Alles war perfekt.
Er hatte es geschafft, unter Aufbietung seines Charmes, seines strahlenden Lächelns und etwas Geld aus der Kasse des Hauses Lue – Ausgaben, die Alixena mit Sicherheit genehmigen würde – eine Bahre aus schwarzem Glas aufzutreiben.
Die Leiche von Lord Gero verschwand nahezu unter den Bergen aus Rosen, weiß wie Schnee und rot wie Blut. Schade um das schwarze Glas, aber vermutlich würde das die Einäscherung ohnehin problemlos überleben und Felix würde einen Weg finden, die wertvolle Ressource wieder an sich zu bringen. Vollkommen schwarzes Glas war zu kostbar, um es in einer Gruft zusammen mit etwas Asche verschwinden zu lassen. Davon konnte er mit Sicherheit selbst eine trauernde Witwe überzeugen. Natürlich erst, nachdem er sie charmant empfangen hatte und sie Zeit bekam, die Situation zu verarbeiten.
Wie aufs Stichwort fuhr Alixenas Dampfmobil direkt in den umzäunten und abgetrennten Innenhof ein und füllte alles mit ölig-rußigem Dampf, der sich auf die ohnehin schon geschwärzten Mauern legte. Felix unterdrückte ein Husten und lobte sich innerlich für die Entscheidung, an diesem Tag seine schwarzblaue Uniform und nicht die leuchtend roten Trauerkleider zu tragen. Es würde reichen, sie für die Zeremonie anzulegen.
Die Warlady ließ sich vom Fahrer aus dem hohen Gefährt helfen und wirkte dabei schwach und zerbrochen. Als hätte jemand etwas sehr Hübsches genommen und absichtlich fallen gelassen. Und hübsch, das war sie. Das erkannte er in diesem Augenblick, in dem er sie zum ersten Mal ohne eine ihrer formellen Rüstungen, ohne Helm und ohne Atemschutzmaske oder Schutzbrille sah. Große Augen, volle Lippen und eine schmale Taille. Vermutlich war sie unter dem dunkelgrünen Reiseanzug muskulös, wie es sich für eine Frau gehörte, die an die dreißig Einheiten Metall an ihrem Körper trug. Eine wirklich würdevolle Warlady und eine, an deren Seite seine eigene Schönheit noch stärker strahlen würde.
Wenn er sich ausreichend bemühte, konnte er noch vor dem Ablauf der gesetzlichen Trauerzeit der neue Lord Lue werden.
»Ich übernehme von hier an.« Er verbeugte sich vor Alixena und scheuchte mit einer kleinen Handbewegung den Fahrer von ihr fort.
Sofort näherten sich einige Jungknechte und machten sich daran, den Wagen zu waschen und zu desinfizieren, ehe er in die Stallungen gefahren werden würde.
»Felix, nicht wahr?« Sie nahm dankbar seine Hand und lehnte sich leicht in seine Richtung, als wäre ihr nach der langen Fahrt schwindelig.
Vorsichtig hielt er sie am Ellenbogen fest – sie um die Hüfte zu fassen, wagte er noch nicht – und führte sie ins Innere von Palast Lue. »Felix M’nao. Ich war der oberste Kammerknecht von Lord Gero und Ihr Verlust trifft mich tief. Schließlich stand ich ihm sehr nahe und war an seiner Seite, als er plötzlich starb.«
Sie atmete tief durch, lehnte ihren Kopf an ihn. »Wie ist er gestorben?«
»Eine Unverträglichkeit. Haben Lady Alixena gewusst, dass Lord Gero keine Nüsse essen kann? Er hat von einer Erdnuss genascht.« Von einer, die er unter das feinkörnige Teepulver gemischt hatte. Aber natürlich hatte man neben dem Toten eine Schale Erdnüsse gefunden.
»Nein, das wusste ich nicht. Ich wusste, dass er keine Bohnen essen darf. Aber Erdnüsse? Das ist mir neu.« Sie drohte fast zu stolpern und Tränen schimmerten in ihren Augen.
Felix konnte sich nicht vorstellen, wie diese schwache Frau in der Lage sein sollte, Krieg zu führen. So sentimental, wie sie auf den Tod ihres Lords reagierte, konnte sie unmöglich hart genug sein, um Menschen zu töten. Sie machte es ihm geradezu lächerlich leicht.
»Ich habe mir die größte Mühe gegeben, ihm einen Abschied zu geben, der in Erinnerung bleiben wird. Wollen Lady Alixena ihn vor der Zeremonie sehen?«
Lady Alixena richtete sich gerade auf. »Ja. Aber zuerst möchte ich meinen Sohn sehen. Wo ist er?«
»Er ist bei mir. Gehen wir.« Es war gut, dass sie in sein Zimmer kommen wollte. So konnte er ihr Gesicht unauffällig von Narzissa betrachten lassen. Wer wusste schon, wofür das nützlich sein mochte?
Bei dem Gedanken an den Anblick des toten Gero erschauerte sie. Solange sie ihn nicht mit ihren eigenen Augen gesehen und mit ihren eigenen Händen berührt hatte, solange sie nicht seine Stirn geküsst und ihre eisige Kälte geschmeckt hatte, solange war er noch nicht wirklich vergangen, so lange konnte sie noch auf ein Wunder hoffen. Auf eine Täuschung. Obgleich ihr bewusst war, dass es nicht passieren würde, hoffte sie, er würde zu ihr treten und gestehen, dass ihr nur ein böser Streich gespielt worden war.
Bevor sie dem Toten gegenübertreten konnte, musste Alixena Dario sehen, sich vergewissern, dass er unversehrt war.
Sie eilte die alten Stufen des Schlosses hinauf, Stufen aus grauen Beton, an einigen Stellen notdürftig mit Plastik ausgebessert, sodass man die verrosteten Stahlgerüste darunter erkennen konnte. Fast musste sie sich zwingen, sich zurückzuhalten, um Felix’ Räume nicht vor ihm zu betreten. Das wäre selbst für eine Warlady ungehörig gewesen.
Eine Ecke des Raumes war mit langen Tüchern verhängt. Vermutlich zog es von dort.
Aus den Augenwinkeln sah sie etwas aufblitzen. Hortete Felix dort seinen Schmuck oder sparte er auf eine Rüstung? Sie könnte es ihm nicht verdenken.
Ohne eine ordentliche Rüstung war es schwer, sich außerhalb von Behausungen oder Dampfmobilen aufzuhalten, aber Rüstungen waren teuer. Sie verschlangen Metall, Plastik, Drähte, Schmieröl, Membranen – Unmengen an Ressourcen, die begrenzt waren. So wie alles auf der Erde begrenzt war seit der großen Dunkelheit. Alixena schloss die Augen für einen Augenblick und sah wieder die drückende Finsternis ihrer Kindheit, spürte wieder die aschengraue Kälte auf ihrer Haut, welche Aufenthalte im Freien zu einer Tortur gemacht hatte. Den Regen, der schmeckte, als hätte sie eine Batterie abgeleckt und von dem sie einen seltsamen Ausschlag bekam, als sie einmal heimlich in den Pfützen herumgesprungen war.
Manchmal gab es sogar Schnee, der Kinder krank machte. So viele waren gestorben.
Und nun hatte sie auch Gero verloren. Gero, mit dem zusammen sie diese Zeit überlebt hatte. Mit dem sie alle Widrigkeiten irgendwie überstehen konnte, weil allein seine Anwesenheit alles erträglich machte. Die Kriege, den Hunger, die Kälte. Später die Hitze und die Kämpfe um alles, was gegen diese schützte.
Ohne ihn fühlte sie sich unvollständig und schutzlos. Aber sie hatte immer noch einen winzigen Teil von ihm: Dario.
Sie stolperte auf seine Wiege zu, nahm ihn heraus und brach neben Felix’ Bett zusammen, den Säugling eng an sich gedrückt. Ihr Kind war ihr geblieben, ihr gemeinsames Kind. Ihr Sohn, der etwas von Gero in sich trug, etwas von ihrer Vergangenheit. Saurer Regen auf Kinderhaut. Eine Vergangenheit, die sich niemals wiederholen durfte, solange sie lebte und darüber hinaus. Das war sie ihm schuldig – und allen anderen Menschen in ihrem Einflussbereich. Schluchzer schüttelten ihren Körper und Alixena spürte heiße Scham über ihre Schwäche. Sie war eine Warlady. Sie musste diese Emotionen im Zaum halten. Irgendwie. Aber sie konnte nicht.
Warme Hände legten sich auf ihre Oberarme und sie spürte, wie jemand sie vorsichtig festhielt. Felix. Er gab ihr Halt.
Sie zog die Nase hoch, legte Dario vorsichtig auf das Bett und wischte sich mit dem Arm über die Augen. »Es tut mir leid. Dieser Ausbruch … Ich hätte nicht …«
»Es ist gut, Mylady. Sie geht sich besser erfrischen, ich habe bereits die Zofen rufen lassen. Die Zeremonie des Abschieds ist nach dem Mittagsmahl. Ich hätte gerne mehr Zeit gelassen, aber die Hitze … Mylady versteht.«
»Ja. Ich verstehe.« Natürlich. Sie hatten nur begrenzte Möglichkeiten, Geros Körper zu kühlen. »Ich werde mich meines Ranges entsprechend verhalten.« Sie nahm ihr Kind wieder an sich und ging hoch erhobenen Hauptes in die angrenzenden Räume – die, die sie mit Gero geteilt hatte. Die, in denen alles sie an ihn erinnern würde, selbst die drei jungen Frauen, die mit demütig gesenkten Köpfen darauf warteten, sie nach der langen Reise zu versorgen.
Sie musste stark sein. Geros Reise war eine viel längere, und sie hatte ihn an ihrem Beginn zu begleiten.
Sobald die Sonne endgültig untergegangen war – ein Zeitpunkt, der schwer festzustellen war in einer Welt, in der der Himmel seit Jahren nicht richtig aufzuklaren schien – ertönten die rituellen Trommeln.
Alixena zog sich den Schleier aus hauchdünn gewalzten, roten Plastikstreifen vor das Gesicht und trat mit Dario auf dem Arm und Felix an ihrer Seite langsam den Weg in den Keller an, wo der riesige Brennofen stand.
Sklaven mit geschorenen Köpfen, nur mit rotem Lendenschurz bekleidet, standen barfuß entlang ihres Weges und schlugen die Trommeln im Rhythmus eines sehr langsamen, nahezu verklungenen Herzschlags.
Jeder Schlag vibrierte auch durch Alixenas Adern, drohte, auch ihr Herz zu verlangsamen. Sie zwang sich, ihren Atem nicht an die Trommeln anzupassen und mit Dario so zügig wie möglich in den Keller zu schreiten.
Vor der verriegelten Kellertür warteten drei Priesterinnen auf sie.
Eine nahm ihr ihren Sohn ab, die andere ihren Schleier und die Dritte zeichnete mit weißer Farbe Punkte auf ihre Wangen, dann mit roter Farbe einen langen Strich von ihrer Stirn über ihre Nase bis zu ihrem Kinn.
»Lord Gero Lue ist in das Haus der Nachtkönigin eingezogen. Er sitzt an ihrer Tafel, doch er kann ihre Speisen nicht essen und ihr Wasser nicht trinken.«
Die Trommeln wurden schneller, begleitet von Sklaven, die mit Schellen an den Fußknöcheln tanzten.
»Ich habe mit meinen Gebeten seinen Weg begleitet, damit er an ihrer Tafel sitzen kann. Was muss ich tun, damit er von ihrer Tafel speisen kann?«
»Er muss durch das Feuer gehen. Solange er nicht bereit ist, werden ihm keine Speisen bereitet.«
Alixena senkte den Kopf. »So sei es.«
Immer noch tanzend und mit den Fußschellen klingelnd, öffneten die Sklaven die Tür in den Keller.
Vor dem Ofen lag Gero auf seiner Glasbahre, die Blumen auf seinem Körper schon leicht verwelkt.
Der süßliche Geruch nach Verwesung mischte sich mit dem Duft der Rosen, aber auch mit dem leicht fauligen Geruch der bereits welken Blätter. Die Hitze in dem kleinen Raum ließ die Farbe auf ihrem Gesicht schmelzen. Sie musste all ihre Willenskraft aufbringen, um keine Miene nicht zu verziehen. Wenn sie einen Fehler machte, würde es Gero bei der Nachtkönigin schlecht gehen.
Ein Lächeln drohte, ihre Mundwinkel zu rühren. Eine Träne, ihr Auge beim Gedanken an ihn zu verlassen. Sie wusste, welch ein Geschenk wahre Liebe war. Sie musste dankbar sein, es überhaupt erhalten zu haben, statt darum zu trauern, dass es ihr wieder genommen worden war. Aber wieso tat ihr Herz dabei so weh?
Man durfte es ihr nicht anmerken.
Im Rhythmus der Trommeln schritt sie zur gläsernen Bahre.
Das Rascheln und Klingeln der tanzenden Sklaven, die Gerüche und die Hitze umnebelten in ihren Verstand, bis sie nur noch verschwommen sah, fast wie in Trance agierte.
Eine Priesterin reichte ihr eine Schale mit roter Farbe.
Alixena trug sie auf ihre Lippen auf und drückte einen Kuss auf Geros Stirn. »Mit diesem Kuss zeichne ich dich. Durch dieses Zeichen werde ich dich an der Tafel der Nachtkönigin wiederfinden, wenn ich einst selbst hinabsteige.« Sie trat zurück und drückte den Hebel herunter, der die Bahre aus schwarzem Glas langsam ins Innere des Ofens fahren ließ.
Die Trommeln steigerten sich zu einem schnellen, fast rasendem Rhythmus. Ihr Herz drohte, mit den Trommeln aus ihrer Brust zu springen. Das Rascheln und Klingeln um sie herum wob sie in die Schatten ein. Immer wilder die Tänze, immer schneller die Trommeln, immer heißer die Luft, bis sie es über Gero flimmern sah und die Rosenblüten verglühten, noch ehe sein Körper die Klappe erreicht hatte.
Zuletzt sank sie zu Boden, ihr Körper zuckte und als sie schrie, verband sich ihr Schrei mit dem Glühen der Welt um sie herum.
Gero war angekommen.
Wie lange sollte sie noch vor dem Spiegel sitzen und sich sämtliche Haare ziehen lassen? Sie war sich jedenfalls sicher, dass sie mit jedem Strich des Lockenkamms etliche davon verlor, und das wollte sie garantiert nicht: mit einer Glatze zum Fest im Clanschloss der Lue erscheinen. Glatzen hatten nur alte Menschen. So alt, dass sie sich noch an die ganze Zeit der Großen Dunkelheit erinnern konnten. Denen hatten damals der Regen die Haare direkt vom Kopf gespült. Was Elessa trotz des nervigen Unterrichts, den ihre Mutter ihr aufzwang, noch nicht ganz verstand. Nicht, dass es sie überhaupt interessierte.
Sie baumelte mit den Beinen und wünschte sich weit weg aus dem Palast der Dotar. Zu den Straßenratten, wo ihre wirklichen Freunde waren. Wo ihre Anwesenheit etwas änderte. Wenn sie sich in die Lumpen unter ihrem Bett hüllte, die Hände mit Binden umwickelte und mit ihnen in den Müllbergen um Dotar-Schloss nach Plastik, Glas und Metallen suchte, fühlte sie sich frei. Sie brauchte das Geld nicht, aber sie war gut, und konnte mit ihrer Suche zumindest die Armen unterstützen. Hier jedoch, hier fühlte sie sich nutzlos. Ihre Mutter schenkte ihr alles, was sie wollte – solange es Dinge waren. Aber das, was sie wirklich wollte, bekam sie nicht: Freiheit.
Schloss Dotar war ein hübscher Käfig voller Metallfäden und glitzernder Glassteine, voller dünn gewalzter Plastikblätter mit hineingedrückten Geschichten und mit Gewächshäusern voller nützlicher und schöner Pflanzen. In alldem fühlte sie sich die meiste Zeit so sehr eingesperrt, dass sie nachts in ihr Kopfkissen schrie, bis sie keine Kraft mehr hatte und vor Erschöpfung einschlief.
Die Zofen hörten endlich auf, an ihrem Haar herumzuzupfen – was sprach gegen praktische Zöpfe? – und zeichneten ihr stattdessen das traditionelle Muster der Dotar aufs Gesicht. Den geradlinigen dunkelroten Streifen von Schläfe zu Schläfe, über ihre geschlossenen Augenlider hinweg und über ihren Nasenrücken.
Immerhin war ihr Gesicht nicht so bleich wie das ihrer Mutter, bei der dieser Streifen immer wirkte, als hätte sie Blut im Gesicht. Dennoch – die Bemalung fühlte sich unangenehm an und sie war sich sicher, dass die Farbe spannen und bröckeln würde, bevor sie ihr Ziel erreicht hatten. Also wozu das Ganze, wenn es ohnehin die nächsten Tage über niemand sehen konnte?
Nach der Antwort brauchte sie allerdings gar nicht fragen, denn sie lautet stets gleich: Weil sie eine Dotar war und es sich so gehörte. Darum.
Das war auch der Grund, aus dem sie sich in ihre Kleidung zwängen ließ – ein Großteil davon bestand aus irgendwie zusammengesuchten Stoffresten, die jemand einheitlich dunkelblau gefärbt hatte, gemischt mit einem Gewebe aus langgezogenen Plastikfäden. Fast so stabil wie eine Rüstung und mit Sicherheit genauso einengend. Auch wenn Elessa noch keine Rüstung tragen musste – sie lebten nicht mehr in der vergangenen Zeit, in der man sogar für Kinder welche angefertigt hatte. Wenn sie ehrlich war, war sie froh darüber, über ihren Sachen nicht auch noch diesen Metallklotz tragen zu müssen.
Trotzdem würde sie lieber ihre Straßenrattenkleidung tragen. Alles nur Lumpen, aber immerhin weiche, abgetragene Lumpen, aus Stoff, fast ohne Plastik, mit aus Rattenfellen zusammengenähten Leggins, in denen sie nicht annähernd so sehr schwitzte wie in denen aus einem glänzenden, schwarzen Stoff, die sie anzuziehen hatte.
»Warlady Aino Dotar Dotar«, verkündete eine ihrer Zofen und trat zur Seite, um ihre Mutter einzulassen.
Die betrat mit einem langen Schritt Elessas Räume und blickte sich mit einem leicht triumphierenden Lächeln um. Als wüsste sie ganz genau, dass ein Großteil der besonders schönen Dinge in diesen Räumen – Spieluhren aus Metall, Bücher voller in dünnes Plastik eingedrückter Geschichten, bemaltes Glas – Bestechungen waren. Damit sie, Elessa, ihr gefügig blieb.
Elessa hasste ihre Mutter von den hellgelben Spitzen ihrer Haare bis zu den schwarzen Plastikspitzen an ihren protzigen Schuhen. Eine Mutter, deren Blick aus merkwürdig rostroten Augen sie bis in ihre Alpträume verfolgte.
»Komm, Elessa. Gehen wir zum Dampfmobil. Wir werden auf dem Weg nach Acniv einiges zu besprechen haben.«
Elessa schluckte. Sie hatte keine Wahl. Sie hatte mitzukommen und sich anzuhören, was auch immer ihre Mutter zu sagen hatte.
Wenn sie ehrlich war, freute sie sich zumindest darauf, mit dem Dampfmobil zu fahren. Selbst wenn sie dafür die Gesellschaft ihrer Mutter ertragen musste, war es doch die einzige Möglichkeit, Dotar-Schloss zu verlassen und Dotar-Stadt zu erblicken, ohne ihr Gesichtsfeld durch Schutzmaßnahmen einzuschränken oder auf das Gebiet der Müllberge beschränkt zu sein.
Sie konnte sich die Stadt ansehen, die sie als Tochter einer Warlady so nie betreten durfte. Nicht, dass der Anblick sonderlich schön wäre.
Graue Betonwüsten, die Fassaden löchrig vom sauren Regen. Aus einigen ragte das Metall heraus und manche waren notdürftig mit Scheiben aus Sicherheitsglas abgedeckt – die Häuser von Menschen, die fast so reich wie ihre Mutter waren oder für das Überleben aller so wichtig waren, dass sie nicht in sich zusammenfallen durften. Die Plastikraffinerie, die Recyclinganlage aber auch die Gewächshäuser mit den wenigen Pflanzen, die ihnen zur Verfügung stehen. Die Hallen mit den kleinen Beständen an Nutztieren.
Selbst die, die reich waren, hatten in dieser Welt so gut wie nichts. Etwas, was Elessa sich immer wieder bewusst zu machen versuchte, wenn sie die Geschenke ihrer Mutter als Bestechungen auffasste. Und doch …
Sie warf ihr Seitenblicke zu, wie sie, obwohl niemand sie sehen konnte, sehr gerade in den Sitzkissen saß und sich kaum bewegte. Die sorgfältig frisierten Haare wippten bei jedem Schlagloch, doch sie selbst zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Dann wieder war die Landschaft interessanter als das altbekannte Gesicht der eigenen Mutter und Elessa starrte nach draußen. Dort trottete gerade eine Gruppe Müllsammler ohne Mundschutz oder Helm, ohne Rüstung, hinter einer Obersammlerin her, auf dem Weg zu einem der vielen Müllberge in und um Dotar-Stadt.
Müll.
Das war das einzige, was sie im Überfluss besaßen. Das, wovon sie lebten. Die Abfälle ihrer Vorfahren, überschattet von einem diesigen Nebel, der eine Mischung aus saurem Tau und Asche auf den Gebäuden hinterließ. Trotzdem wollte sie weiter aus dem Fenster schauen. So viel wie möglich sehen und ihre Gedanken in die trostlose Landschaft schicken.
Ihre Mutter drehte an der Kurbel im Inneren des Wagens und verdunkelte die Scheibe.
Elessa sah im milchigtrüben Licht des Morgens nur noch grauschwarze Schlieren. Sie zwang sich, nicht zu auffällig zu seufzen und ihre Mutter nicht zu giftig anzusehen. »Worüber wolltest du mit mir sprechen?«
»Zunächst habe ich ein Geschenk für dich.« Sie schenkte Elessa ihr breitestes Lächeln, ehe sie ihre Plastiktasche öffnete und Elessa ein kleines Kästchen übergab.
Ein Bestechungsversuch. Schon wieder. Elessa wusste genau, was die vergifteten Geschenke ihrer Mutter bedeuteten. Nichts Gutes. Dennoch konnte sie nicht widerstehen und streckte die Hand nach der kühlen Plastikkiste aus und öffnete sie vorsichtig. »Eine Brosche.«
Nicht irgendeine, sondern die schönste, die Elessa je gesehen hatte. Im Licht der Autolampen erkannte sie, dass das kleine Quadrat aus perfektem, durchsichtigen Resin war, ohne Farben, ohne Eintrübung. Ein Stück Plastik, das in dieser reinen Form ein Vermögen gekostet haben musste. In seinem Inneren schwebte ein winziges Zahnrad aus blank poliertem Kupfer, wie eine Schneeflocke aus Sonnenschein.
»Steck es dir an. Oder warte …« Ihre Mutter stand auf, ging einige Schritte zu ihr hin und steckte das Kunstwerk an ihr Haarband.
»Danke. Es ist wunderschön.« Sie hatte es gesagt und damit angenommen. Also musste sie tun, was ihre Mutter im Ausgleich fordern würde.
»Du bist fünfzehn Jahre alt. Schon fast erwachsen. Damit kannst du in einem gewissen Rahmen agieren und dich in den Dienst der Familie stellen. Nun, ich brauche deine Hilfe.« Sie setzte sich wieder an ihren Platz und schlug die Beine übereinander.
»Wie kann ich dir zu Diensten sein?« Elessa hasste diesen Satz so sehr, dass es körperlich schmerzte, ihn auszusprechen.
»Du wirst dich benehmen, solange man mich sieht. Dich nicht blamieren. Nicht sprechen, außer du wirst gefragt.« Ein Funkeln trat in die rostroten Augen ihrer Mutter. »Aber du bist noch ein kleines, drahtiges Mädchen und wenn du durch Lue-Schloss streifst, wird niemand sich etwas denken. Erkunde also das Schloss. Erzähl mir alles, was du herausfindest.«
Spionage also.
Elessa ballte die Hände zu Fäusten. »Ja, Mutter.«
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