Der tote Prinz
Band 16 der Märchenspinnerei
Roman
Katherina Ushachov
Märchenspinnerei
Alle Rechte bei Katherina Ushachov
Copyright © März 2019
Katherina Ushachov
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Für alle Verlorenen, Verstoßenen und Vertriebenen. Und für alle Wesen dieser Welt.
Felix
Vergangenheit
1. Alixena
2. Felix
3. Alixena
4. Felix
5. Alixena
Gegenwart
1. Elessa - 15 Jahre später
2. Aino
3. Dario
4. Elessa
5. Avital
6. Aino
7. Dario
8. Elessa
9. Felix
10. Avital
11. Dario
12. Elessa
13. Aino
14. Avital
15. Dario
16. Elessa
17. Alixena
18. Felix
19. Dario
20. Elessa
21. Avital
22. Felix
23. Aino
24. Elessa
25. Dario
26. Avital
27. Lyra
28. Elessa
29. Aino
30. Avital
31. Elessa
32. Felix
33. Avital
34. Lyra
35. Elessa
36. Dario
37. Felix
Danksagung
Mehr von Katherina Ushachov Zarin Saltan 2145 - die Verfolgten
Über die Autorin Über die Märchenspinnerei
Die alte Gran hatte gesagt, dass sein Name in einer längst toten Sprache »der Glückliche« bedeutete, aber glücklich fühlte Felix sich nicht.
Die schmutzigen Lumpenwickel schützten seine Handflächen nur unzureichend. Er spürte, dass er sie längst durchgeschwitzt hatte.
Schweiß lief ihm auch über das Gesicht, brannte in seinen Augen und verschleierte die Sicht. Oder war es die Luft, die im gnadenlosen Sonnenlicht flimmerte?
Das war das Einzige, was sie im Überfluss hatten, seit sich die Staubschleier gelegt hatten und die Dunkelheit die Welt nicht mehr verschluckte.
Er erinnerte sich nicht mehr an diese Zeit. Nur manchmal, wenn er sich sehr anstrengte, konnte er das Gefühl beißender Kälte auf der Haut herbeirufen. Schmerz war gut, hielt ihn wach. Bei den Müllbergen einzuschlafen, endete meist tödlich.
Etwas Blaues funkelte vor ihm in der Sonne und er legte hastig die Hand darauf. Blaues Glas war kostbar. Er konnte es gegen Wasser eintauschen. Und gegen genug Essen für eine Woche. Sieben Tage ohne Hunger, ohne Durst, ohne die Sorge um sein Überleben.
Wenn, nur wenn …
Die auf ihn fallenden Schatten ließen seinen kurzen Tagtraum zerschellen.
Felix drehte sich um und starrte in die rostbraunen Augen von Aino. Die Haare von der Sonne zu einer undefinierbaren Farbe gebleicht, das helle Gesicht mit einer dicken, roten Paste gegen die Sonne bedeckt, ragte sie in improvisierter Rüstung über ihm auf. Hinter ihr standen zwei Mitglieder ihrer Gruppe, beide hatten einen höheren Rang als Felix – und somit mit der Erlaubnis, auf ihn einzuprügeln. »Was hast du da?«
Er ballte die Hände zu Fäusten und ließ das Glasstück unauffällig zwischen den Schichten seiner Handbinden verschwinden. Er brauchte es dringender als Aino, die eine ganze Reihe davon um den Hals trug. Ein Vermögen! Aber Frauen hatten ohnehin Vorteile. Sie konnte ihn allein dafür schlagen und bevormunden, dass er ein Mann war. Und es gab nichts, das er dagegen tun durfte.
»Nichts. Ich habe noch nichts gefunden.«
Sie trat näher und stellte ihren Stiefel auf seine Schulter. »Ah ja? Los, durchsucht ihn. Und wenn er lügt …« Ihre Augen glänzten – als würde sie sich seine Strafe bereits ausmalen. »Du weißt, was mit Müllsammlern passiert, die von der Gemeinschaft stehlen.«
Die zwei Schränke hinter ihr setzten sich in Bewegung.
So weit durfte er es nicht kommen lassen. Gemeinschaft schön und gut, aber Ainos Strafen waren hart, und auf den Müllbergen konnte jede Verletzung ein Todesurteil sein. Felix packte ihr Bein, zog es nach vorne und sich selbst daran auf die Beine. Ehe Aino wieder aufstehen und ihm folgen konnte, rannte er bereits mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen. Hier kannte er jeden Hügel, jede baufällige Wellblechhütte, jedes Versteck. Wenn er sich nur nicht blenden ließ, konnte er sie abhängen.
Aino und ihre Begleiter keuchten in seinem Rücken.
Er glaubte, ihren heißen Atem in seinem Nacken zu spüren, sengender als die Hitze der Sonne im Gesicht.
Er strauchelte und fiel.
Berge an wackelig gestapeltem Müll brachen um ihn herum ein. Er rutschte wie auf Treibsand. Je mehr er sich bewegte, desto mehr Müll schob sich nach und riss ihn mit sich.
Aino stand als Silhouette des Triumphs am Rande des Abgrundes und lachte. Sie hob etwas auf und warf es ihm hinterher. Damit löste sie einen weiteren Müllrutsch aus.
Felix strampelte, suchte Halt und spürte einen dumpfen Schmerz am Kopf, der sich ausbreitete und ihn verschluckte.
Er erwachte mit trockenem Mund und Kopfschmerzen, die ihm Tränen in die Augen trieben. Um ihn herum nichts als Dunkelheit und viele kleine Gegenstände, die auf seine Brust drückten und ihm die Luft zum Atmen nahmen.
Vorsichtig streckte er die Arme aus und schaffte es, mit den Fingern die Oberfläche aus lockerem Gerümpel zu durchbrechen. Vielleicht war sogar buntes Glas dabei … Seine Finger ertasteten etwas Glattes, Metallisches. Er hielt sich daran fest und zog sich vorsichtig aus dem Müll, umsichtig, um keine neue Lawine zu verursachen. Dann erst schaute er sich an, woran er sich festgehalten hatte.
Ein größerer, verhakter Gegenstand aus zerkratztem, grün angelaufenem Metall.
Bronze. Und gleich großes Stück davon. Das war bestimmt wertvoll; falls er sich bis zur Stadt durchschlagen konnte, um es zu verkaufen, ganz allein, ohne dass Aino ihren Anteil verlangen konnte …
Felix grub vorsichtig so lange, bis er den Gegenstand rausziehen konnte. Sein Herz raste. Sofort schob er das Ding vor Schreck ruckartig unter seine Jacke. Das war doch … Was war das?
Hastig blickte er sich um, ob jemand in der Nähe war, aber er war alleine. Keine anderen Müllsammler in Sicht.
Er setzte sich auf den Boden, lehnte sich an die Seite des Hügels und nahm das Bronzeding wieder aus seiner Jacke.
Kreisrund, mit einigen kleinen Quadraten, neben denen eine Sonne abgebildet war, zeigte es ein staubiges, zerkratztes Jungengesicht, grüne Augen mit goldenen Punkten inmitten von nahezu schwarzer Haut. »Hallo, du. Ich bin Felix.«
Das Ding leuchtete kurz auf und Linien zogen sich über das Gesicht des Jungen. Zahlen leuchteten auf seiner Wange auf: 2084. Dann ertönte eine freundliche Frauenstimme aus dem Ding und vibrierte gegen seine Finger. »Hallo Felix. Ich bin Narzissa. Stelle deine Frage.«
»Narzissa?« Das war ein Frauenname. Aber das Gesicht war das eines Jungen. »Wer ist das im Fenster?«
»Ich bin ein Spiegel. Du siehst dich selbst.«
»Mich selbst? So sehe ich aus?«
Linien überzogen das Gesicht – sein Gesicht.
»Ja. Nach den Regeln des Goldenen Schnitts bist du schön.«
Schön? Er?
Gran hatte mal gesagt, dass die Leute früher glaubten, Schönheit könne die Welt retten. Aber Gran war längst tot, und in seiner von wählerischen Warladys dominierten Welt war Schönheit vor allem eins: Macht.
Er brauchte also nur noch eine mächtige Beschützerin.
Dann würde Aino es bereuen, ihn angegriffen zu haben.
Alixena schwitzte. Hitze staute sich unter ihrer unförmigen Metallrüstung genauso stark, wie unter den schadstoffabweisenden Membranen des Kommandozelts. Zu gerne würde sie ihre Leibsklaven rufen, sich in ihrem eigenen, wesentlich kühleren Zelt aus dem Panzer schrauben lassen und dann ein lauwarmes Bad nehmen.
Stattdessen beugte sie sich zusammen mit den anderen Frauen über eine in Kupfer geätzte Karte von Jundi und schob vorsichtig einen blauen, abgeflachten Stein bis vor die Stadtmauer. »An dieser Stelle ist die Mauer am dünnsten. Wir haben bereits erheblichen Schaden angerichtet. Dort patrouilliert niemand mehr regulär, die Gänge sind zerstört. Also sprengen wir uns dort durch. Ladys?«
Vizelady Nala beugte sich ihrerseits über die Karte. »Unsere Mineure brauchen Deckung. Wenn wir also dieses Manöver durchziehen wollen, sollten wir …« Sie schob einige kleine, weiße Steine über die Karte. »… einen Teil der Truppe hier angreifen lassen. Und nur die Schleicher folgen den Mineuren.« Sie stellte schwarze Steine um.
Alixena zwang sich, nicht zu gähnen. Das hätte Nala zurecht als Respektlosigkeit wahrgenommen, dabei war es nur ihre Müdigkeit. Seit dem gestrigen Tag hatte sie kein Feldpaket mehr von Gero erhalten und wusste somit nicht, wie es weitab von der Front – zu Hause – aussah. Das raubte ihr den Schlaf und die für diese Schlacht so dringend nötige Konzentration.
»Wir könnten eine weitere Gruppe Mineure über den alten Wadi schicken und sie im Süden der Stadt sprengen lassen. Oder abwarten, ob unsere Spione uns eine undichte Stelle bei den Hügeln melden.« Vielleicht ließ sich der Angriff noch so lange hinauszögern, dass sie ihre Feldpost bekam. Vielleicht war endlich ein Taschentuch von Gero darunter. Mit dem letzten Tuch, das sie erreicht hatte, wischte Alixena sich den Schweiß von der Stirn und blickte dabei auf das Ornamentalmuster aus roten, grünen und blauen Kreuzen. Für die einen ein Taschentuch, für sie ein ausführlicher Bericht über das Leben an ihrem Hof und das Wohlbefinden ihres Mannes und ihres Kindes.
Vizelady Thekla nickte. »Diesen Trupp werde ich befehligen, wenn Mylady es erlaubt.«
»Ich erlaube es.« Die Kopfschmerzen, bedingt durch die stickige Luft und die Hitze, wandelten sich von drückend zu pochend und sie war sich nicht sicher, was schlimmer war. Erneut starrte sie auf das Taschentuch und las die Codezeilen, als wären sie in Plain geschrieben.
Geliebte Alix. Dario entwickelt sich auf das Prächtigste, er hat bereits angefangen, den Apfelbrei zu essen, den die Knechte zubereiten und er mag es, den Sklavenkindern beim Spielen zuzusehen. Bis du wieder hier bist, fängt er noch an, Fleisch zu essen und mit ihnen zu rennen. Der junge Mann, der im Palast angefangen hat, macht sich unentbehrlich und ich wüsste nicht, was ich ohne Felix tun sollte. Er ist mir eine Stütze in allen Belangen des Haushalts. Ich wünsche dir einen schnellen Sieg über unsere Feindinnen und kann es kaum erwarten, meine Lippen andächtig auf deine Stirn zu drücken. Immer dein, Gero.
Ein harmloser Brief – wieso war sie dann so besorgt? Sie verstand es nicht. Aber sie hatte keine Zeit – und konnte die Schlacht nicht länger aufschieben.
»Dann haben wir unseren Angriffsplan, meine Ladys. In einer halben Stunde sollten unsere Spione zurück sein, bis dahin haben eure Einheiten marschbereit zu sein.«
»Aye, Milady.« Die zwei Frauen salutierten und verließen das Kommandozelt.
Alixena schaffte es, in der umständlichen Rüstung ihre Arme zu heben und mit den Fingerspitzen ihre Schläfen zu massieren. Sie musste dringend in ihr eigenes Zelt und dieses hier entlüften lassen. Hastig zog sie sich den Helm mit integriertem Mundschutz über den Kopf und verließ den Kriegsrat.
So früh am Morgen war es noch kalt und die kostbaren Sichtgläser ihres Helms beschlugen augenblicklich von innen. Nahezu blind, taumelte sie in die Richtung, in der sie ihr Zelt vermutete – und hatte das Glück, dass einer ihrer Sklaven sie am Ellenbogen fasste und in ihr Zelt eskortierte.
Erleichtert nahm sie den klobigen Helm wieder ab und löste die Scharniere an der Rüstung zumindest so weit, dass ihr Körper etwas Luft bekam. Erst dann erinnerte sie sich daran, dass Lue – ihr ältester Sklave – vermutlich nicht zufällig vor dem Kommandozelt auf sie gewartet hatte. »Was gibt es? Ist die Feldpost gekommen?« Sie bemühte sich, weder zu besorgt noch zu ungeduldig zu klingen.
»Meine Lady, ich kann kein Plain lesen, aber das ist nicht die Handschrift von Lord Gero.« Lue verbeugte sich und reichte ihr einen in dünne, graubraune Plastikfolie geritzten Brief.
Sie nahm ihn entgegen. Ihre Hände zitterten. »Von wem ist er dann?« Die Schrift wirkte seltsam kindlich, als hätte jemand den Brief verfasst, der erst als Erwachsener gelernt hatte, zu schreiben.
Mylady Alixena Lue Lue, hier schreibt Ihr untertänigster Knecht Felix M’nan. Lord Gero Lue ist gestern Nacht überraschend in das Haus der Nachtkönigin eingezogen, möge er an ihrer Tafel speisen. Lord Dario ist wohlauf, das Haus Lue jedoch in hellster Aufregung. Sofern Sie an der Front entbehrlich sind, bitten wir alle demütigst um Ihre Rückkehr. M’nan
Hätte die Rüstung sie nicht gestützt, wäre Alixena zu Boden gegangen.
»Es ist wirklich beängstigend, was man mit einem hübschen Gesicht alles erreicht, nicht wahr, Narzissa?« Er lächelte seine eigenen Gesichtszüge im Spiegel an.
»Ja, Felix.«
Er war sich nicht sicher, ob der Spiegel ihn wirklich verstand oder lediglich darauf programmiert war, auf »nicht wahr?« mit einer Bestätigung zu antworten. Aber es war ihm egal. Er hielt den winzigen Dario im Arm und starrte auf das schlafende Babygesicht.
Es wäre so einfach, den Jungen zu töten. Er musste ihn nur versehentlich fallen lassen, das allein würde genügen, um sein zartes Genick zu brechen. Wie ein Unfall würde es aussehen. Man würde Verständnis haben. Als oberster Knecht des toten Lord Gero, war Felix einfach von seinen neuen Pflichten als Ersatzvater überfordert. Er nickte im Gehen ein. Einem Mann – und somit einem ohnehin niederen Geschöpf – würde man Nachsicht entgegenbringen.
Irgendetwas hielt ihn jedoch davon ab. Vielleicht das Gefühl, dass der Kleine ihm lebend mehr nutzen würde als tot. Vielleicht auch bloß, dass das Kind ein hübsches Gesichtchen hatte. Und er mochte es nicht, schöne Dinge kaputtzumachen.
Felix legte Lord Dario wieder in seine Wiege und zog die Kette mit der blauen Glasscherbe hervor, die er seit einigen Jahren um den Hals trug. Er hatte es nie übers Herz gebracht, das Glas zu verkaufen, sondern stattdessen sein weniges Geld ausgegeben, um es fassen zu lassen. Für ihn bedeutete es Freiheit. Freiheit von Aino.
Er wusste, dass Lady Alixena mit dem schnellsten Dampfmobil drei Tage brauchen würde, um aus Jundi nach Acniv zu gelangen. So lange hatte er also Zeit, um für den verstorbenen Lord Gero eine rührende Geleitzeremonie zu komponieren, die der Lady zeigen würde, was für ein wundervoller, umsichtiger Mensch er war und an was er alles dachte.
Felix steckte die Halskette wieder ein. »Narzissa? Wer ist der schönste Mann im Land?«
»Du bist es, Felix.«
»Und bald werde ich ein Lue sein.«
»Felix Lue, der schönste Mann im Land.«
»Exakt, Narzissa.« Einer plötzlichen Eingebung folgend, nahm er das Baby wieder aus der Wiege und hielt es so vor den Spiegel, dass sich das Gesichtchen von Lord Dario genau in der Mitte des Spiegels befand. »Merke ihn dir gut Narzissa. Das ist Dario Lue.«
Ein grünes Leuchten glitt über den Bildschirm und wurde bald durch eine Schrift ersetzt, die entfernt an Plain erinnerte. Was immer sie bedeutete, er wusste es nicht. Hauptsache, Narzissa war fertig und er konnte das Baby wieder ablegen. Schließlich hatte er noch eine Abschiedsfeier zu organisieren und dafür brauchte er Blumen aus dem Gewächshaus. Rosen, weiß wie Schnee und rot wie Blut. Nur die schönsten für den leider verstorbenen Lord Gero.
Bei der Gelegenheit sollte er auch gleich die Phiole mit dem Gift verschwinden lassen, ehe jemand unangenehme Fragen stellen konnte. Dafür hatte er nämlich gar keine Zeit.
Die überwältigende Trauer war bald einem Gefühl grimmiger Entschlossenheit gewichen. Sie musste nach Hause, zu ihrem Kind.
Da sie als Warlady ohnehin nicht an die Front gehen durfte, war es kein Problem, das Kommando an Vizelady Nala zu übergeben, sich eins der Dampfmobile mit Fahrer zu nehmen und so schnell wie möglich nach Acniv zu gelangen.
Immer wieder musste ihr Fahrer anhalten, um an den eigens dafür eingerichteten Knotenpunkten das Wasser zu ersetzen und neues Heizöl zu kaufen. Die drei Tagesreisen schienen ihr nicht zuletzt dadurch unendlich lang, zudem waren sie recht eintönig. Die meiste Zeit sah sie nur Sand und Fels, wenn sie denn überhaupt nach draußen schaute, statt die Scheiben verdunkelt zu lassen.
Trotzdem hatte sie kein Recht, sich bei dem Mann zu beschweren – immerhin war es ihm zu verdanken, dass sie überhaupt vorankam. Der rundum von hellgrauem Plastik umhüllte Wagen bot ihr Schutz vor der sengenden Sonneneinstrahlung, der Hitze und dem Staub, der selbst mehrere Jahrzehnte nach der großen Dunkelheit immer noch auf den Straßen lag und sich in den Lungen festzusetzen drohte, wenn man sich nicht davor schützte. Sie musste in seinem Inneren weder ihre Rüstung noch eine lästige Atemschutzmaske tragen.
Ob er sie vor der anderen Strahlung schützte, einer, die Menschen krank machte, wusste sie nicht. Aber irgendwie musste sie reisen. Nicht, dass es sie in den Städten nicht geben würde, aber laut den Geräten der Wissenschaftler schwächer. Auch wenn sie nicht wusste, weshalb.
Außerdem war sie vollkommen alleine in einem Wagen, der auf sechs Passagiere ausgelegt war, und konnte, wenn sie es wollte, sich auf dem Boden lang ausstrecken und ruhen.
Das gleichmäßige Geräusch sich drehender, gut gepanzerter Stahlräder mischte sich mit dem leisen Pfeifen der Dampfmaschine. Grau stieg der Rauch daraus auf und vermischte sich mit den ebenso grauen Wolken über dem Land.
Angeblich soll es hier einst immergrüne Wälder voller Tiere gegeben haben, aber seit die große Dunkelheit vorbei war, hatten sich erst wenige Pflanzen an die Oberfläche gekämpft und ihre sattgrünen Triebe wurden zu schnell wieder von einer Schicht aus Staub bedeckt. Manche Dinge kannte sie nur aus den Erzählungen ihrer Eltern: Frische Luft, gutes Wasser, milde Temperaturen, Tiere.
Lediglich ein paar Ratten hatte Alixena mal gesehen und verkrüppelt aussehende Birken, meist in den verlassenen Städten.
Nur Müll gab es im Überfluss. Ein Blick nach draußen genügte, um ihn zu sehen. Ihn und die Menschen, die größtenteils ohne dringend notwendigen Schutz darin herumwühlten, um sich etwas Geld für ihr erbärmliches Leben zu verdienen. Das war in ihren Augen das Schlimmste. Doch egal wie sehr sie versuchte, dafür zu sorgen, dass die Müllsammler fair bezahlt wurden, blieb sie selbst als Warlady ohnmächtig angesichts der herrschenden Korruption. Für die, die nicht in den offiziellen, von ihr kontrollierten Brigaden sammelten, konnte sie am wenigsten tun. Das waren rechtlose Menschen. Andererseits, waren sie nicht auch selbst schuld, wenn sie schwarz arbeiteten?
Sie fragte sich, wie es Dario ging. Verstand er überhaupt, warum sein Vater auf einmal nicht mehr mit ihm spielte? Ihn nicht mehr in den Arm nahm? Die Sehnsucht nach ihrem Kind war so groß, dass es schmerzte.
Seufzend legte Alixena sich auf dem Boden in die aufgeschichteten Kissen, schloss die Augen und stellte sich vor, wie es wäre, ihr Kind im Arm zu halten und Gero anzulächeln.
Gero.
Sie spürte, wie Tränen heiß aus ihren Augen quollen, machte sich aber nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Vermutlich war sie die einzige, die aufrichtig um ihn weinte. Sie und vielleicht noch dieser charismatische neue Oberknecht, der in den letzten Augenblicken von Geros Leben bei ihm gewesen sein musste. Wenn sie nicht alles täuschte, hieß er Felix, aber sie war sich dessen nicht ganz sicher. Sich Namen zu merken, war noch nie eine von Alixenas Stärken gewesen.
Wenn sie nur schon in Acniv angekommen wäre.