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4. Felix

Al­les war per­fekt.

Er hat­te es ge­schafft, un­ter Auf­bie­tung sei­nes Ch­ar­mes, sei­nes strah­len­den Lä­chelns und et­was Geld aus der Kas­se des Hau­ses Lue – Aus­ga­ben, die Ali­xe­na mit Si­cher­heit ge­neh­mi­gen wür­de – ei­ne Bah­re aus schwar­zem Glas auf­zu­trei­ben.

Die Lei­che von Lord Ge­ro ver­schwand na­he­zu un­ter den Ber­gen aus Ro­sen, weiß wie Schnee und rot wie Blut. Scha­de um das schwar­ze Glas, aber ver­mut­lich wür­de das die Ein­äsche­rung oh­ne­hin pro­blem­los über­le­ben und Fe­lix wür­de einen Weg fin­den, die wert­vol­le Res­sour­ce wie­der an sich zu brin­gen. Voll­kom­men schwar­zes Glas war zu kost­bar, um es in ei­ner Gruft zu­sam­men mit et­was Asche ver­schwin­den zu las­sen. Da­von konn­te er mit Si­cher­heit selbst ei­ne trau­ern­de Wit­we über­zeu­gen. Na­tür­lich erst, nach­dem er sie char­mant emp­fan­gen hat­te und sie Zeit be­kam, die Si­tua­ti­on zu ver­ar­bei­ten.

Wie aufs Stich­wort fuhr Ali­xen­as Dampf­mo­bil di­rekt in den um­zäun­ten und ab­ge­trenn­ten In­nen­hof ein und füll­te al­les mit ölig-ru­ßi­gem Dampf, der sich auf die oh­ne­hin schon ge­schwärz­ten Mau­ern leg­te. Fe­lix un­ter­drück­te ein Hus­ten und lob­te sich in­ner­lich für die Ent­schei­dung, an die­sem Tag sei­ne schwarz­blaue Uni­form und nicht die leuch­tend ro­ten Trau­er­klei­der zu tra­gen. Es wür­de rei­chen, sie für die Ze­re­mo­nie an­zu­le­gen.

Die War­la­dy ließ sich vom Fah­rer aus dem ho­hen Ge­fährt hel­fen und wirk­te da­bei schwach und zer­bro­chen. Als hät­te je­mand et­was sehr Hüb­sches ge­nom­men und ab­sicht­lich fal­len ge­las­sen. Und hübsch, das war sie. Das er­kann­te er in die­sem Au­gen­blick, in dem er sie zum ers­ten Mal oh­ne ei­ne ih­rer for­mel­len Rüs­tun­gen, oh­ne Helm und oh­ne Atem­schutz­mas­ke oder Schutz­bril­le sah. Gro­ße Au­gen, vol­le Lip­pen und ei­ne schma­le Tail­le. Ver­mut­lich war sie un­ter dem dun­kel­grü­nen Rei­se­an­zug mus­ku­lös, wie es sich für ei­ne Frau ge­hör­te, die an die drei­ßig Ein­hei­ten Me­tall an ih­rem Kör­per trug. Ei­ne wirk­lich wür­de­vol­le War­la­dy und ei­ne, an de­ren Sei­te sei­ne ei­ge­ne Schön­heit noch stär­ker strah­len wür­de.

Wenn er sich aus­rei­chend be­müh­te, konn­te er noch vor dem Ablauf der ge­setz­li­chen Trau­er­zeit der neue Lord Lue wer­den.

»Ich über­neh­me von hier an.« Er ver­beug­te sich vor Ali­xe­na und scheuch­te mit ei­ner klei­nen Hand­be­we­gung den Fah­rer von ihr fort.

So­fort nä­her­ten sich ei­ni­ge Jung­knech­te und mach­ten sich dar­an, den Wa­gen zu wa­schen und zu des­in­fi­zie­ren, ehe er in die Stal­lun­gen ge­fah­ren wer­den wür­de.

»Fe­lix, nicht wahr?« Sie nahm dank­bar sei­ne Hand und lehn­te sich leicht in sei­ne Rich­tung, als wä­re ihr nach der lan­gen Fahrt schwin­de­lig.

Vor­sich­tig hielt er sie am El­len­bo­gen fest – sie um die Hüf­te zu fas­sen, wag­te er noch nicht – und führ­te sie ins In­ne­re von Palast Lue. »Fe­lix M’nao. Ich war der obers­te Kam­mer­knecht von Lord Ge­ro und Ihr Ver­lust trifft mich tief. Schließ­lich stand ich ihm sehr na­he und war an sei­ner Sei­te, als er plötz­lich starb.«

Sie at­me­te tief durch, lehn­te ih­ren Kopf an ihn. »Wie ist er ge­stor­ben?«

»Ei­ne Un­ver­träg­lich­keit. Ha­ben La­dy Ali­xe­na ge­wusst, dass Lord Ge­ro kei­ne Nüs­se es­sen kann? Er hat von ei­ner Erd­nuss ge­nascht.« Von ei­ner, die er un­ter das fein­kör­ni­ge Tee­pul­ver ge­mischt hat­te. Aber na­tür­lich hat­te man ne­ben dem To­ten ei­ne Scha­le Erd­nüs­se ge­fun­den.

»Nein, das wuss­te ich nicht. Ich wuss­te, dass er kei­ne Boh­nen es­sen darf. Aber Erd­nüs­se? Das ist mir neu.« Sie droh­te fast zu stol­pern und Trä­nen schim­mer­ten in ih­ren Au­gen.

Fe­lix konn­te sich nicht vor­stel­len, wie die­se schwa­che Frau in der La­ge sein soll­te, Krieg zu füh­ren. So sen­ti­men­tal, wie sie auf den Tod ih­res Lords rea­gier­te, konn­te sie un­mög­lich hart ge­nug sein, um Men­schen zu tö­ten. Sie mach­te es ihm ge­ra­de­zu lä­cher­lich leicht.

»Ich ha­be mir die größ­te Mü­he ge­ge­ben, ihm einen Ab­schied zu ge­ben, der in Erin­ne­rung blei­ben wird. Wol­len La­dy Ali­xe­na ihn vor der Ze­re­mo­nie se­hen?«

La­dy Ali­xe­na rich­te­te sich ge­ra­de auf. »Ja. Aber zu­erst möch­te ich mei­nen Sohn se­hen. Wo ist er?«

»Er ist bei mir. Ge­hen wir.« Es war gut, dass sie in sein Zim­mer kom­men woll­te. So konn­te er ihr Ge­sicht un­auf­fäl­lig von Nar­zis­sa be­trach­ten las­sen. Wer wuss­te schon, wo­für das nütz­lich sein moch­te?

5. Alixena

Bei dem Ge­dan­ken an den An­blick des to­ten Ge­ro er­schau­er­te sie. So­lan­ge sie ihn nicht mit ih­ren ei­ge­nen Au­gen ge­se­hen und mit ih­ren ei­ge­nen Hän­den be­rührt hat­te, so­lan­ge sie nicht sei­ne Stirn ge­küsst und ih­re ei­si­ge Käl­te ge­schmeckt hat­te, so­lan­ge war er noch nicht wirk­lich ver­gan­gen, so lan­ge konn­te sie noch auf ein Wun­der hof­fen. Auf ei­ne Täu­schung. Ob­gleich ihr be­wusst war, dass es nicht pas­sie­ren wür­de, hoff­te sie, er wür­de zu ihr tre­ten und ge­ste­hen, dass ihr nur ein bö­ser Streich ge­spielt wor­den war.

Be­vor sie dem To­ten ge­gen­über­tre­ten konn­te, muss­te Ali­xe­na Da­rio se­hen, sich ver­ge­wis­sern, dass er un­ver­sehrt war.

Sie eil­te die al­ten Stu­fen des Schlos­ses hin­auf, Stu­fen aus grau­en Be­ton, an ei­ni­gen Stel­len not­dürf­tig mit Plas­tik aus­ge­bes­sert, so­dass man die ver­ros­te­ten Stahl­ge­rüs­te dar­un­ter er­ken­nen konn­te. Fast muss­te sie sich zwin­gen, sich zu­rück­zu­hal­ten, um Fe­lix’ Räu­me nicht vor ihm zu be­tre­ten. Das wä­re selbst für ei­ne War­la­dy un­ge­hö­rig ge­we­sen.

Ei­ne Ecke des Rau­mes war mit lan­gen Tü­chern ver­hängt. Ver­mut­lich zog es von dort.

Aus den Au­gen­win­keln sah sie et­was auf­blit­zen. Hor­te­te Fe­lix dort sei­nen Schmuck oder spar­te er auf ei­ne Rüs­tung? Sie könn­te es ihm nicht ver­den­ken.

Oh­ne ei­ne or­dent­li­che Rüs­tung war es schwer, sich au­ßer­halb von Be­hau­sun­gen oder Dampf­mo­bi­len auf­zu­hal­ten, aber Rüs­tun­gen wa­ren teu­er. Sie ver­schlan­gen Me­tall, Plas­tik, Dräh­te, Schmier­öl, Mem­bra­nen – Un­men­gen an Res­sour­cen, die be­grenzt wa­ren. So wie al­les auf der Er­de be­grenzt war seit der großen Dun­kel­heit. Ali­xe­na schloss die Au­gen für einen Au­gen­blick und sah wie­der die drücken­de Fins­ter­nis ih­rer Kind­heit, spür­te wie­der die aschen­graue Käl­te auf ih­rer Haut, wel­che Auf­ent­hal­te im Frei­en zu ei­ner Tor­tur ge­macht hat­te. Den Re­gen, der schmeck­te, als hät­te sie ei­ne Bat­te­rie ab­ge­leckt und von dem sie einen selt­sa­men Aus­schlag be­kam, als sie ein­mal heim­lich in den Pfüt­zen her­um­ge­sprun­gen war.

Manch­mal gab es so­gar Schnee, der Kin­der krank mach­te. So vie­le wa­ren ge­stor­ben.

Und nun hat­te sie auch Ge­ro ver­lo­ren. Ge­ro, mit dem zu­sam­men sie die­se Zeit über­lebt hat­te. Mit dem sie al­le Wi­d­rig­kei­ten ir­gend­wie über­ste­hen konn­te, weil al­lein sei­ne An­we­sen­heit al­les er­träg­lich mach­te. Die Krie­ge, den Hun­ger, die Käl­te. Spä­ter die Hit­ze und die Kämp­fe um al­les, was ge­gen die­se schütz­te.

Oh­ne ihn fühl­te sie sich un­voll­stän­dig und schutz­los. Aber sie hat­te im­mer noch einen win­zi­gen Teil von ihm: Da­rio.

Sie stol­per­te auf sei­ne Wie­ge zu, nahm ihn her­aus und brach ne­ben Fe­lix’ Bett zu­sam­men, den Säug­ling eng an sich ge­drückt. Ihr Kind war ihr ge­blie­ben, ihr ge­mein­sa­mes Kind. Ihr Sohn, der et­was von Ge­ro in sich trug, et­was von ih­rer Ver­gan­gen­heit. Sau­rer Re­gen auf Kin­der­haut. Ei­ne Ver­gan­gen­heit, die sich nie­mals wie­der­ho­len durf­te, so­lan­ge sie leb­te und dar­über hin­aus. Das war sie ihm schul­dig – und al­len an­de­ren Men­schen in ih­rem Ein­fluss­be­reich. Schluch­zer schüt­tel­ten ih­ren Kör­per und Ali­xe­na spür­te hei­ße Scham über ih­re Schwä­che. Sie war ei­ne War­la­dy. Sie muss­te die­se Emo­tio­nen im Zaum hal­ten. Ir­gend­wie. Aber sie konn­te nicht.

War­me Hän­de leg­ten sich auf ih­re Obe­r­ar­me und sie spür­te, wie je­mand sie vor­sich­tig fest­hielt. Fe­lix. Er gab ihr Halt.

Sie zog die Na­se hoch, leg­te Da­rio vor­sich­tig auf das Bett und wisch­te sich mit dem Arm über die Au­gen. »Es tut mir leid. Die­ser Aus­bruch … Ich hät­te nicht …«

»Es ist gut, Myla­dy. Sie geht sich bes­ser er­fri­schen, ich ha­be be­reits die Zo­fen ru­fen las­sen. Die Ze­re­mo­nie des Ab­schieds ist nach dem Mit­tags­mahl. Ich hät­te ger­ne mehr Zeit ge­las­sen, aber die Hit­ze … Myla­dy ver­steht.«

»Ja. Ich ver­ste­he.« Na­tür­lich. Sie hat­ten nur be­grenz­te Mög­lich­kei­ten, Ge­ros Kör­per zu küh­len. »Ich wer­de mich mei­nes Ran­ges ent­spre­chend ver­hal­ten.« Sie nahm ihr Kind wie­der an sich und ging hoch er­ho­be­nen Haup­tes in die an­gren­zen­den Räu­me – die, die sie mit Ge­ro ge­teilt hat­te. Die, in de­nen al­les sie an ihn er­in­nern wür­de, selbst die drei jun­gen Frau­en, die mit de­mü­tig ge­senk­ten Köp­fen dar­auf war­te­ten, sie nach der lan­gen Rei­se zu ver­sor­gen.

Sie muss­te stark sein. Ge­ros Rei­se war ei­ne viel län­ge­re, und sie hat­te ihn an ih­rem Be­ginn zu be­glei­ten.

So­bald die Son­ne end­gül­tig un­ter­ge­gan­gen war – ein Zeit­punkt, der schwer fest­zu­stel­len war in ei­ner Welt, in der der Him­mel seit Jah­ren nicht rich­tig auf­zu­kla­ren schi­en – er­tön­ten die ri­tu­el­len Trom­meln.

Ali­xe­na zog sich den Schlei­er aus hauch­dünn ge­walz­ten, ro­ten Plas­tik­strei­fen vor das Ge­sicht und trat mit Da­rio auf dem Arm und Fe­lix an ih­rer Sei­te lang­sam den Weg in den Kel­ler an, wo der rie­si­ge Bren­no­fen stand.

Skla­ven mit ge­scho­re­nen Köp­fen, nur mit ro­tem Len­den­schurz be­klei­det, stan­den bar­fuß ent­lang ih­res We­ges und schlu­gen die Trom­meln im Rhyth­mus ei­nes sehr lang­sa­men, na­he­zu ver­k­lun­ge­nen Herz­schlags.

Je­der Schlag vi­brier­te auch durch Ali­xen­as Adern, droh­te, auch ihr Herz zu ver­lang­sa­men. Sie zwang sich, ih­ren Atem nicht an die Trom­meln an­zu­pas­sen und mit Da­rio so zü­gig wie mög­lich in den Kel­ler zu schrei­ten.

Vor der ver­rie­gel­ten Kel­ler­tür war­te­ten drei Pries­te­rin­nen auf sie.

Ei­ne nahm ihr ih­ren Sohn ab, die an­de­re ih­ren Schlei­er und die Drit­te zeich­ne­te mit wei­ßer Far­be Punk­te auf ih­re Wan­gen, dann mit ro­ter Far­be einen lan­gen Strich von ih­rer Stirn über ih­re Na­se bis zu ih­rem Kinn.

»Lord Ge­ro Lue ist in das Haus der Nacht­kö­ni­gin ein­ge­zo­gen. Er sitzt an ih­rer Ta­fel, doch er kann ih­re Spei­sen nicht es­sen und ihr Was­ser nicht trin­ken.«

Die Trom­meln wur­den schnel­ler, be­glei­tet von Skla­ven, die mit Schel­len an den Fuß­knö­cheln tanz­ten.

»Ich ha­be mit mei­nen Ge­be­ten sei­nen Weg be­glei­tet, da­mit er an ih­rer Ta­fel sit­zen kann. Was muss ich tun, da­mit er von ih­rer Ta­fel spei­sen kann?«

»Er muss durch das Feu­er ge­hen. So­lan­ge er nicht be­reit ist, wer­den ihm kei­ne Spei­sen be­rei­tet.«

Ali­xe­na senk­te den Kopf. »So sei es.«

Im­mer noch tan­zend und mit den Fuß­schel­len klin­gelnd, öff­ne­ten die Skla­ven die Tür in den Kel­ler.

Vor dem Ofen lag Ge­ro auf sei­ner Glas­bah­re, die Blu­men auf sei­nem Kör­per schon leicht ver­welkt.

Der süß­li­che Ge­ruch nach Ver­we­sung misch­te sich mit dem Duft der Ro­sen, aber auch mit dem leicht fau­li­gen Ge­ruch der be­reits wel­ken Blät­ter. Die Hit­ze in dem klei­nen Raum ließ die Far­be auf ih­rem Ge­sicht schmel­zen. Sie muss­te all ih­re Wil­lens­kraft auf­brin­gen, um kei­ne Mie­ne nicht zu ver­zie­hen. Wenn sie einen Feh­ler mach­te, wür­de es Ge­ro bei der Nacht­kö­ni­gin schlecht ge­hen.

Ein Lä­cheln droh­te, ih­re Mund­win­kel zu rüh­ren. Ei­ne Trä­ne, ihr Au­ge beim Ge­dan­ken an ihn zu ver­las­sen. Sie wuss­te, welch ein Ge­schenk wah­re Lie­be war. Sie muss­te dank­bar sein, es über­haupt er­hal­ten zu ha­ben, statt dar­um zu trau­ern, dass es ihr wie­der ge­nom­men wor­den war. Aber wie­so tat ihr Herz da­bei so weh?

Man durf­te es ihr nicht an­mer­ken.

Im Rhyth­mus der Trom­meln schritt sie zur glä­ser­nen Bah­re.

Das Ra­scheln und Klin­geln der tan­zen­den Skla­ven, die Gerü­che und die Hit­ze um­ne­bel­ten in ih­ren Ver­stand, bis sie nur noch ver­schwom­men sah, fast wie in Tran­ce agier­te.

Ei­ne Pries­te­rin reich­te ihr ei­ne Scha­le mit ro­ter Far­be.

Ali­xe­na trug sie auf ih­re Lip­pen auf und drück­te einen Kuss auf Ge­ros Stirn. »Mit die­sem Kuss zeich­ne ich dich. Durch die­ses Zei­chen wer­de ich dich an der Ta­fel der Nacht­kö­ni­gin wie­der­fin­den, wenn ich einst selbst hin­ab­stei­ge.« Sie trat zu­rück und drück­te den He­bel her­un­ter, der die Bah­re aus schwar­zem Glas lang­sam ins In­ne­re des Ofens fah­ren ließ.

Die Trom­meln stei­ger­ten sich zu ei­nem schnel­len, fast ra­sen­dem Rhyth­mus. Ihr Herz droh­te, mit den Trom­meln aus ih­rer Brust zu sprin­gen. Das Ra­scheln und Klin­geln um sie her­um wob sie in die Schat­ten ein. Im­mer wil­der die Tän­ze, im­mer schnel­ler die Trom­meln, im­mer hei­ßer die Luft, bis sie es über Ge­ro flim­mern sah und die Ro­sen­blü­ten ver­glüh­ten, noch ehe sein Kör­per die Klap­pe er­reicht hat­te.

Zu­letzt sank sie zu Bo­den, ihr Kör­per zuck­te und als sie schrie, ver­band sich ihr Schrei mit dem Glü­hen der Welt um sie her­um.

Ge­ro war an­ge­kom­men.

Gegenwart
1. Elessa - 15 Jahre später

Wie lan­ge soll­te sie noch vor dem Spie­gel sit­zen und sich sämt­li­che Haa­re zie­hen las­sen? Sie war sich je­den­falls si­cher, dass sie mit je­dem Strich des Lo­cken­kamms et­li­che da­von ver­lor, und das woll­te sie ga­ran­tiert nicht: mit ei­ner Glat­ze zum Fest im Cl­an­schloss der Lue er­schei­nen. Glat­zen hat­ten nur al­te Men­schen. So alt, dass sie sich noch an die gan­ze Zeit der Gro­ßen Dun­kel­heit er­in­nern konn­ten. De­nen hat­ten da­mals der Re­gen die Haa­re di­rekt vom Kopf ge­spült. Was Eles­sa trotz des ner­vi­gen Un­ter­richts, den ih­re Mut­ter ihr auf­zwang, noch nicht ganz ver­stand. Nicht, dass es sie über­haupt in­ter­es­sier­te.

Sie bau­mel­te mit den Bei­nen und wünsch­te sich weit weg aus dem Palast der Do­tar. Zu den Stra­ßen­rat­ten, wo ih­re wirk­li­chen Freun­de wa­ren. Wo ih­re An­we­sen­heit et­was än­der­te. Wenn sie sich in die Lum­pen un­ter ih­rem Bett hüll­te, die Hän­de mit Bin­den um­wi­ckel­te und mit ih­nen in den Müll­ber­gen um Do­tar-Schloss nach Plas­tik, Glas und Me­tal­len such­te, fühl­te sie sich frei. Sie brauch­te das Geld nicht, aber sie war gut, und konn­te mit ih­rer Su­che zu­min­dest die Ar­men un­ter­stüt­zen. Hier je­doch, hier fühl­te sie sich nutz­los. Ih­re Mut­ter schenk­te ihr al­les, was sie woll­te – so­lan­ge es Din­ge wa­ren. Aber das, was sie wirk­lich woll­te, be­kam sie nicht: Frei­heit.

Schloss Do­tar war ein hüb­scher Kä­fig vol­ler Me­tall­fä­den und glit­zern­der Glas­s­tei­ne, vol­ler dünn ge­walz­ter Plas­tik­blät­ter mit hin­ein­ge­drück­ten Ge­schich­ten und mit Ge­wächs­häu­sern vol­ler nütz­li­cher und schö­ner Pflan­zen. In all­dem fühl­te sie sich die meis­te Zeit so sehr ein­ge­sperrt, dass sie nachts in ihr Kopf­kis­sen schrie, bis sie kei­ne Kraft mehr hat­te und vor Er­schöp­fung ein­sch­lief.

Die Zo­fen hör­ten end­lich auf, an ih­rem Haar her­um­zu­zup­fen – was sprach ge­gen prak­ti­sche Zöp­fe? – und zeich­ne­ten ihr statt­des­sen das tra­di­tio­nel­le Mus­ter der Do­tar aufs Ge­sicht. Den ge­rad­li­ni­gen dun­kel­ro­ten Strei­fen von Schlä­fe zu Schlä­fe, über ih­re ge­schlos­se­nen Au­gen­li­der hin­weg und über ih­ren Na­sen­rücken.

Im­mer­hin war ihr Ge­sicht nicht so bleich wie das ih­rer Mut­ter, bei der die­ser Strei­fen im­mer wirk­te, als hät­te sie Blut im Ge­sicht. Den­noch – die Be­ma­lung fühl­te sich un­an­ge­nehm an und sie war sich si­cher, dass die Far­be span­nen und brö­ckeln wür­de, be­vor sie ihr Ziel er­reicht hat­ten. Al­so wo­zu das Gan­ze, wenn es oh­ne­hin die nächs­ten Ta­ge über nie­mand se­hen konn­te?

Nach der Ant­wort brauch­te sie al­ler­dings gar nicht fra­gen, denn sie lau­tet stets gleich: Weil sie ei­ne Do­tar war und es sich so ge­hör­te. Da­rum.

Das war auch der Grund, aus dem sie sich in ih­re Klei­dung zwän­gen ließ – ein Groß­teil da­von be­stand aus ir­gend­wie zu­sam­men­ge­such­ten Stoff­res­ten, die je­mand ein­heit­lich dun­kel­blau ge­färbt hat­te, ge­mischt mit ei­nem Ge­we­be aus lang­ge­zo­ge­nen Plas­tik­fä­den. Fast so sta­bil wie ei­ne Rüs­tung und mit Si­cher­heit ge­nau­so einen­gend. Auch wenn Eles­sa noch kei­ne Rüs­tung tra­gen muss­te – sie leb­ten nicht mehr in der ver­gan­ge­nen Zeit, in der man so­gar für Kin­der wel­che an­ge­fer­tigt hat­te. Wenn sie ehr­lich war, war sie froh dar­über, über ih­ren Sa­chen nicht auch noch die­sen Me­tall­klotz tra­gen zu müs­sen.

Trotz­dem wür­de sie lie­ber ih­re Stra­ßen­rat­ten­klei­dung tra­gen. Al­les nur Lum­pen, aber im­mer­hin wei­che, ab­ge­tra­ge­ne Lum­pen, aus Stoff, fast oh­ne Plas­tik, mit aus Rat­ten­fel­len zu­sam­men­ge­näh­ten Legg­ins, in de­nen sie nicht an­nä­hernd so sehr schwitz­te wie in de­nen aus ei­nem glän­zen­den, schwar­zen Stoff, die sie an­zu­zie­hen hat­te.

»War­la­dy Ai­no Do­tar Do­tar«, ver­kün­de­te ei­ne ih­rer Zo­fen und trat zur Sei­te, um ih­re Mut­ter ein­zu­las­sen.

Die be­trat mit ei­nem lan­gen Schritt Eles­sas Räu­me und blick­te sich mit ei­nem leicht tri­um­phie­ren­den Lä­cheln um. Als wüss­te sie ganz ge­nau, dass ein Groß­teil der be­son­ders schö­nen Din­ge in die­sen Räu­men – Spiel­uh­ren aus Me­tall, Bü­cher vol­ler in dün­nes Plas­tik ein­ge­drück­ter Ge­schich­ten, be­mal­tes Glas – Be­ste­chun­gen wa­ren. Da­mit sie, Eles­sa, ihr ge­fü­gig blieb.

Eles­sa hass­te ih­re Mut­ter von den hell­gel­ben Spit­zen ih­rer Haa­re bis zu den schwar­zen Plas­tik­spit­zen an ih­ren prot­zi­gen Schu­hen. Ei­ne Mut­ter, de­ren Blick aus merk­wür­dig rostro­ten Au­gen sie bis in ih­re Alp­träu­me ver­folg­te.

»Komm, Eles­sa. Ge­hen wir zum Dampf­mo­bil. Wir wer­den auf dem Weg nach Ac­niv ei­ni­ges zu be­spre­chen ha­ben.«

Eles­sa schluck­te. Sie hat­te kei­ne Wahl. Sie hat­te mit­zu­kom­men und sich an­zu­hö­ren, was auch im­mer ih­re Mut­ter zu sa­gen hat­te.

Wenn sie ehr­lich war, freu­te sie sich zu­min­dest dar­auf, mit dem Dampf­mo­bil zu fah­ren. Selbst wenn sie da­für die Ge­sell­schaft ih­rer Mut­ter er­tra­gen muss­te, war es doch die ein­zi­ge Mög­lich­keit, Do­tar-Schloss zu ver­las­sen und Do­tar-Stadt zu er­bli­cken, oh­ne ihr Ge­sichts­feld durch Schutz­maß­nah­men ein­zu­schrän­ken oder auf das Ge­biet der Müll­ber­ge be­schränkt zu sein.

Sie konn­te sich die Stadt an­se­hen, die sie als Toch­ter ei­ner War­la­dy so nie be­tre­ten durf­te. Nicht, dass der An­blick son­der­lich schön wä­re.

Graue Be­ton­wüs­ten, die Fassa­den löch­rig vom sau­ren Re­gen. Aus ei­ni­gen rag­te das Me­tall her­aus und man­che wa­ren not­dürf­tig mit Schei­ben aus Si­cher­heits­glas ab­ge­deckt – die Häu­ser von Men­schen, die fast so reich wie ih­re Mut­ter wa­ren oder für das Über­le­ben al­ler so wich­tig wa­ren, dass sie nicht in sich zu­sam­men­fal­len durf­ten. Die Plas­ti­kraf­fi­ne­rie, die Re­cy­cling­an­la­ge aber auch die Ge­wächs­häu­ser mit den we­ni­gen Pflan­zen, die ih­nen zur Ver­fü­gung ste­hen. Die Hal­len mit den klei­nen Be­stän­den an Nutz­tie­ren.

Selbst die, die reich wa­ren, hat­ten in die­ser Welt so gut wie nichts. Et­was, was Eles­sa sich im­mer wie­der be­wusst zu ma­chen ver­such­te, wenn sie die Ge­schen­ke ih­rer Mut­ter als Be­ste­chun­gen auf­fass­te. Und doch …

Sie warf ihr Sei­ten­bli­cke zu, wie sie, ob­wohl nie­mand sie se­hen konn­te, sehr ge­ra­de in den Sitz­kis­sen saß und sich kaum be­weg­te. Die sorg­fäl­tig fri­sier­ten Haa­re wipp­ten bei je­dem Schlag­loch, doch sie selbst zuck­te nicht ein­mal mit der Wim­per.

Dann wie­der war die Land­schaft in­ter­essan­ter als das alt­be­kann­te Ge­sicht der ei­ge­nen Mut­ter und Eles­sa starr­te nach drau­ßen. Dort trot­te­te ge­ra­de ei­ne Grup­pe Müll­samm­ler oh­ne Mund­schutz oder Helm, oh­ne Rüs­tung, hin­ter ei­ner Ober­samm­le­rin her, auf dem Weg zu ei­nem der vie­len Müll­ber­ge in und um Do­tar-Stadt.

Müll.

Das war das ein­zi­ge, was sie im Über­fluss be­sa­ßen. Das, wo­von sie leb­ten. Die Ab­fäl­le ih­rer Vor­fah­ren, über­schat­tet von ei­nem die­si­gen Ne­bel, der ei­ne Mi­schung aus sau­rem Tau und Asche auf den Ge­bäu­den hin­ter­ließ. Trotz­dem woll­te sie wei­ter aus dem Fens­ter schau­en. So viel wie mög­lich se­hen und ih­re Ge­dan­ken in die trost­lo­se Land­schaft schi­cken.

Ih­re Mut­ter dreh­te an der Kur­bel im In­ne­ren des Wa­gens und ver­dun­kel­te die Schei­be.

Eles­sa sah im mil­chig­trü­ben Licht des Mor­gens nur noch grauschwar­ze Sch­lie­ren. Sie zwang sich, nicht zu auf­fäl­lig zu seuf­zen und ih­re Mut­ter nicht zu gif­tig an­zu­se­hen. »Wor­über woll­test du mit mir spre­chen?«

»Zu­nächst ha­be ich ein Ge­schenk für dich.« Sie schenk­te Eles­sa ihr brei­tes­tes Lä­cheln, ehe sie ih­re Plas­tik­ta­sche öff­ne­te und Eles­sa ein klei­nes Käst­chen übergab.

Ein Be­ste­chungs­ver­such. Schon wie­der. Eles­sa wuss­te ge­nau, was die ver­gif­te­ten Ge­schen­ke ih­rer Mut­ter be­deu­te­ten. Nichts Gu­tes. Den­noch konn­te sie nicht wi­der­ste­hen und streck­te die Hand nach der küh­len Plas­tik­kis­te aus und öff­ne­te sie vor­sich­tig. »Ei­ne Bro­sche.«

Nicht ir­gend­ei­ne, son­dern die schöns­te, die Eles­sa je ge­se­hen hat­te. Im Licht der Au­to­lam­pen er­kann­te sie, dass das klei­ne Qua­drat aus per­fek­tem, durch­sich­ti­gen Re­sin war, oh­ne Far­ben, oh­ne Ein­trü­bung. Ein Stück Plas­tik, das in die­ser rei­nen Form ein Ver­mö­gen ge­kos­tet ha­ben muss­te. In sei­nem In­ne­ren schweb­te ein win­zi­ges Zahn­rad aus blank po­lier­tem Kup­fer, wie ei­ne Schnee­flo­cke aus Son­nen­schein.

»Steck es dir an. Oder war­te …« Ih­re Mut­ter stand auf, ging ei­ni­ge Schrit­te zu ihr hin und steck­te das Kunst­werk an ihr Haar­band.

»Dan­ke. Es ist wun­der­schön.« Sie hat­te es ge­sagt und da­mit an­ge­nom­men. Al­so muss­te sie tun, was ih­re Mut­ter im Aus­gleich for­dern wür­de.

»Du bist fünf­zehn Jah­re alt. Schon fast er­wach­sen. Da­mit kannst du in ei­nem ge­wis­sen Rah­men agie­ren und dich in den Dienst der Fa­mi­lie stel­len. Nun, ich brau­che dei­ne Hil­fe.« Sie setz­te sich wie­der an ih­ren Platz und schlug die Bei­ne über­ein­an­der.

»Wie kann ich dir zu Diens­ten sein?« Eles­sa hass­te die­sen Satz so sehr, dass es kör­per­lich schmerz­te, ihn aus­zu­spre­chen.

»Du wirst dich be­neh­men, so­lan­ge man mich sieht. Dich nicht bla­mie­ren. Nicht spre­chen, au­ßer du wirst ge­fragt.« Ein Fun­keln trat in die rostro­ten Au­gen ih­rer Mut­ter. »Aber du bist noch ein klei­nes, drah­ti­ges Mäd­chen und wenn du durch Lue-Schloss streifst, wird nie­mand sich et­was den­ken. Er­kun­de al­so das Schloss. Er­zähl mir al­les, was du her­aus­fin­dest.«

Spio­na­ge al­so.

Eles­sa ball­te die Hän­de zu Fäus­ten. »Ja, Mut­ter.«

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162 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783742704368
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Правообладатель:
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