.

Vorab wird in diesem Zusammenhang zuerst allgemein in die soziologische Ungleichheitsforschung sowie in die Ungleichheitsdimensionen eingeführt, um im Anschluss daran Analysemodelle sowie den Stellenwert von Macht- und Herrschaftsverhältnissen im intersektionalen Forschungsansatz zu thematisieren. Mit diesen Grundlagen werden dann die Ebenen und Kategorien der sozialen Ungleichheit aufgezeigt.

2.1 Soziologische Ungleichheitsforschung

In der soziologischen Ungleichheitsforschung, welche die Verteilung von Ressourcen zum Gegenstand hat, werden mittels gesellschaftstheoretischer Strukturmodelle die verschiedenen Arten und Ausmaße bzw. Dimensionen von Ungleichheit erklärt. Kreckel beschreibt, dass soziale Ungleichheit überall dort vorliegt

„[…], wo die Möglichkeiten des Zugangs zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder zu sozialen Positionen, die mit[16] ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkungen erfahren und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt bzw. begünstigt werden“ (Kreckel 2004: 17).

Das bedeutet im Allgemeinen, dass soziale Ungleichheit entsteht, wenn knappe und wertvolle materielle oder immaterielle Güter (z.B. Erwerbsarbeit, Bildung) systematisch aufgrund gesellschaftlicher Verhältnisse (Kapitalismus, Monarchie, Diktatur) ungleich verteilt werden. Daraus ergeben sich vorteilhafte bzw. nachteilige Lebensbedingungen (Bildungschancen, Konsumchancen, politische Partizipationschancen, Auf- oder Abstiegschancen). Die vorteilhaften bzw. nachteiligen Lebensbedingungen gehen mit unterschiedlichen Statuszuschreibungen, Unterscheidungen im Ansehen, der Wertschätzung, des Prestiges sowie mit Macht-Asymmetrien und Abhängigkeitsverhältnissen (z.B. in Familie oder Schule) einher. Vor allem Kinder haben wenige Möglichkeiten, ihre sozialen Ungleichheitsverhältnisse zu beeinflussen, bzw. sind sozialer Ungleichheit in besonderem und oftmals verdecktem Maße ausgeliefert. Allerdings sind nicht alle Besser- bzw. Schlechterstellungen Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit, sondern nur jene, die in gesellschaftlich strukturierter, beständiger und verallgemeinerbarer Form zur Verteilung kommen (vgl. Hradil 2008: 213).

Ein Aspekt in der soziologischen Ungleichheitsforschung ist die Darstellung von gesellschaftlichen Strukturen bzw. gesellschaftlichen Hierarchien, die sich durch die Begründungen der sozialen Ungleichheit ergeben. Hierbei wird in der Darstellung nach horizontalen und vertikalen Ungleichheiten unterschieden. Mit der Beschreibung einer vertikalen sozialen Ungleichheit wird versucht, die soziale Position in ein gesellschaftliches „Unten“ und „Oben“ einzuteilen. Neben Beruf, Einkommen und Bildungsabschlussbestimmen auch Arbeitsplatzsicherheit, Wohngegend, Lebensstil oder das soziale Ansehen die Besser- bzw. Schlechterstellungen. Mit der Beschreibung einer horizontalen sozialen Ungleichheit wird der Versuch unternommen, die vertikalen Positionierungen zu unterscheiden, d.h. in den vertikalen Positionierungen können soziale Ungleichheiten nach den Kriterien Geschlecht, Alter, Region oder Herkunft zu weiteren Besser- bzw. Schlechterstellungen führen. Dementsprechend können unterschiedliche Lebenslagen trotz gleicher Position im vertikalen Gefüge der Gesellschaft unterschiedliche Positionierungen mit sich bringen.

2.2 [17]Analysemodelle sozialer Ungleichheit

Historisch betrachtet, existiert und existierte soziale Ungleichheit in allen bekannten Gesellschaften und ist – obwohl sie oftmals als gott- oder naturgegeben deklariert wurde, wie z.B. in der antiken Sklavenhaltergesellschaft, im NS-Regime – immer eine sozial konstruierte Angelegenheit (vgl. Burzan 2007: 6f.). Unabhängig davon, welche Begründung für soziale Ungleichheit angeführt wurde (gott- oder naturgegeben, politisch oder moralisch), diese wurde gesellschaftlich mit Zwang und Gewalt und/oder durch Zustimmung durchgesetzt (vgl. Apartheit, indische Kastengesellschaft etc.). Das heißt weiter, dass Ursachen und Merkmale sozialer Ungleichheit in den jeweiligen Gesellschaften geschichtlich und strukturell unterschiedlich sein können. Um Ursachen und Merkmale sozialer Ungleichheit zu erfassen, gibt es verschiedene Sozialstrukturanalysen (vgl. Schallberger 2006: 6ff.):

Ständetheoretische Forschungsansätze können soziale Ungleichheit in traditionalen bzw. mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften beschreiben. Die Entwicklungs- und Entfaltungschancen in dieser Zeit wurden maßgeblich über die Geburt bestimmt, sie hingen also davon ab, in welchen gesellschaftlichen Stand eine Person hineingeboren wurde. Die soziale Mobilität in einer ständischen Gesellschaft mit Leibeigenen, freien Bürger_innen, Adel, Klerus und König ist daher gering. Max Weber weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Standeszugehörigkeit und die damit verbundene soziale Ungleichheit zusätzlich durch „eine spezifische, positive oder negative, soziale Einschätzung der ‚Ehre‘ bedingt ist, die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft“ (Weber 1922: 534). Anders gesagt, produzieren geteilte Konventionen und ein spezifisches Ehrgefühl ein bestimmtes gesellschaftliches Ansehen sowie Formen von Ein- oder Ausschlussmechanismen in Bezug auf bestimmte Entwicklungs- und Entfaltungschancen.

Klassentheoretische Forschungsansätze beziehen sich auf die Analysen von Karl Marx und Friedrich Engels und beschreiben, dass die soziale Ungleichheit in modernen Gesellschaften bzw. im Kapitalismus aufgrund von ungleichen Eigentumsverhältnissen zwei Klassen von Menschen entstehen lassen: die besitzende Klasse (Produktionsmittelbesitzer_innen) und die besitzlose Klasse (Menschen, die nur ihre Arbeitskraft besitzen und diese gegen Lohn verkaufen müssen). Die Verfügungsgewalt über fixes Kapital (Produktionsmittel) und variables Kapital (Lohnarbeiter_innen) sowie über die Produkte der Arbeit bedingt die soziale Ungleichheit. Dieses Verhältnis weist den Menschen ihren Platz innerhalb der Gesellschaft zu und ermöglicht bzw. beschränkt systematisch ihre Entwicklungs- und Entfaltungschancen. In kapitalistisch organisierten Gesellschaften, die auf dem Recht[18] auf Privateigentum an Produktionsmitteln basieren und dadurch Konkurrenz und Wettbewerb erzeugen, um die profitabelsten Produktionsbedingungen fördern, lässt sich die soziale Ungleichheit nicht vermeiden, weil diese elementar für diese Lebens- und Wirtschaftsweise ist (vgl. MEW 23-25). Auch hier ist die soziale Mobilität, um von einer Klasse in die andere zu wechseln, eher gering.

In Abgrenzung zur Zwei-Klassen-Gesellschaft verorten schichtungstheoretische Forschungsansätze soziale Ungleichheit in einem hierarchisch aufgebauten Schichtungsmodell mit Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht. Diese Modelle sind maßgeblich während der Zeit der Bildungsexpansion in Westdeutschland entstanden (vgl. Dahrendorf 1965). Unterscheidungsmerkmale sind neben den wirtschaftlichen und berufsabhängigen Faktoren auch bildungsabhängige Entwicklungs- und Entfaltungschancen. Die soziale Mobilität von Personen wird hierdurch als offen und grundsätzlich möglich angesehen, da der soziale Aufstieg wesentlich durch Bildungsabschlüsse bestimmt wird.

Mit einer bestimmten Zugehörigkeit zu einer Schicht geht auch in diesem Erklärungsansatz für soziale Ungleichheit ein bestimmtes soziales Ansehen, ein bestimmter Lebensstandard sowie das Gefühl einer Schichtzugehörigkeit einher (vgl. Warner 1960).

Milieu- und lebensstiltheoretische Forschungsansätze differenzieren die schichtungstheoretischen Ansätze weiter aus, indem sie auf die gemeinsam getragene Kultur in einer jeweiligen Schicht fokussieren. Die soziale Lage oder Schichtung wird in diesem Erklärungsansatz mit einer jeweiligen Grundhaltung in Bezug auf Konsum, Lebensstil oder Freizeitaktivitäten kombiniert. Das heißt, dass gemeinschaftlich geteilte Wertvorstellungen und Verhaltensnormen spezifische Subkulturen mit je eigenen Dazugehörigkeitsmustern etablieren, die wiederum die Entwicklungs- und Entfaltungschancen beeinflussen. Auf diese Weise werden Milieus sowie soziale Lagen gebildet, die sich in ihren Dimensionen bezüglich der sozialen Ungleichheit ähneln (vgl. Sinus-Institut 2016).

Pierre Bourdieus sozialstrukturanalytischer bzw. praxeologischer und ressourcentheoretischer Forschungsansatz kombiniert die zuvor beschriebenen Modelle, indem er den Entwicklungs- und Entfaltungschancen von Menschen die Verfügbarkeit von unterschiedlichen Kapitalsorten gegenüberstellt. Durch ungleiches Verfügen über ökonomisches Kapital (Einkommen, Vermögen), kulturelles Kapital (Bildung), symbolisches Kapital (Prestige) oder soziales Kapital (Beziehungen, Freundschaften, Familie) entsteht soziale Ungleichheit. Damit einhergehend resultiert auch eine bestimmte gesellschaftliche Position, die nicht nur über die Menge an Kapital, sondern auch über die Qualität und das Mischverhältnis der Kapitalsorten[19] variiert. Die soziale Mobilität ist demnach über das Anfangskapital begründet. Je weniger Kapital, desto schwieriger die soziale Mobilität und höher die soziale Ungleichheit. Dieser Mechanismus verfestigt laut Bourdieu nicht nur die hierarchisierte soziale Ordnung, sondern führt auch zu einer Verinnerlichung der sozialen Ordnung, weil Verfügbarkeit von Kapital bzw. das Wissen um Ressourcen „die Wahrnehmung der sozialen Welt organisiert“ (Bourdieu 1987: 549).

Der intersektionale Forschungsansatz knüpft an Bourdieus Ansatz an und betont, dass neben der vertikalen sozialen Ungleichheit in Form von formalen Bildungsgraden, mehr oder minder sicheren Anstellungsverhältnissen, Einkommenshöhen und des beruflichen Ansehens bzw. Prestiges auch horizontale Formen der sozialen Ungleichheit entstehen. Das heißt, innerhalb jeder dieser Dimensionen lassen sich höhere oder niedrigere Positionen unterscheiden, die als Bildungs-, Erwerbs-, Berufs-, Einkommens- bzw. Prestige-Status bezeichnet werden (vgl. Hradil 2012). Eine horizontale soziale Ungleichheit bildet sich hingegen aus, wenn unterschiedliche Lebenslagen trotz gleicher Position im vertikalen Gefüge entstehen. So können z.B. die Verschiedenartigkeiten von Menschen hinsichtlich Geschlecht, Alter, Aussehen, Körpergröße, Gesundheitszustand, religiösem Glauben, ethnischer Zugehörigkeit, nationaler Herkunft, sexueller Orientierung oder einer Behinderung zu Macht-Asymmetrien oder Abhängigkeitsverhältnissen führen. Helma Lutz und Norbert Wenning schlagen 13 bipolare hierarchische Linien der Differenz vor: Geschlecht, Sexualität, „Rasse“/Hautfarbe, Ethnizität, Nation/Staat, Klasse, Kultur, Gesundheit, Alter, Sesshaftigkeit/Herkunft, Besitz, Nord-Süd/Ost-West, gesellschaftlicher Entwicklungstand. Winker und Degele (2009) bemessen diesen sozialen Unterscheidungen aufgrund von strukturellen Merkmalen innerhalb der Dimensionen ebenfalls weitere wichtige Bedeutungen zu. Sie fassen die sozialen Unterscheidungen mit vier wesentlichen gesellschaftlichen Kategorien – Klasse, Geschlecht, „Rasse“ und Körper – zusammen (vgl. Winker/Degele 2009: 37–51). Gemeinsam ist diesen Kategorien, dass sie den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen über die jeweilige Leistungsfähigkeit steuern, die Verteilung gesamtgesellschaftlicher Ressourcen über den Lohn geschlechtsspezifisch ab- oder aufwerten oder durch Aufenthalts-, Wahl- und Arbeitserlaubnissen ungleich verteilen (vgl. Winker/Degele 2009: 52). Auch in diesem Modell entscheidet die Wirksamkeit von Unterscheidungs- bzw. Diskriminierungskategorien die soziale Lage:

• Die Klassenzugehörigkeit entscheidet über den sozialen Status sowie über das Verfügen von Einkommen bzw. Vermögen.

• [20]Die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht entscheidet ebenfalls über die soziale Stellung, da innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft hierarchisch in Mann und Frau unterschieden wird.

• Wie auch bei der Kategorie Geschlecht wird die Kategorie „Rasse“ sozial konstruiert. Obwohl die DNA aller Menschen zu 99,9% identisch ist, werden Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe oder kulturellen Identität diskriminiert.

• Eine weitere Kategorie in diesem Zusammenhang bildet der Körper bzw. seine Konstitution. Diese ist oftmals ausschlaggebend für den Erwerbs-, Berufs-, Einkommens- und Prestige-Status.

Mit diesen Kategorien etablieren sich in wechselseitiger Beeinflussung Versorgungsklassen (Pensionierte, Kinder, Jugendliche, Alleinerziehende), geschlechtsspezifische Trennungen, Diskriminierungen und Benachteiligungen aufgrund von kulturellen Merkmalen (nationale Herkunft, Religion) sowie körperlichen Merkmalen (Kranke, Behinderte, Junge, Alte). Winker und Degele betonen, dass diese Kategorien nicht nur für sich genommen die jeweilige Stellung anweisen, sondern dass auch hierbei die Mischverhältnisse und wechselseitigen Beeinflussungen maßgebend sind. Dadurch zeichnet sich im intersektionalen Ansatz in der Darstellung und Analyse von sozialer Ungleichheit ein qualitativer Unterschied zu anderen Ansätzen ab: Neben dem Blick auf die vertikalen Ungleichheiten werden horizontale Aspekte und deren Wechselwirkungen untersucht. Im Gegensatz zur traditionellen Ungleichheitsforschung, die auf eine statistisch präzise Erfassung von Ungleichheiten fokussiert ist, spielen für den intersektionalen Ansatz strukturelle Hintergründe und Bedingungen ebenso eine große Rolle wie individuelle Reproduktionsweisen von sozialer Ungleichheit.

Zusammenfassend betont der intersektionale Forschungsansatz, dass soziale (Ungleichheits-)Kategorien wie Herkunft, Geschlecht, Schichtzugehörigkeit, körperliche Beeinträchtigungen etc. nicht isoliert voneinander analysiert werden können, sondern in ihrer Verwobenheit und in Überkreuzungen mit gesellschaftlichen Voraussetzungen in Wirtschaft, Politik, Kultur etc. Das Forschungsfeld bzw. der gemeinsame Gegenstand der Intersektionalität sind demnach vielmehr Macht-, Herrschafts- und Normierungsverhältnisse (vgl. auch Kapitel 2.3; 4) und Dimensionen, auf denen diese Verhältnisse sich verdeutlichen.

Somit ist die moderne Ungleichheitsforschung vielmehr auf die ungleiche Verteilung von Ressourcen fokussiert und fragt danach, durch welche Mechanismen sich soziale Ungleichheit gerechtfertigt und reproduziert bzw. warum Menschen diese Verhältnisse nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst hinnehmen. Wie sich aus diesen Modellen verdeutlicht,[21] existieren vielfältige Forschungsansätze, um die unterschiedlichen Ebenen sozialer Ungleichheit zu erfassen.

Besonders die aktuellen Debatten zur „Intersektionalität“ fokussieren auf die Verwobenheit und das Zusammenwirken verschiedener Ungleichheitskategorien sowie unterschiedlicher Dimensionen sozialer Ungleichheit (vgl. Kapitel 4).

Im Folgenden wird daher zuerst auf den Stellenwert von Macht- und Herrschaftsverhältnissen im Intersektionalitätskonzept eingegangen, um zu erklären, wie soziale Ungleichheit in diesem Zusammenhang hergestellt und weshalb sie hingenommen wird.

2.3 Stellenwert von Macht- und Herrschaftsverhältnissen im intersektionalen Forschungsansatz

Gesellschaftliche Strukturen werden wesentlich von Macht- und Herrschaftsverhältnissen geordnet. Der Unterschied zwischen Macht und Herrschaft besteht in der unterschiedlichen Wirkung auf die Individuen. Über eine gewaltsame oder illegitime Ausübung von Zwang auf Individuen vollziehen sich Herrschaftsverhältnisse, welche den Handlungsspielraum von Individuen einengen oder verunmöglichen. Machtverhältnisse hingegen wirken indirekt und vermittelt (vgl. Lemke 1997: 304f.). Das heißt, Herrschaftszustände kristallisieren sich heraus, wenn bestimmte Menschen „mehr oder weniger umfassend die Führung anderer Menschen bestimmen“ (Foucault zitiert in Lemke 1997: 305) können bzw. wenn es einer bestimmten Gruppe gelingt, Machtverhältnisse zu blockieren, unbeweglich und bewegungslos zu machen sowie ein dauerhaftes Ungleichgewicht von Macht zu etablieren. Das Ungleichgewicht von Macht innerhalb einer Gesellschaft sowie die Hierarchisierung von Macht, um die Gegen-Macht zu annullieren, lassen sich daher als Herrschaft oder Hegemonie verstehen. Wesentlich beteiligt an dieser ungleichen Verteilung von Macht sind ökonomische Gewaltverhältnisse durch die kapitalistische Wirtschaftsordnung, ideologische sowie repressive Staatsapparate (Schule, Familie, Kindergarten oder Polizei, Militär, Recht etc.), welche durch ihr Gewaltmonopol ausschließlich herrschaftssichernde Formen von Macht zulassen.

Antonio Gramscis Hegemonietheorie beschäftigt sich mit diesen umkämpften Prozessen, den Rahmenbedingungen zur Konstitution von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und der Vermittlung von hegemonialen Denkformen durch Staatsapparate. Nach Gramsci wird Hegemonie ausgeübt, indem ein Konsens innerhalb der jeweiligen Staatsform organisiert wird, um so durch die Unterstützung des individuellen Staatsbürgers/[22] der individuellen Staatsbürgerin die Duldung bzw. Zustimmung der Gesellschaftsformation zu erzielen (vgl. Gramsci 1980: 277). Hegemonien konstituieren sich, indem ein hegemonialer Block bzw. ein bestimmtes Klassenbündnis gesellschaftliche Kräfte kontrolliert und Herrschaftsverhältnisse entstehen lässt. Gramsci spricht in diesem Fall von der „Erziehung“ der Staatsbürger_innen, die die Aufgabe hat, die Gesellschaft auf ein bestimmtes kulturelles und ideologisches Niveau zu heben, das den Interessen der Herrschenden entspricht. Hegemonien beruhen vor allem auf der ideologischen Unterwerfung und werden durch Politik vermittelt (vgl. Hall 1994: 121ff.). Hegemonien können so als Zustand sozialer Autorität seitens eines bestimmten hegemonialen Blocks über die gesamte Gesellschaftsformation verstanden werden (vgl. Demirovic 1992; Hirsch 1992). Herrschaft bzw. Hegemonien sind somit Verkörperungen sozialer Ungleichheit. Am Beispiel der Schweiz lässt sich z.B. der Toggenburgerkrieg von 1712 anführen. Dieser war u.a. ein Konflikt, der darüber entscheiden sollte, ob der Katholizismus oder die Reformation das gesellschaftliche Leitbild sein sollte. Mit dem Sieg der Reformierten entstand eine Neuordnung der politischen Verhältnisse, mit der die strukturelle Herrschaft des Protestantismus in großen Teilen der Ostschweiz gesichert wurde.

2.3.1 Strukturelle Herrschaftssicherung

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit ökonomischen und institutionellen Herrschaftsbedingungen als Voraussetzungen, um soziale Ungleichheit zu etablieren Die Entstehung von Herrschaftsbedingungen lassen sich wie folgt beschreiben:

Zweck der kapitalistischen Warenproduktion ist die Erschaffung von Wert als abstrakter Reichtum. Folglich kann eine kapitalistische Gesellschaft nur Bestand haben, „wenn eine ausreichende Rate und Masse des Mehrwerts bzw. Profits erzeugt wird“ (Hirsch 1995: 49). Dieser Prozess steht historisch in Verbindung mit der sogenannten ursprünglichen Akkumulation. Grundsätzlich lassen sich zwei Mechanismen hierbei beschreiben, die zu einer ursprünglichen Kapitalanhäufung führen:

• Es bedarf Personen, die freie Eigentümer_innen ihrer Arbeitskraft sind und die auf dem Markt nicht als Leibeigene, sondern als juristisch gleiche Personen gegenüber den Käufer_innen von Arbeitskraft auftreten und für ihre geleistete Erwerbsarbeit einen Lohn erhalten (vgl. stände- und klassentheoretische Forschungsansätze). Lohnabhängige verkaufen immer nur temporär ihre Arbeitskraft, und es bedarf gesellschaftlicher Regulationen, um Arbeitskräfte als Personen rechtlich so frei zu halten, dass sie über ihre Ware Arbeitskraft verfügen können.

• [23]Es bedarf Personen, die frei von Produktionsmitteln sind und frei von genügend Geld, um sich Produktionsmittel kaufen zu können. Das bedeutet, dass diese Personen einem ökonomischen Zwang unterliegen, ihre Arbeitskraft als Ware anzubieten (vgl. MEW 23: 742).

Aus diesem Zusammenhang lässt sich die Grundstruktur des kapitalistischen Wirtschaftens zusammenfassend beschreiben: Durch die kapitalistische Produktionsweise sind notwendigerweise gesellschaftliche Widersprüche vorhanden. Hierbei beruht der Widerspruch auf der Spaltung zwischen Produktionsmittelbesitzenden und Lohnabhängigen. Diese (Klassen-)Widersprüche wiederum sind ein grundlegender Bestandteil, ohne den das kapitalistische System nicht funktionieren könnte. Merkmal hierbei ist, dass diejenigen, die den gesellschaftlichen Reichtum erarbeiten, nicht die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und das Produkt ihrer Arbeit haben. Die Verfügungsgewalt über gesellschaftlichen Reichtum, über Produktion und Verteilung, über Rechtsstatus und Zugang zu Ressourcen wird ganz allgemein über ein Gewaltmonopol etabliert (vgl. Hirsch 1974: 41; 1990: 33ff.; 2005: 111ff.; Kohlmorgen 2004: 22).

Der kapitalistische Profit entspringt aus der lebendigen menschlichen Arbeit und entsteht dadurch, dass Lohnabhängige den Wert einer Ware durch unbezahlte Mehrarbeit erzeugen. Um dies zu erreichen, müssen Lohnabhängige länger arbeiten, als ihnen dafür bezahlt wird (vgl. Aglietta 1979: 38f.; Lipietz 1985: 120; Hübner 1990: 105). Der Wert einer Ware wird „durch die in ihr enthaltene gesellschaftlich notwendige Arbeit“ (MEW 20: 97f.) gemessen. Allerdings werden in einer kapitalistischen Gesellschaft Waren nicht durch konkrete menschliche Arbeiten bemessen oder in Verbindung gesetzt, sondern in und durch die Geldform. Das bedeutet letztlich, dass die Geldform das mehrwertproduzierende Element und die dadurch entstehenden gesellschaftlichen Beziehungen der Produzent_innen verschleiert. Und „im Geld als allgemeines Äquivalent tritt den Menschen die nicht unmittelbar herstellbare Gesellschaftlichkeit ihrer Arbeiten als ein äußerer, sie beherrschender Zwangszusammenhang entgegen“ (Hirsch 2005: 22). In dieser Logik stehen auch nicht die Bedarfsbefriedigung und die konkrete Nützlichkeit der erschaffenen Gebrauchswerte von Waren (z.B. Co2-neutrale Autos mit Elektromotor) im Vordergrund der kapitalistischen Produktionsweise, sondern die Verwertbarkeit der Waren, das heißt möglichst kostengünstige Produktionsfaktoren und maximale Mehrwertproduktion (Autos mit Verbrennungsmotor).

Ziel der kapitalistischen Produktionsweise ist es, immer größeren Mehrwert in einer immer kürzeren Zeit anzuhäufen, damit der Prozess der Herstellung, der Verkauf einer Ware und der dadurch erzielte Wert wieder zum Ausgangspunkt eines neuen Zyklus wird (vgl. MEW 23: 189). Dies wir[24] auch als Reproduktion des Kapitalverhältnisses verstanden. Das bedeutet abschließend, dass der Prozess der Wiederholung des Produktionsprozesses, der sich als Reproduktion beschreiben lässt, nur Bestand haben kann, wenn die verschiedenen Ebenen der Produktionsweise durch ein sicheres Fortbestehen der Produktionsverhältnisse (soziale, juristische, politische Bedingungen) reproduziert werden (vgl. Althusser 1977: 108ff.; Balibar 1977: 327). Da der Kapitalismus nicht in der Lage ist, ohne Arbeitskräfte auszukommen, ist dieser auch auf Reproduktionstätigkeiten (Gebären, Pflegen, Care Working etc.) angewiesen, um Arbeitskräfte gesund zu halten oder um neue Generationen von Arbeitskräften hervorzubringen. Dieses Reproduktionsverhältnis wird dadurch zu einem zentralen Element der kapitalistischen Herrschaftsorganisation (vgl. Hirsch 1995: 49f.; Diettrich 1999: 91; Kohlmorgen 2004: 39).

In der kapitalistischen Herrschaftsorganisation gibt es mehrere mögliche Szenarien zur Regulation bzw. Steuerung der (Klassen-)Widersprüche (vgl. Hirsch 1974: 29–49; Hübner 1990: 246ff.; Conert 1998: 289). Der Begriff der Regulation lässt sich als Art und Weise der „einwirkenden institutionellen Beschränkungen“ (Hübner 1990: 115) auf die Kapitalakkumulation (Anhäufung von Kapital) definieren. Diese steuernde Einwirkung findet einschließlich über die staatliche Herrschaftsorganisation statt und damit über „das Hegemonialverhältnis im Sinne generalisierter Vorstellungen von Ordnung und Entwicklung der Gesellschaft“ (Hirsch 2001: 174). Diese Tätigkeiten können „nur in der Weise stattfinden, in der politische Gemeinschaftlichkeit in der kapitalistischen Gesellschaft möglich ist: mittels des Staates“ (Hirsch 2005: 28).

„Der Staat“ als Subjekt existiert nicht; er verfolgt keine eigenen Ziele, sondern er ist ein gesellschaftliches Verhältnis. Die politische Form bzw. die Staatsform bestimmt sich aus den jeweiligen Kräfteverhältnissen und Konfliktachsen der Gesellschaftsformation und drückt sich dementsprechend in institutionellen Konfigurationen bzw. Staatsapparaten aus (vgl. Agnoli 1975, 1995; Hirsch 2005: 28; Hirsch/Kannankulam 2006: 77; Poulantzas 1980: 228). Das soll nicht bedeuten, dass der Staat einfach aus der Kapitalbewegung ableitbar wäre, sondern diese Sichtweise besagt, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem und seine Unternehmen für ihre Existenz ein System benötigen, das im Prinzip die Reproduktion von Arbeitskräften garantiert und einen Ausgleich der sozialen und strukturellen Widersprüche ermöglicht. „Staat“ und „Kapital“ sind folglich keine Widersprüche, sondern zwei zusammengehörende und in sich verwobene Struktureinheiten einer kapitalistischen Gesellschaftsformation.

Die in staatlichen Institutionen materialisierten gesellschaftlichen Machtverhältnisse bzw. das Gewaltmonopol des Staates besitzen gegenüber[25] gesellschaftlichen Veränderungen eine relative Festigkeit. Das Gewaltmonopol – Judikative, Legislative, Exekutive – des Staates soll die Rechte der Gesamtheit bzw. seiner Staatsbürger_innen gegenüber willkürlicher Machtausübung sowie vor gewaltsamer Durchsetzung egoistischer Einzelinteressen schützen. Durch staatliche Maßnahmen und Instrumente – Gewaltmonopol, Überwachung durch Gesetze, Garantie auf Privateigentum, Bereitstellung von Infrastruktur, Reproduktion und Ausbildung von Arbeitskräften, Versicherungsleistungen – werden wiederum Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise garantiert (vgl. Hirsch 2005: 49). Der Zusammenhang zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und der institutionellen Herrschaftsorganisation besteht darin, dass ökonomische Strukturen auf dauerhafte institutionelle Formen angewiesen sind. Die Besonderheit des Staates gegenüber konkurrierenden bzw. sich bekämpfenden gesellschaftlichen Kräften liegt darin, dass der Staat zum Ort der Vermittlung sozialer Kompromisse und Gleichgewichte wird (vgl. Hirsch 2005: 30).

„Der Staat ist eine Form der Regulation, damit die verschiedenen Fraktionen der Gesellschaft (die durch die sozialen Verhältnisse bestimmt sind: die sozialen Klassen, die Geschlechter, die Stände oder die Individuen) sich nicht in einem Kampf ohne Ende zerreiben“ (Lipietz 1985: 112).

Die Regulation erfolgt dabei als Kombination von Zwang (Gesetze, Verordnungen) und Vertrag (institutionalisierter Kompromiss, gesellschaftliche Zustimmung), durch spezielle institutionelle Formen (Familie, Ehe, Haushalt) und gesellschaftliche Normen (Heteronormativität) (vgl. Hübner 1990: 175; Kohlmorgen 2004: 49ff.). Die vom Staat monopolisierte Gewalt bezieht zudem permanent Mechanismen des Konsenses ein, um die Materialität des gesellschaftlichen Körpers zu gestalten. Damit eine Herrschaftslogik erfolgreich sein kann, ist ein relativ „innerer sozialer Frieden“ notwendig. Das Prinzip des „inneren sozialen Friedens“ setzt ein geschlossenes, auf sich bezogenes Staatssystem voraus. Die institutionelle Herrschaftsorganisation drückt sich dabei in repressiven und ideologischen Staatsapparaten aus. Die repressiven Staatsapparate, die durch unmittelbare und mittelbare Gewalt funktionieren, umfassen Regierung, Verwaltung, Armee, Polizei, Gerichte, Gefängnisse usw., die wiederum auf der Grundlage ihrer Verfassung ausschließlich staatstragende Entwicklungen zulassen. „Die Rolle des repressiven Staatsapparates besteht vor allem darin, als repressiver Apparat mit (physischer oder nicht-physischer) Gewalt die politischen Bedingungen der Reproduktion der Produktionsverhältnisse zu sichern […]“ (Althusser 1977: 124). Repressive Herrschaftsverhältnisse sind über Gesetz[26] und Recht sowie konkret über die Durchsetzung gesellschaftlicher Ordnung mittels Maßregelung und Strafe vermittelt. Diese repressiven Herrschaftsverhältnisse legitimieren damit den Klassenwiderspruch und halten somit die soziale Ungleichheit aufrecht.

Der Begriff des Staates lässt sich in diesem Zusammenhang allerdings nicht ausschließlich auf die Rolle der Disziplinar- und Kontrollmacht beschränken. Bei der Reproduktion der Produktionsverhältnisse fällt den repressiven Staatsapparaten die Aufgabe zu, nicht nur sich selbst zu reproduzieren, sondern auch die politischen Rahmenbedingungen der ideologischen Staatsapparate (vgl. Althusser 1977: 124) und der sozialen Formen (vgl. Hirsch 2005: 43) zu schaffen und damit Voraussetzungen für eine Einflussnahme auf gesellschaftliche Praxen zu gewährleisten. Um nicht repressive Regulationsapparate wie Gerichte, die Polizei, Gefängnisse oder das Militär für die Reproduktion sozialer Beziehungen einzusetzen – die Polizei kann schlecht die Sexualpraktiken der Staatsbürgerinnen kontrollieren – sind ideologische Apparate wie Familie, Schule oder Kirche nötig, damit bestimmte Formen der Moral und der Beziehungen kultiviert werden (vgl. Althusser 1977: 122; Hirsch 2005: 42ff.). Ein wesentliches Mittel hierfür bildet die symbolische Herrschaftssicherung.

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9783846348734
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