Читать книгу: «Adelsspross», страница 4

Шрифт:

»Ja, das Naach, allerdings.«

»Das Naach trägt die Göttin in Ihrem Schoß, und durch Sie kam es in die Schöpfung.«

»Gut auswendig gelernt. Aber kannst du mir auch sagen, was das bedeutet?«

Allmählich fragte ich mich, ob die Alte mich für dumm verkaufen wollte. »Bevor Lchnadra kam, war alles im Stillstand. Alles blieb immer so, wie es war. Erst als die Göttin das Naach brachte, begann alles, sich zu verändern, zu entwickeln. Das Naach ist das, was die Dinge in Fluss bringt. Es gibt ihnen aber auch ihr Ende, denn ohne Ende gibt es keinen Anfang und keine Mitte. Und die Göttin bringt beides, die Bewegung und deren Ende.«


»Zeit und Tod«, sagt er und lächelt. »Ich finde es sehr feinsinnig, dass es im Singisischen nur ein Wort für beides gibt.«

»Zeit und Tod«, wiederholt sie. »Das Naach. Lchnadra trägt es in sich, und so wird Sie zu Lchnaachdra, die uns aus diesem Leben holt. Denn ohne Tod gibt es für uns keine Zeit und ohne Zeit kein Leben. Das ist es, was ich gelernt habe und was Jorngiss damals von mir hören wollte. Die Alten Lehren. Der Tod als das entscheidenste Element des Lebens.«

Ich kann nicht behaupten, dass ich mich nicht geschmeichelt fühle.


Die schnurgeraden Augenbrauen der Alten sprangen nach oben. »Du hast mir ja tatsächlich zugehört! Aber verstehst du es auch?«

»Ich denke schon«, sagte ich zögerlich. Jorngiss nickte vor sich hin.

»Dann bist du vielen weit voraus, mein Kind. Ktorram Asnuor, zum Beispiel, versteht es nicht. Er und seine Monowyisten, sie sagen, dass Lchnaachdra den Nchrynnai Böses wollte, als sie uns zur Sterblichkeit verdammte.«

Ich runzelte die Stirn. »Aber im Buch der Schöpfung steht es doch ganz anders. ›Es wurden Geschöpfe geboren aus Geist und Fleisch‹, heißt es da, ›und Wy sprach zu SEINER einzigen Gefährtin: ›Dies sind Geschöpfe UNSERES Willens. ICH nenne sie Nchrynnai, die späten Kinder, und ICH gebe die Welt in ihre Hände. Doch DIR sind sie anvertraut, MEINE Geliebte. DEINEN Gesetzen sind sie unterworfen, bis sie eintreten in eine Welt, wo DEINE Macht nicht hinreicht.‹ – So heißt es doch, nicht wahr?«

Ich verstand es einfach nicht. Mir war klar, dass weder Asnuor noch die Monowyisten an einer überlieferungsgetreuen Auslegung der Schöpfungsgeschichte interessiert waren. Aber etwas zu behaupten, das dort nachweislich nicht stand, erschien mir doch eine recht kurzsichtige Taktik für eine Bewegung, die sehr langfristige Ziele hatte. Immerhin ging es ihnen angeblich um die Errettung der diesseitigen Welt, und der jenseitigen möglicherweise gleich dazu.

»Ah, ah, ah«, machte Jorngiss und wackelte mit ihrem krummen Zeigefinger. »Hast du vielleicht vergessen, dass Lchnaachdra für die Chyndrai sprach, um sie vor dem Schicksal des Todes zu bewahren, nicht aber für uns Nchrynnai?«

Ich runzelte die Stirn. »Dies sind Kinder MEINES Blutes«, hatte Lchnaadchra über die Chyndrai, ihre Erstgeborenen, gesagt, »und sie haben MEINE Liebe. Nicht sollen sie schwinden, denn nie will ICH von ihnen lassen bis ans Ende der Zeit.« Vielleicht konnte jemand, der in Lchnaachdra unbedingt seine eigene Mutter sehen wollte, diese Worte als Ablehnung der spätgeborenen Sterblichen verstehen, aber darum ging es doch gar nicht. Die Chyndrai waren Erdwesen aus Feuer, Staub, Luft und Wasser, und ihre Unsterblichkeit führte uns unsere eigene Vergänglichkeit im Angesicht der Schöpfung vor Augen. So jedenfalls hatte ich es mir zusammengereimt, aus all den diversen theologischen Lehreinheiten, die mir mal in der Mädchenschule, mal von der Ersten Dienerin und mal von meinem großen Bruder serviert wurden. Aber all das sagte ich nicht, sondern schüttelte nur den Kopf.

Jorngiss seufzte. »Für dich und mich mögen diese Deutungen wenig Sinn ergeben, Gottesgeschenk, doch schon immer hatten die Nchrynnai Angst vor dem Tod, und zu Zeiten wie diesen haben sie das ganz besonders. Wir stehen am Rande großer Veränderungen, kleine Mynrichwy. Die Nchrynnai haben den Blick über den Horizont getan und gesehen, dass es andere Welten gibt, die nach anderen Gesetzen funktionieren als die unsere und trotzdem nicht dem Untergang anheimgefallen sind. Diese Tatsache zu akzeptieren, fällt ihnen ausgesprochen schwer.«

Wieder legte ich die Stirn in Falten, dachte an den Whiskey auf dem dunklen Kirschholzschreibtisch meines Großvaters, an den Kaffee, den wir jeden Morgen und Mittag und Nachmittag tranken, an die Katzen, die sich auf den Straßen Naharmbras räkelten, und an die nostorische Poesie, die sich im Reichsweiten Daten-Äther ausbreitete wie ein virtuelles Lauffeuer. Ehe ich jedoch etwas von diesen Gedanken in Worte fassen konnte, wurde die Tür, die vom Familienzimmer aus in den Garten führte, mit einer Wucht ins Schloss geworfen, die das Gebäude in seinen Grundfesten zu erschüttern schien. Es war Vairrynn, und er sah eindeutig missgelaunter aus, als es einem Gerade-noch-Jungen am Vorabend seines fünfzehnten Geburtstags anstand.

»Wo warst du?«, fragte Mutter, von ihrem unvermeidlichen Stickrahmen aufblickend. »Mudmal ist schon vor über einer Mnega nach Hause gekommen.«

»Reiten!« Es klang mehr nach einem Bellen als nach einer Antwort, und ich dachte bei mir: »Na großartig! Seine Mannbarkeitszeremonie ist erst heute Abend, und er benimmt sich schon jetzt wie ein richtiger Mann.«

»Was ist passiert?«, frage Mutter unbeeindruckt.

»Gar nichts«, kam es zurückgegiftet, mit einem Gesichtsausdruck, als hätte das ganze Universum sich verschworen, ihm auf die Nerven zu gehen.

»Dann ist ja gut. Dein Vater möchte nämlich mit dir reden.«

Das Gesicht wurde um noch ein paar Nuancen missvergnügter. »Wozu denn? Ist das so ein traditionelles Vater-Sohn-Gespräch, in dem er mir unbrauchbare Ratschläge betreffs meiner männlichen Pflichten erteilt?«

»Er möchte mit dir sprechen«, wiederholte Mutter etwas schärfer. »Und er hat dir etwas sehr Wichtiges zu sagen, also schlage ich vor, du regst dich erst einmal ein wenig ab, und dann sage ich ihm, dass du hier bist.«

Mutter erntete einen todfinsteren Blick aus den hellen grauen Augen und ein kurzes Mundwinkelzucken. Dann fuhr Vairrynn herum, riss die Tür wieder auf und schmetterte sie erneut hinter sich ins Schloss. Das weit geöffnete Fenster des Familienzimmers ließ uns jedoch freimütig teilhaben an dem herausgeschrienen »Vahesch!«, das durch den Raum hallte.

»Du weißt, ich verstehe dich auch, wenn du auf Nordisch fluchst!«, rief Mutter in das Zimmer. »Und ich will dieses Wort nie wieder aus deinem Mund hören!«

Die Antwort war ein gedämpftes »Kedd«.

»Das könnte ich zur Not akzeptieren«, gab Mutter zurück, woraufhin auch die Tür des Familienzimmers zukrachte. Kopfschüttelnd beugte sich Mutter wieder über ihre Stickerei.

Jorngiss ihrerseits hatte die Szene mit dem regen Interesse einer alten Tante beobachtet. »Wie kommt es, dass der Junge auf Nordisch flucht?«

Mutter hob die Schultern. »Er liest einfach zu viele nordische Geschichten. Sie faszinieren ihn, sagt er. Er hat sich die alte nordische Sprache selbst beigebracht. Weil die Geschichten nur halb so gut sind ohne den Klang, sagt er.«

»Sieh an, sieh an«, murmelte die Alte. »Wie das Sprichwort sagt: Ein Fluss fließt immer ins Meer.«

Darauf erwiderte Mutter nichts, und es blieb mir mal wieder nichts anderes übrig, als mich über das rätselhafte Benehmen der Erwachsenen zu wundern, zu denen allmählich auch mein großer Bruder gehörte. Schließlich würde er heute Nacht die Welt der Frauen und Kinder für immer verlassen. Plötzliche Angst drückte gegen meine Augen, Angst, ihn zu verlieren, zumindest irgendwie. Sie machte mir die Kehle eng, aber was konnte ich tun, ich nicht mehr ganz so kleines Mädchen, gegen den Lauf der Welt? Mein Bruder würde heute eine Grenze überschreiten, und danach konnte nichts mehr so sein wie bisher. Es war ein Schmerz in mir, der neu war, den ich nicht gekannt hatte bis dahin, Verlustschmerz, Verlassensangst, und es war mir gleichgültig, welche Lehren mir die Erste Dienerin beizubringen versuchte und ob Ktorram Asnuor Angst hatte vor dem Tod und das Volk vor Veränderungen – alles war mir egal.

Nach einer Weile wurde der Sermon der Ersten Dienerin erneut unterbrochen, diesmal durch meinen Vater, der seinen Kopf aus dem Fenster des Familienzimmers streckte. »Ist er endlich da?«

Mutter nickte. »Ich nehme an, er sitzt in der Götternische und sinniert über die Ungerechtigkeit der Welt nach.«

Vaters Stirn furchte sich. In letzter Zeit tat sie das öfter. Ich wusste nicht, warum.

»Was ist passiert?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ist er ja bereit, mit dir darüber zu reden. Ich denke nicht, dass das Frauensache ist.«

Vater nickte unglücklich. Mutter schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, eines von jenen, die einem jäh die Gewissheit vermittelten, man könnte einem Drachen nur mit einer Nähnadel bewaffnet gegenübertreten. Mit einem tiefen Seufzen zog sich der Kopf ins Familienzimmer zurück, und die Erste Dienerin nahm ihren Vortrag wieder auf.


Vairrynn saß auf der kleinen hölzernen Bank in der Götternische, diesem heiligsten und privatesten Ort eines singisischen Hauses, und betrachtete die beiden Figurinen, die von zwei vierarmigen Leuchtern in weiches Licht getaucht wurden. Eigentlich, so ging Vairrynn ausgerechnet heute auf, grenzte dieses Machwerk seines Vaters an Blasphemie. Die Statuen stellten Wy und Lchnadra dar, natürlich, Hand in Hand, die Göttliche Einheit am Morgen der Welt. Sie waren aber auch ein minutiöses Abbild von Eftnek und Lys Neoly. Blasphemie, wahrlich, warum war ihm das bloß früher nie aufgefallen? Kein Wunder, dass sein Vater niemanden, der nicht zum Haushalt gehörte, einen Fuß in die Götternische setzen ließ. Blasphemie, und dabei waren die beiden Statuen für Vairrynn doch immer ein steinernes Bild selbstgenügsamer Liebe gewesen. Aber, aber, aber …

Mein Himmelsreiter vergrub das Gesicht in den Händen. Er hatte das alles nicht gewollt. Er hatte nicht gewollt, dass es so weit kam, jemals, einmal. Früher, als er noch klein gewesen war, hatte er lange gar nicht verstanden, dass andere, wenn sie die Leute anblickten, keine Landschaften sahen, sondern etwas, das in seinen Augen wenig mehr war als bloße Schale. Er konnte sich noch erinnern, ja, tatsächlich, wie er mit den Worten gerungen hatte, als er versucht hatte, ein kleiner Junge noch, mit anderen über das zu reden, was sich ihm darbot. Er sagte dann Dinge wie »Großvater ist tief bewaldet«, nur um sich von seiner Mutter erklären lassen zu müssen, dass man das nicht so sagte, dass das nichts bedeutete, und er sah sie an mit großen Augen und verstand nicht, wie sie so etwas behaupten konnte. Irgendwann hatte er dann begriffen, dass sie den Wald in Großvaters Gesicht nicht sah, auch sonst niemand, und dass nur Myn ihm mit offenem Mund und Ohren zuhörte, wenn er, hin und wieder nur, irgendjemandem von den Welten erzählen musste, die sich ihm in anderen darboten.

Nicht, dass ihm seine Muttersprache auch nur annähernd die Mittel geliefert hätte, seine Erfahrungen in Worte zu fassen. Das war auch der eigentliche Grund, aus dem er sich die alte nordische Sprache angeeignet hatte, in der Hoffnung auf einen Ausweg aus der Unbenennbarkeit, und warum er jetzt dabei war, so viel Terranisch wie möglich in seinen Kopf zu stopfen. Vairrynn wusste solche Dinge über sich selbst, und zu Zeiten verfluchte er sich dafür, für diesen Blick in die eigene Seele, der kaum weniger scharf war als in die anderer, für diesen wyverdammten Hang zur Introspektion, diesen Weg hinab, der ihn regelmäßig an einen Abgrund führte, angesichts dessen ihm nichts anderes übrig blieb, als seine Augen zu verschließen. Oh ja, Vairrynn hatte gelernt wegzuschauen, die Leute anzublicken und nur Schalen zu sehen. Am Anfang hatte es wehgetan, als hätte er jedes Mal ein Stück aus sich herausgerissen. Allumfassende Einheit! Aber von dem Tag an, da er Ktorram Asnuor in der Trutzburg gegenüber gestanden war, und … nein, das wusste er nicht mehr, was da gewesen war, wirklich nicht, es war in den Abgrund gefallen, ziemlich tief, selbst ich konnte es kaum mehr erkennen – ja, seit diesem Tag fiel es ihm nicht mehr sonderlich schwer, die Welt mit verschlossenen Augen zu betrachten. Nur ab und zu brach es sich Bahn, so wie heute, halb gegen seinen Willen, halb aus Berechnung, und dann schlich sich zu leicht dieses Entsetzen in die bleichen Gesichter der anderen, und manchmal wurde ihm dann schlecht, und manchmal … Er hob den Blick und starrte auf die Statue der Lys-Lchnadra.

»Was hast du getan?«, fragte er tonlos, nur seine Lippen bewegten sich. Die ihren nicht. Das steinerne Lächeln schien ihn zu verspotten, wenn auch nur ein wenig. Hatte sie es getan? Je tiefer er Eftnek Neoly ansah, und in diesem Fall tat er es sehr bewusst und sein Blick ging wahrlich weit, desto weniger konnte er auch nur eine Spur von Verwandtschaft zu diesem Mann erkennen in sich selbst. Der Gedanke gefiel ihm genauso wenig wie jedem anderen jungen Singisen, aber er war auch ehrlich zu sich, meistens zumindest. Doch wenn es stimmte, wenn Lys Neoly tatsächlich ihren Mann betrogen und ihm ausgerechnet den Erstgeborenen untergeschoben hatte, was sagte das dann aus über ihn selbst?

Vielleicht gar nichts. Nichts, außer dass er keinen legitimen Anteil hatte an den Neolys, an dieser uralten Familie, an Eftneks genialischem Künstlertum und an der politischen Raffinesse des alten Patriarchen, und nicht das geringste Recht auf die Nachfolge als Familienoberhaupt. Vairrynn starrte auf den Ring an seiner linken Hand, an dem rot und rund das Familiensiegel der Neolys prangte. Vielleicht, vielleicht sagte es aber auch alles.

Ein vorsichtiges Klopfen holte Vairrynn aus seinen wenig erfreulichen Gedanken, und der Mann, den er fürchtete, nicht mehr guten Gewissens Vater nennen zu können, trat ein.

»Hat es Ärger gegeben?«, fragte Eftnek Neoly. »Mud hat etwas in der Richtung angedeutet.«

»Nicht wirklich«, meinte Vairrynn achselzuckend.

Da sein Sohn nicht mit zerschlagenem Gesicht nach Hause gekommen war, da dies, in der Tat, noch nie passiert war, beschloss Eftnek, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Auch er war durch eine naharmbranische Jugend gegangen, und so teilte er mehr Erfahrungen mit Vairrynn, als mein Himmelsreiter dachte. Du musst deinen Mann stehen, hörte Eftnek jetzt noch seinen Vater sagen, und das würde er seinem Sohn sicher nicht vorbeten. Zumal der dies auch gar nicht nötig zu haben schien.

»Vairrynn …«, begann er, wusste aber nicht weiter und blickte hilfesuchend zu den Götterfiguren auf.

»Geht es um heute Abend?«, kam die etwas mürrische Frage.

»Nein, es … es geht eher um etwas, das vor fünfzehn Jahren passiert ist.«

Von einem Augenblick auf den anderen hatte Eftnek Neoly die volle Aufmerksamkeit des Gerade-noch-Jungen, und der helle graue Blick, scharf und durchdringend, weckte wie so oft alte Erinnerungen.

»Ich höre dir zu«, sagte Vairrynn mit unbewegter Miene. Einen verrückten Moment lang fragte sich Eftnek, ob der Junge vielleicht schon alles wusste. Er holte tief Luft wie vor einem Sprung in zu kaltes Wasser.

»Vairrynn, von morgen an bist du erwachsen, und du hast das Recht, zu erfahren, wer du bist.« Verdammt, nun mach schon, Neoly, verfluchte er sich selbst, das musst du doch besser können, du Trottel. »Vairrynn, deine Mutter … ich meine, Lys und ich, wir sind nicht deine Eltern.«

Es war heraus. Und Vairrynn starrte ihn nur an mit diesen Augen, die so sehr denen seiner Mutter glichen, dass sich Eftnek zu Zeiten die Nackenhaare aufstellten. Weiter, jetzt gab es kein Zurück mehr.

»Wir … wir haben dich adoptiert, als du etwa zwei Jahre alt warst, und, glaub’ mir, für uns warst du immer unser Sohn, unser erster Sohn. Aber deine leiblichen Eltern sind Nohaín und Sannáh Sxarram.«

Stille.

»Das sind nordische Namen«, war schließlich das Erste, was Vairrynn sagte, und als der Holzsteinschnitzer nickte, legte sich für einen Moment ein wildes Grinsen auf Gesicht meines Himmelsreiters. Dann war das Grinsen wieder verschwunden, wie weggewischt, und Vairrynn fragte sehr bedächtig: »Was ist mit ihnen passiert?«

Eftnek seufzte zitternd. Es tat immer noch weh. »Sie waren unterwegs nach Trvane, du weißt schon, der nordischen Kolonie an der Grenze zu den Vereinten Planeten. Was sage ich da, natürlich weißt du das, du kennst unsere Weltraumkolonien besser als … nun, jedenfalls, sie wollten dort die Eltern deines Vaters besuchen, um … ach, siehst du, ich weiß nicht einmal mehr, warum. Jedenfalls, das Raumschiff kam dort nie an. Es explodierte, kurz nachdem es Singis verlassen hatte; es hieß später, etwas sei am Antrieb schadhaft gewesen, ich kenne mich da ja nicht so aus.« Oh Göttliche Einheit, Nohaín, warum bist du nur in dieses wyverdammte Raumschiff gestiegen? »Vairrynn, glaub’ mir, deine Eltern waren großartige Leute und die besten Freunde, die Lys und ich jemals hatten. Es zerreißt mir das Herz, dass du nie die Gelegenheit haben wirst, sie kennenzulernen, dass du nie …« Die alte Trauer war so scharfkantig in seiner Kehle, dass sie ihm die Worte abschnitt, bevor er sie formen konnte.

»Es tut mir leid«, sagte Vairrynn sacht.

»Nein; nein, mir tut es leid, mein Junge.«

Eine Weile saßen sie schweigend beieinander. Eftnek hätte gern gewusst, was jetzt in Vairrynn vorging, aber der konnte bisweilen noch undurchdringlicher sein, als Sannáh es gewesen war.

»Alles in Ordnung?«, fragte Eftnek schließlich.

»Ich denke schon«, kam die zögerliche Antwort. »Es ist nur etwas … ich glaube, ich brauche einige Zeit, bevor ich überhaupt begriffen habe, was du mir gerade gesagt hast.«

Eftnek legte seinem Sohn, ja, seinem Sohn, und das würde er immer bleiben, er legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. »Du sollst nur wissen, dass ich dich stets als Teil meiner Familie betrachtet habe, mein Junge, wir alle. Großer Wy, Lys hat dich geliebt vom ersten Augenblick an, da sie dich gesehen hat, und ich glaube, sie beneidete deine Mutter um dich. Wir waren ja damals schon fünf Jahre verheiratet und hatten immer noch kein Kind, und Mynrichwy kam erst über drei Jahre später …« Ich plappere, ging Eftnek auf, und er räusperte sich unbehaglich. »Was ich sagen will: Es ist sehr wichtig, dass du erfährst, wo deine Wurzeln sind, und du kannst mit allen Fragen, die du über Nohaín und Sannáh hast, zu uns kommen. Sannáhs Eltern sind schon lange tot, und Nohaíns Mutter ist kurz nach dem Unfall ebenfalls gestorben, aber sein Vater lebt immer noch auf Trvane, und er wird sicher Kontakt zu dir aufnehmen wollen. Doch eines sollst du wissen: Du bist ein Neoly, mein Junge, mit Blut und Seele. Ich habe den Blutseid geschworen damals, als wir dich aufnahmen, und niemand wird je die Bande, die dich an die Neolys knüpfen, lösen können.«

Eftnek erntete einen schrägen Blick aus den grauen Augen. »Denkst du denn, das hat irgendjemand vor?«

Fünfzehn Jahre, und der Junge schaffte es jeden Tag wieder, ihn zu überraschen. Es war eine Bemerkung, die von Sannáh hätte kommen können, nur hätte sie es zynischer gesagt und mit einem unschuldigen Augenaufschlag.

»Nein, das denke ich nicht. Mein Vater war damals einverstanden mit der Adoption, und ich weiß zufällig, dass er große Stücke auf dich hält. Nur …«

»Nur wird er niemals jemand anderen als seinen leiblichen Enkel als potenziellen Patriarchen akzeptieren«, vollendete Vairrynn mit einem ganz leichten Kräuseln der Mundwinkel. Eftnek zögerte einen Moment, dann nickte er.

»Ist das ein Problem für dich?«

»Warum sollte es das sein? Ich wollte nur wissen, woran ich bin. Mudmal kann den Job von mir aus haben, wenn du ihn nicht willst.«

»Es ist auch nicht so, dass du …« Dass du niemand bist, hätte Eftnek fast gesagt, aber er verbiss es sich und versuchte, sich mit Flapsigkeit zu retten: »Dass du auf uns angewiesen wärst. Deine Eltern haben dir ein Gut hinterlassen, oben im Norden. Nohaín war Tygdul-Züchter, musst du wissen, und ein sehr renommierter noch dazu. Dein Großvater, also Nohaíns Vater, und ich, haben das Gut verpachtet, aber jetzt bist du erwachsen, und es gehört dir.«

Mit einem Mal war in Vairrynns Augen ein Glänzen, in dem sich eine ganze Welt zu spiegeln schien, eine Welt sanfter, langgrasiger Hügel und freiziehender Tygdulai, wo es nach Regen roch und der Wind vergessene Lieder mit sich trug. Es war wohl in diesem Augenblick, da meinem Himmelsreiter das ganze Ausmaß dessen aufging, was Eftnek Neoly ihm gerade offenbart hatte. Und am liebsten hätte er aufgelacht, da er, der er kurz zuvor noch in düsteren Gedanken gefangen gewesen war, die an seiner Identität rissen wie ausgehungerte Wchlachai, in einem strahlenden Moment erkannte, dass sein Leben in Wirklichkeit ganz einfach war.


Ich hatte mir mit einem geschickten Doppelmanöver Luft verschafft, indem ich die Erste Dienerin auf meine häuslichen Pflichten und Dlindgy, unser Mädchen für alles, auf die Erste Dienerin verwiesen hatte, und war jetzt auf der Suche nach meinem großen Bruder. Ich hatte zu guter Letzt beschlossen, dass es gegen die Angst in meiner Kehle nur ein Mittel gab, und zwar das, mit dem ich noch jede Art von Furcht bekämpft hatte, solange ich denken konnte: Vairrynn. Ich fand ihn schließlich im kleinen Stall unserer Tygdulai. Er war gerade dabei, meine alte Schygag-Dah mit Süßzeug vollzustopfen. Ich beobachtete ihn eine ganze Weile, bis er sagte »Hallo, Myn«, ohne sich umzudrehen.

»Du weißt am besten, dass du das nicht tun solltest«, meinte ich. »Sie ist eh schon viel zu dick.«

»Ich weiß«, entgegnete er schulterzuckend und gab meiner Stute ein weiteres Bnada-Toffee. Ich überschlug im Kopf, wie weit ich sie wohl morgen reiten würde müssen, um diese Kalorien wieder von ihren molligen Flanken zu bekommen, beschloss aber dann, dass er, da er sie mit dem ganzen Süßkram gemästet hatte, sie auch reiten durfte. Wahrscheinlich würde er ohnehin nichts lieber tun, als an seinem Geburtstag mit einer überfressenen Tygdul-Stute durch die Einöde zu traben.

»Du, Myn?«, sagte er plötzlich und drehte sich um.

»Ja, was ist denn?«

Er stand da und sah mich mit weiten grauen Augen an und fragte: »Zwischen uns wird sich doch nie etwas ändern, oder?«

Mir fiel der Unterkiefer herunter, und das aus mehreren Gründen. Nicht nur hatte mir Vairrynn gerade die Frage gestellt, die mir seit Tagen keine Ruhe mehr ließ, nein, er hatte es auch noch in einem Tonfall getan, als würde für ihn alles von meiner Antwort abhängen, als könnte ausgerechnet ich tatsächlich eine verlässliche Vorhersage machen, was in Zukunft passieren mochte. Und dann merkte ich noch etwas, und das war wohl das Erstaunlichste von allem: Ich begriff, dass aus irgendeinem unerfindlichen Grund Vairrynn mich brauchte. Also klappte ich meinen Mund zu, schluckte die Angst hinunter und lachte: »Also, Vai, was ist das überhaupt für eine Frage? Natürlich wird sich nie etwas ändern zwischen uns. Du bist doch mein Bruder!«

Da lächelte er ein eigenartiges, kleines Lächeln und umarmte mich so fest, dass mir fast die Luft wegblieb. »Ja, Myn, du hast recht, genau das bin ich.«

Während wir da so standen, kam mein anderer Bruder in den Stall gehüpft (es musste wohl Großmutters Erbe sein). »Hey, ihr beiden, was treibt ihr da?«

Vai ließ mich los und grinste Mudmal an. »Wir sagen uns gerade gegenseitig, wie lieb wir uns haben.«

»Iiiik«, machte Mud, aber dann gab er Vairrynn einen brüderlichen Knuff, zog mich an den Haaren und brummelte irgendetwas, das entfernt nach »Ich hab euch aber auch lieb« klang. Und so fanden Vater und Mutter etwa eine halbe Mnega später drei Geschwister vor, die traulich vereint die Tygdulai mit Bnada-Toffees fütterten.

Vairrynn begrüßte unsere Eltern mit sardonisch gehobenen Augenbrauen. »Habt ihr vielleicht das Familienzimmer in den Stall verlegt, ohne es mir zu sagen?«

»Das wäre vielleicht sogar angebracht, so oft wie du dich hier drin rumtreibst«, lachte Mutter.

»Der Fluss spricht immer von der Quelle«, sagte Vater darauf, und ich fragte mich, was heute nur alle mit ihren Fluss-Sprichwörtern hatten. Vai grinste allerdings nur ein wenig belämmert, die Eltern taten es ihm nach und Mud und ich sahen uns an, hoben die Schultern und grinsten einfach mit.

»Ach, übrigens, Vairrynn, Hegg hat dir etwas zu zeigen«, meinte Vater. Hegg war ein Mann von der anderen Seite der Stadt, der sich um unsere Tygdulai kümmerte (das heißt, um das Wenige, das Vairrynn ihm übrig ließ), um unseren Garten und was sonst noch an Arbeiten am und ums Haus anfielen. Anders als Dlindgy wohnte er nicht bei uns, was mich als kleines Kind allerdings nicht davon abgehalten hatte, ihn als netten Onkel zu betrachten, der viele lustige Spiele kannte und den man damit hervorragend von der Arbeit abhalten konnte.

Vairrynn folgte Vater etwas irritiert nach draußen, und Mud und ich hüpften hinterdrein. Vor dem Stall wartete Hegg, ein dünner, hochaufgeschossener Kerl mit abstehenden Ohren und momentan ebenfalls einem breiten Grinsen im Gesicht. Aber das war nicht der Grund, warum Vairrynn wie erstarrt stehenblieb. Selbst ich, die ich gewusst hatte, was uns erwartete, hielt überwältigt den Atem an. Hegg hielt einen jungen Tygdul-Hengst am Zügel, und ich konnte mit Fug und Recht behaupten, noch nie in meinem Leben ein schöneres Geschöpf gesehen zu haben. Hätte jemand meinen Vater beauftragt, die vollendete Harmonie von Eleganz und Kraft in Stein zu hauen, wäre das Ergebnis trotz der Meisterkunst Eftnek Neolys weit hinter diesem Hengst zurückgeblieben, der da vor uns stand, pechschwarz von der Hufspitze bis zu den Nüstern, grünäugig und sichelgehörnt, Fleisch gewordene Perfektion. Die Luft um ihn herum schien vor Energie zu knistern, und ein Mehr an Stolz ist mir bis zum heutigen Tag nicht untergekommen.

»Himmelsstürmender Vair«, flüsterte mein großer Bruder schließlich, als er seine Stimme halbwegs wiedergefunden hatte. »Er … er ist großartig.« Vorsichtig trat er auf den Hengst zu. »Sei gegrüßt, mein Schöner.«

Die durchscheinenden Ohren zuckten nach vorne, und das Tygdul betrachtete Vairrynn mit schiefgelegtem Kopf. Dann gurrte es leise, und mir war, als würde es Vairrynns Gruß erwidern, auch wenn das reine Spinnerei sein mochte. Vai grinste wieder, wilder diesmal und irgendwie … ungebunden.

»Nun steig schon auf«, meinte Vater, ein Lachen in der Stimme. Das ließ sich Vai nicht zweimal sagen, und wir alle gingen hinunter an den Strand, wo er sein Tygdul laufen ließ wie Wind und Gischt. »Meine Göttin, die beiden sind wie füreinander gemacht«, sagte meine Mutter, und Vairrynn rief: »Allgütige Einheit, diesem Tygdul kommt kein anderes gleich!« Sie hatten beide recht.

Dieser Nachmittag unten am Meer gehörte unserer kleinen Familie. Jorngiss besaß genug Feingefühl, ihn uns zu lassen und sich oben im Haus mit dem zu beschäftigen, was Erste Dienerinnen eben so tun. Der Abend, das war von Vornherein klar gewesen, gehörte der Trutzburg. Aber diese Mnegau am Strand waren die unseren. Ich hielt meine Nase in die Blütezeitbrise und beobachtete meinen großen Bruder, wie er auf seinem Hengst, den er nach dem Klang von Wind und Gischt Reywinn getauft hatte, über den weißen Sand jagte. In mir breitete sich das weiche, warme Gefühl aus, das alles, aber auch alles in Ordnung war – als hätte sich die Welt behaglich seufzend wieder in die ihr vorbestimmten Bahnen sinken lassen.

Бесплатный фрагмент закончился.

382,08 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
302 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783752931006
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают