Читать книгу: «Allein zu zweit», страница 2

Шрифт:

3

An einem schönen Frühlingstag im Jahr 1980 hielt ich endlich das Lehrerdiplom in den Händen und begann sofort mit der Stellensuche. Wenig später bekam ich eine Zusage von der Primarschule in Jegenstorf, einem Bauerndorf nördlich von Bern. Dort hatte ich am Anfang nur ein Zimmer und verbrachte das Wochenende nach wie vor in Thun. Oft fuhr ich sogar an freien Nachmittagen heim in die elterliche Wohnung und korrigierte die Arbeiten der Kinder am See oder zu Hause auf der Terrasse mit Sicht auf die Berge.

Mein Beruf gefiel mir ausgezeichnet, er erfüllte mein Bedürfnis nach Abwechslung und Kreativität. Ich liebte den Umgang mit den Kindern und konnte ihren Wunsch nach Bewegung und Fröhlichkeit und ihre Freude an Geschichten nur allzu gut verstehen. Wurden sie beim ersten Schnee unruhig, unterbrach ich schnell die Rechenstunde und ging mit ihnen nach draußen, wo sie sich nach Herzenslust austoben konnten. Saßen sie später mit roten Wangen und glänzenden Augen wieder an ihren Pulten, lösten sie die Aufgaben schneller denn je.

Ich war mit Leib und Seele Lehrerin und nahm mir fest vor, immer ausgeglichen, fröhlich und geduldig vor meinen Schülern zu stehen. Sie zu verängstigen, lag mir fern, denn Angst spornt nicht an, sie blockiert, das wusste ich genau. Stattdessen versuchte ich, ihre Freude am Lernen zu wecken und ihnen Selbstvertrauen zu geben. Am Beispiel des Hausbaus zeigte ich ihnen, wie gut es ist, dass wir alle unterschiedliche Fähigkeiten haben. Ein Architekt allein kann kein Haus bauen, es braucht auch Elektriker, Schreiner, Maurer und Büropersonal, damit das Projekt gelingt. Die Kinder und ich waren nicht bloß eine Klasse, sondern eher eine Familie, bei der Toleranz, gegenseitiges Verständnis, Motivation, Ehrlichkeit und gute Zusammenarbeit an erster Stelle standen.

Mit der Zeit übernahm ich auch sogenannt schwierige Schüler von anderen Lehrern. Ich machte das gern und freute mich, wenn ich sah, dass sie sich mit ein wenig Verständnis, klaren Abmachungen und Mithilfe der Klassenkameraden wieder integrieren ließen. Ich war damals Unterstufenlehrerin, aber bald einmal wandten sich auch ältere Schüler mit ihren Problemen an mich. Gern nahm ich mir Zeit für sie. Die Oberstufenlehrer lachten damals über meinen Erziehungsstil, ich ließ mich davon aber nicht beirren, weil ich sah, wie das Selbstvertrauen der Teenager wuchs und sie ihr Leben besser in den Griff bekamen. Dem Schulinspektor fiel mein Engagement und meine Freude am Lehrerberuf auf, und so wurde ich bereits mit knapp 23 Jahren Übungslehrerin. Ich durfte also künftigen Lehrern und Lehrerinnen in meiner Klasse das Unterrichten beibringen. Ich hoffte, dass sich meine Freude auf sie übertragen würde, und genoss es, wenn mir das gelang und sie über die anfänglichen Unsicherheiten hinweg zu ihrem eigenen Lehrstil fanden.

Ich war auch Mitglied einer weit über den Ort hinaus bekannten Amateurtheatergruppe, die unter anderem Stücke von Leo Tolstoi, Peter Shaffer, Gerhart Hauptmann und John Patrick in Mundart aufführte. Unsere Vorstellungen waren meist schon Wochen vor Spielbeginn ausverkauft. Drei Jahre lang spielte ich in verschiedenen Produktionen eine Hauptrolle. Das war zwar sehr zeitaufwendig, gleichzeitig aber auch sehr erfüllend. Oft stand ich fünf Abende in der Woche auf der Bühne und kam kaum je vor Mitternacht ins Bett. Ich versuchte auch, in meinen Schülern die Freude an der Schauspielerei zu wecken, und schrieb Musicals und Theaterstücke für sie, die sie dann am Ende des Jahres aufführten.

Mit 24 Jahren war ich vollkommen glücklich mit meinem Leben. Unter der Woche lebte ich nun in meiner eigenen gemütlichen, nordisch eingerichteten Dreizimmerwohnung in Jegenstorf, und an den Wochenenden fuhr ich nach Thun, um meine Familie und meine Freunde zu sehen. Dann, am 3. November 1984, es war ein Samstag, rief plötzlich meine Mutter in der Schule an und teilte mir bestürzt mit, dass mein Vater eine Lungenembolie erlitten habe. Ich ließ meine Klasse in der Obhut einer anderen Lehrerin und fuhr, so schnell ich konnte, ins Spital. Als man mich nicht zu meinem Vater ließ, wurde mir klar, wie ernst die Lage war: Die Ärzte kämpften um sein Leben.

Der Anblick meiner Mutter brach mir fast das Herz, wusste ich doch, wie sehr sie ihn liebte. Ich drückte ihre zitternden Hände und redete beruhigend auf sie ein, aber sie schien mich nicht zu hören und wimmerte nur leise vor sich hin. Zusammen mit meinem Bruder und seiner Frau warteten wir und hofften, dass sich alles zum Guten wenden würde. Aber je länger wir warteten, desto größer wurde unsere Besorgnis. Endlich ging die Tür auf, ein Oberarzt kam auf uns zu und teilte uns sachlich mit, dass es ihm leidtue – »Wir haben alles versucht, konnten ihm aber nicht helfen. Er ist vor fünf Minuten gestorben.« Das kann doch nicht sein!, wollte ich schreien, er war doch so fit, so gesund und so lebensfroh! Aber da hatte der Arzt das Zimmer bereits wieder verlassen, um sich um andere Leben zu kümmern.

Nie werde ich diesen Tag vergessen, an dem ich in der Intensivstation zum letzten Mal das Gesicht meines geliebten Vaters sah. Ich stützte meine Mutter, die immer wieder versuchte, ihn aufzuwecken, und nahm tränenüberströmt Abschied von dem Mann, der meine Kindheit mit so viel Sonnenschein und Freude erfüllt hatte. Die Liebe meiner Eltern war so groß, und sie hatten noch so viele Pläne. Nun stand meine Mutter plötzlich allein da.

Die nächsten Tage verbrachte ich an ihrer Seite und versuchte, ihr etwas Halt zu geben, dabei hatte ich selber keinen mehr. Starr saß ich am Tag der Beerdigung, an dem sich mindestens 700 Menschen in der Thuner Stadtkirche versammelt hatten, um Abschied von meinem Vater zu nehmen, neben meiner Mutter und versuchte, mich auf die vielen Reden zu konzentrieren. Mein Vater war ein fröhlicher, positiver Mensch und hatte sich sein Leben lang für das Wohl seiner Mitmenschen eingesetzt. Er war mein Freund, mein Vorbild und meine Inspiration.

Mein Vater war im Spätherbst gestorben, der Winter danach war trostlos und schwierig. Ich besuchte meine Mutter, sooft ich konnte, aber die Lücke, die mein Vater hinterlassen hatte, klaffte wie eine offene Wunde zwischen uns. Ich versuchte, für sie da zu sein, hatte aber selbst keinen Ort, wo ich auftanken konnte. Sicher wären meine Freunde für mich da gewesen, aber ich fand keinen Trost darin, mit ihnen über meinen Verlust zu reden.

Kurz bevor mein Vater starb, hatte ich mich auf sein Drängen hin bei einem Hallentennisturnier angemeldet, an dem ich nun natürlich nicht teilnehmen wollte. Mein Tennislehrer ermunterte mich jedoch, dennoch anzutreten, was ich dann mit großem Widerwillen auch tat. Ich gewann das Turnier und damit die Tennistasche, von der mein Vater so geschwärmt hatte. Ich stellte sie daheim auf den Tisch und dachte an die schönen Zeiten, die mein fröhlicher Vater und ich im Tennisklub verbracht hatten. Er wäre stolz auf mich gewesen – aber eben, er war nicht mehr da.

Weihnachten verbrachten meine Mutter und ich allein, da mein Bruder arbeiten musste. Es war alles so trostlos ohne meinen Vater, aber wir versuchten, positiv zu bleiben – auch er hätte es so gewollt. Im Januar lernte ich meinen späteren Freund kennen. Ich mochte ihn auf Anhieb, und ihm schien es nicht anders zu ergehen. Er brachte wieder Fröhlichkeit in mein Leben, und das brauchte ich dringend, um für meine Mutter da sein zu können. Wir gingen Ski fahren, besuchten Rockkonzerte, spielten Tennis und kochten zusammen. Er war ein begeisterter Windsurfer und versuchte, auch mir diesen Sport näherzubringen, aber ich hatte kein Talent dazu. Viel lieber schwamm ich im See oder spielte mit Freunden am Ufer Frisbee.

Es war nicht meine erste Beziehung, aber so glücklich wie mit ihm war ich noch nie. Mein Freund wohnte mit einem Kollegen in der Nähe des Thunersees. Gern wäre ich mit ihm zusammengezogen, aber da er vor mir in einer sehr engen Beziehung gelebt hatte, wollte er jetzt, obwohl er mich liebte, erst einmal seine Freiheit genießen. Ich verstand, dass er viel Zeit mit seinen Kollegen und auf dem Wasser verbringen wollte, kam mir allerdings manchmal etwas überflüssig vor. Es lag mir fern, meinen Freund zu bedrängen, denn wenn wir uns sahen, hatten wir es immer schön. Aber bloß immer nur auf ihn warten mochte ich auch nicht, dazu war ich zu unternehmungslustig. Und so beschloss ich im Sommer 1986 spontan, mich auf eine Australienreise zu machen. Als ich meinen Freund fragte, ob er mitkommen wolle, überraschte mich seine Absage nicht. Er konnte nicht freinehmen und wollte später lieber einmal Südamerika sehen.

Als ich den Plan, nach Down Under zu reisen, mit meinen Freunden besprach, rieten sie mir ab. »Das ist ein Land für Männer«, sagten diejenigen, die sich bereits in das Land der giftigen Schlangen, Spinnen und Krokodile gewagt hatten. Aber ich lachte nur. Jetzt erst recht! »Du sprichst ja kaum Englisch«, war der Einwand meiner Mutter, und da musste ich ihr recht geben. Französisch und Italienisch konnte ich sehr gut, Englisch hingegen hatte ich in der Schule nicht gelernt. Das war allerdings kein Grund, mein Vorhaben aufzugeben. Im Gegenteil, ich hoffte, in Australien meine Englischkenntnisse verbessern zu können. Ich besuchte noch einen Anfängerkurs in Bern, lernte in der kurzen Zeit aber nicht viel mehr als »Where is the bus station?«.

Am 3. Januar 1987 war es dann endlich so weit. Ich saß im Flugzeug und warf einen letzten Blick auf die Felderlandschaft der Schweiz, die sich langsam entfernte. »Auf tolle drei Monate!«, sagte ich und hob schmunzelnd mein Glas Rotwein. Ich hatte keine Ahnung, dass diese Reise mein Leben für immer verändern würde.

4

Die erste Zeit verbrachte ich bei Freunden meiner Eltern in Perth, die mich ins australische Leben einführten. Eines Tages fuhren wir mit ihren bereits erwachsenen Kindern in die Nähe von St. Margaret River und campierten dort in der Wildnis. Ich fand das toll, und als sie mich fragten, ob ich mit ihnen an den Strand spazieren wolle, war ich sofort begeistert. Alle trugen feste Schuhe, da es aber bloß ans Meer ging, zog ich meine Sandalen an. Bald stellte ich fest, dass das kein Spaziergang war, sondern eine dreistündige Wanderung. Es war unheimlich heiß, und wir mussten über etliche Stacheldrahtzäune klettern, bevor wir endlich ans Meer gelangten. Am Strand fragten mich die andern, ob ich mich ins Wasser traue. »Aber sicher«, lachte ich verwundert. Was dachten denn diese Australier! Wir Schweizer können doch auch schwimmen!

Alle Mädchen trugen Badeanzüge, ich selber hatte nur einen Bikini dabei; aber das war egal, Hauptsache, ich konnte mich abkühlen. Fröhlich rannte ich ins Wasser, wo ich wenig später von einem lauten Dröhnen überrascht wurde. Entsetzt sah ich, dass sich über mir eine haushohe Welle auftürmte und mich zu verschlingen drohte. Ich machte augenblicklich kehrt und versuchte, den Strand zu erreichen, aber schon riss mich die Welle unter Wasser. Als ich endlich prustend wieder an die Oberfläche kam, konnte ich gerade noch meine Bikinihose retten, die hilflos an meinen Knöcheln hing. Auf wackligen Beinen taumelte ich ans Ufer und setzte mich erschöpft in den Sand. Von dort aus sah ich bewundernd zu, wie meine australischen Freunde unbesorgt und selbstsicher durch die riesigen Wellen schwammen. Erst hinterher sagten sie mir, dass das Meer bei St. Margaret für seine Wildheit bekannt sei.

An jenem Tag merkte ich, dass Australien kein Land für Schwächlinge ist. Hier muss man die Natur ernst nehmen. Die Hitze ist extrem, die Distanzen sind riesig, und das Meer ist wild. Später am Lagerfeuer lachten wir noch lange über meine Bikinihose.

Nach drei tollen Wochen in Perth flog ich weiter in den Südosten nach Adelaide, wo drei Tage später, wie verabredet, meine Freundin aus Deutschland eintraf. Zusammen mieteten wir ein Auto und fuhren 2231 Kilometer der Küste entlang, über Melbourne, Sydney, Brisbane bis nach Noosa. Es war eine tolle Zeit! Die schöne, wilde Natur Australiens faszinierte uns immer wieder. Wir schwammen im Meer, wanderten durch Regenwälder und erforschten Nationalparks. Nachts schliefen wir auf Campingplätzen oder in Jugendherbergen, wo wir viele interessante Leute aus anderen Ländern trafen. Mit ihnen gingen wir hin und wieder auch im Busch campen, was ein ganz besonderes Abenteuer war. Es gab für mich nichts Schöneres, als morgens unter freiem Himmel vom Gezwitscher der Rosellas oder vom Lachen der Kookaburras geweckt zu werden. Da wir die meiste Zeit draußen verbrachten, war ich bald einmal schokoladebraun.

Die frische Luft und die Freiheit taten mir gut, aber die Zeit verging viel zu schnell. Bald musste meine Freundin wieder zurück nach Deutschland, und mir blieb nur noch eine Woche. Ich beschloss, meine Ferien in Byron Bay abzuschließen, wo wir zuvor schon ein paar Tage verbracht hatten. In dem romantischen Dörfchen mit dem weißen Leuchtturm und den wunderschönen Sandstränden hatte ich mich auf Anhieb wohlgefühlt, und die relaxte, alternative Lebensweise der Bewohner verlieh diesem südöstlichsten Punkt Australiens einen ganz besonderen Reiz.

Da meine Freundin und ich das gemietete Auto bereits abgegeben hatten, erkundigte ich mich in der Jugendherberge in Coolangatta nach dem Busfahrplan nach Byron Bay. Anschließend ging ich in den Aufenthaltsraum, um den andern von meinen Plänen zu berichten. »Warum willst du den Bus nehmen?«, fragte mich ein Kanadier. »Ich kenne einen jungen Australier, der morgen mit dem Auto nach Byron fährt. Frag ihn doch, ob er dich mitnimmt.« Sein Vorschlag interessierte mich wenig, da ich am Abend zuvor in einem Nachtklub unliebsame Bekanntschaft mit ein paar aufdringlichen Australiern gemacht hatte. Der Gedanke, mich den ganzen Tag mit einem mühsamen Reisegefährten herumzuschlagen, war mir höchst unangenehm.

»Ich fahr gern mit dem Bus«, antwortete ich, »aber danke, dass du es mir gesagt hast.« »Sei doch nicht so«, drängte der Kanadier, »er ist sehr nett und würde dir sicher gern helfen.« »Das kann schon sein, aber ich fahre nicht gern mit Männern, die ich nicht kenne«, sagte ich und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Aber der Kanadier gab nicht auf: »So viel ich weiß, schläft er in Nummer 22. Klopf doch mal an die Tür und frag, ob er dich mitnehmen kann.« Nun musste ich lachen. Was dachte er bloß? Als ob ich nachts einen Fremden wecken würde, um ihn um eine Mitfahrgelegenheit zu bitten!

»Warte mal, dort ist er ja!«, rief da mein selbsternannter Helfer plötzlich und zeigte auf einen jungen, sehr attraktiven Mann, der auf dem Sofa im Aufenthaltsraum saß und intensiv fernschaute. Der braun gebrannte, blonde Australier mit den schönen grünen Augen war mir schon am Vortag aufgefallen. Er hatte etwas Geheimnisvolles an sich und erinnerte mich mit seinem perfekten Aussehen an Barbies Ken. Durch seine distanzierte und jungenhafte Ausstrahlung machte er einen harmlosen Eindruck, und ich entschied mich, ihn doch zu fragen.

Ich ging auf ihn zu, aber er ignorierte mich, bis ich direkt vor ihm stand. Mein freundliches »Hi« beantwortete er gleichgültig und wandte seine Augen sofort wieder dem Bildschirm zu. Nach kurzem Zögern setzte ich mich neben ihn und fragte in einer Werbepause, ob ich am nächsten Tag mit ihm nach Byron Bay fahren könne. Ohne mich anzuschauen, sagte er »Okay«, schien aber kein Interesse zu haben, mich näher kennen zu lernen. Das Geschehen auf dem Bildschirm faszinierte ihn deutlich mehr. So beschloss ich, einfach ruhig neben ihm sitzen zu bleiben und das Ende des Films abzuwarten. Ehrlich gesagt, war ich plötzlich sehr angetan von diesem hübschen Fremden, und der Gedanke, mehrere Stunden neben ihm im Auto zu sitzen, gefiel mir immer besser.

Von Zeit zu Zeit lachte er laut über einen Gag, und ich lachte mit, obwohl ich kaum etwas verstand. Schließlich sollte er ja nicht merken, dass ich mehr an ihm als am Film interessiert war. Ein wenig blieb ich aber auch aus Anstand sitzen, da ich ihm nicht das Gefühl geben wollte, dass ich ihn nur als eine günstige Mitfahrgelegenheit betrachtete. Der Film schien kein Ende zu nehmen, aber schließlich wurde meine Geduld belohnt, und »Ken« fing an, sich mit mir zu unterhalten. Er hieß Gavin und schien nun aufgeschlossen und nett zu sein. Wir fanden heraus, dass wir am selben Tag Geburtstag hatten, er aber sieben Jahre jünger war. Später in meinem Bett freute ich mich unheimlich auf unsere gemeinsame Reise.

Am nächsten Tag fuhren wir zusammen nach Byron Bay. Dort angekommen, buchte ich ein Zimmer in einem Backpacker-Hostel und war begeistert, dass Gavin sich entschloss, auch eine Woche dort zu bleiben. Auf der Fahrt hatten wir uns besser kennen gelernt, und ich war erstaunt, dass der wortkarge und distanzierte junge Mann auch eine gesprächige Seite hatte. Ich verstand zwar längst nicht alles, was er sagte, da er unheimlich schnell redete und sich meine Englischkenntnisse immer noch im Anfangsstadium befanden; aber am Ende des Tages wusste ich, dass er aus Melbourne kam, drei Geschwister hatte, als Buchhalter arbeitete und auf der Rückfahrt von einer Schaffarm war, wo er kurze Zeit als Gehilfe gearbeitet hatte, da er einmal etwas anderes ausprobieren wollte. Nach einer Woche war ihm das Farmleben aber zu eintönig geworden, und er hatte gekündigt, um stattdessen Ferien an der Küste zu machen. Bei einer rasanten Fahrt durch die Wildnis war dann die Ölwanne kaputt gegangen, und sein Auto musste zur Reparatur. Wäre er nicht stecken geblieben, hätten wir uns nie in Coolangatta getroffen.

Ich hörte ihm gern zu und genoss es, einen solch hübschen, lustigen, originellen und netten Gefährten für meine letzte Woche zu haben. Unsere gemeinsame Zeit in Byron Bay war wunderschön. Wir verbrachten die meiste Zeit am Strand, aßen Eis und spazierten am Meer entlang. Gavin half mir, mein Englisch zu verbessern, und erzählte mir abends beim Pizzaessen von seinen Zukunftsplänen. Er sagte, er wünsche sich, einmal ein erfolgreicher Steuerberater zu sein, ein eigenes Haus zu haben, eine liebe Frau zu finden und mit ihr vier Kinder großzuziehen. Ich musste lachen; für einen Neunzehnjährigen hatte er meiner Meinung nach sehr konventionelle Lebensvorstellungen. »Möchtest du denn nicht erst ein wenig das Leben genießen, bevor du eine Familie gründest?«, fragte ich. Gavin war verwirrt und hatte keine Ahnung, was ich mit meiner Frage meinte. Für ihn gab es keine bessere Art, das Leben zu genießen, als einen gut durchdachten Plan in die Tat umzusetzen.

Obwohl ich selbst ein Gefühlsmensch bin, bewunderte ich seine handfesten Pläne, zeigte er doch damit, dass er etwas mit seinem Leben anfangen wollte und nicht bloß auf der Suche nach schnellen Abenteuern war wie so viele andere Männer. Gavin schenkte mir jeden Tag seine volle Aufmerksamkeit und war nie ungeduldig oder schlecht gelaunt. Er machte mich zum Mittelpunkt seines Lebens und schien nur an mir interessiert zu sein.

So etwas hatte ich noch nie erlebt, und bevor ich es merkte, hatte ich mich in ihn verliebt. Eigentlich war das absurd, da ich ja in ein paar Tagen in die Schweiz zurückreisen würde und dort einen lieben Freund hatte, der auf mich wartete. Aber wie der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal einmal sagte: »Das Herz hat Gründe, die das Denken nicht versteht.«

Dass Gavin kein Experte war in zwischenmenschlichen Gesprächen, merkte ich damals nicht. Wann immer es ein Missverständnis gab, führte ich das auf meine schlechten Englischkenntnisse zurück. Sein Verhalten erschien mir damals nicht ungewöhnlich. Das Einzige, was mir auffiel, war, dass sich seine Stimmung nie änderte. Er schien weder extrem fröhlich noch traurig, sondern einfach immer cool und nett. »Wirst du eigentlich nie wütend?«, fragte ich einmal ganz verwirrt. »Doch«, sagte er – aber ich konnte mir das nicht vorstellen. Irgendwie konnte ich seine Persönlichkeit gar nie richtig erfassen, aber das änderte nichts an meinen Gefühlen. Ich genoss jede Minute unseres Zusammenseins. Jahre später, als alles so schwierig wurde, versuchte ich mich immer wieder an diese schönen Tage mit Gavin zu erinnern. Er war damals ein ganz anderer Mensch gewesen, immer nett, nie kritisch oder wütend, immer nur aufmerksam und lieb.

Eines Abends gingen wir nach dem Essen noch ein wenig im Mondschein spazieren. Der Strand, der tagsüber voller Leute war, schien plötzlich einsam und verlassen. Ich genoss es, den weißen Sand zwischen meinen Zehen zu spüren und das Rauschen der Wellen zu hören. Es war unheimlich romantisch. Ohne viel zu überlegen, ergriff ich Gavins Hand und drückte sie zärtlich. Dann setzten wir uns in den Sand und schauten aufs Meer. Wir wussten beide, dass ich in der Schweiz einen Freund hatte; aber das, was wir in diesem Moment füreinander spürten, war stärker. Ich lehnte meinen Kopf an Gavins Schulter und dachte traurig daran, dass ich ihn in ein paar Tagen für immer verlassen musste. Da legte er liebevoll seinen Arm um mich und küsste mich zart auf die Lippen. Obwohl ich ein schlechtes Gewissen wegen meines Freundes hatte, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, seinen Kuss zu erwidern. Es war wie ein Traum, mit diesem hübschen Australier im Mondschein am Meer zu sitzen. Solche Momente sind selten, dachte ich und ergab mich meinen Gefühlen.

Wir küssten uns an diesem Abend noch lange. Dann lagen wir eng umschlungen am Strand, bis wir so müde waren, dass wir uns auf den Heimweg machten. Hand in Hand und total verliebt liefen wir zum Hostel zurück, wo Gavin in seinen Schlafraum ging und ich in meinen. Ein paar Küsse, ein paar Zärtlichkeiten, eine endlose Umarmung – mehr war an diesem Abend nicht passiert. Mir war das recht. Ich wollte unsere Freundschaft nicht in eine billige Liebesaffäre verwandeln, und ihm schien es gleich zu gehen. Er war in keiner Weise aufdringlich. Ich fand das schön. Das war ich nicht von allen Männern gewohnt.

Unsere Woche in Byron Bay ging viel zu schnell vorbei, und bald war es Zeit für mich, heimzufliegen. Gavin fuhr mich zum Flughafen, und obwohl er absolut nicht in mein Leben passte, brach es mir fast das Herz, mich von ihm zu verabschieden. Nach einer letzten Umarmung war es dann so weit. Bevor ich durch den Zoll ging, lächelte ich ihm unter Tränen noch einmal zu und sah ihn winken, dann drehte er sich um und verschwand in der Menge. Während des Flugs versuchte ich mir klarzumachen, dass meine Hoffnung auf eine echte, tiefe Beziehung mit meinem grünäugigen Australier total unrealistisch war. Aber bald einmal gab ich auf, mich gegen meine Gefühle zu wehren, schloss die Augen und durchlebte in Gedanken noch einmal die wunderschöne Zeit mit Gavin.

Später in der Schweiz versuchte ich, den hübschen, aufmerksamen, seltsam distanzierten Mann mit den ungewöhnlichen Augen erneut zu vergessen, aber es gelang mir nicht. Da sich meine Gedanken nur noch um meine Ferienliebe drehten, beschloss ich eines Tages, die Beziehung mit meinem Freund zu beenden. Gavin schrieb mir mindestens drei Briefe in der Woche, deren Inhalt mich tief berührte. Überrascht stellte ich fest, dass er seine Gefühle schriftlich viel besser ausdrücken konnte als mündlich. Ich hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, wie viel ich ihm bedeutete.

»Ob du gesund bist oder krank, fröhlich oder traurig, wach bist oder schläfst, allein bist oder mit Freunden – ich werde immer für Dich da sein und Dir Liebe und Sicherheit geben.« Nie zuvor hatte ich solch wunderschöne Liebesbriefe erhalten. Mithilfe meines Wörterbuchs antwortete ich, und durch den regen Briefwechsel gelang es uns, unsere Beziehung aufrechtzuerhalten. Eines Tages schrieb Gavin, er habe jetzt genug Geld beisammen und könne für drei Monate in die Schweiz kommen. Ich freute mich unheimlich. Am 2. Juli 1987, zweieinhalb Monate nach unserer ersten Begegnung, holte ich meinen Traummann vom Flugplatz ab.

956,63 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
243 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783037635780
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают