Читать книгу: «Adelsspross», страница 2

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Vairrynn wiegte den Kopf. »Ja, so was haben sie bisher immer behauptet. Sie nennen Wy den Einen Erschaffer statt den Ersten, als würde das keinen Unterschied machen. Dabei reduziert man Lchnadra zu einem bloßen Werkzeug im Schöpfungsprozess, wenn man das tut. ›Am Anfang war Wy und nichts als Wy, und ER war die Fülle und die Leere und das All und der Geist.‹ – Diese Monowyisten tun so, als bestünde die Schöpfungsgeschichte aus nur einem Satz!«

»›Und da wollte ER Leben schaffen, und da schuf ER Leben, doch es blieb sich immer gleich‹«, griff ich den Faden auf. »›Und dann war da Lchnaachdra, DIE das Naach trug in IHREM Schoß, und da kam das Leben in Fluss, und es blieb in Fluss, und es fand sein Ende und seinen Neubeginn. Und es war gut.‹ – Was ist denn daran so schwer zu verstehen?«

Vairrynn schmunzelte, als hätte ich etwas Lustiges gesagt, nur irgendwie auch nicht; es war vielleicht das erste Mal, dass ich ein Lächeln sah, das keines war. »Wenn das nur alles wäre«, meinte er. »In letzter Zeit habe ich diese Straßenprediger immer wieder sagen hören, Lchnadra sei zusammen mit Dechal gefallen und eine Kreatur des Nichtseins, ganz wie der Göttliche Gegner.«

Ich riss die Augen auf und schlug das Zeichen der Göttlichen Einheit, schon zum zweiten Mal an diesem Tag. »Aber das ist blanke Blasphemie!«

Vairrynn kaute auf seiner Unterlippe. »Das habe ich bisher auch gedacht. Ich verstehe nicht, wieso, aber die Wypriester sehen das offenbar anders, wenn sie diesen Asnuor zu ihrem Ordensoberhaupt ernennen. Er ist einer der führenden Köpfe der Monowyistenbewegung. Und mit ihm als Obersten Priester werden die Monowyisten bald mehr sein als geifernde Straßenprediger.«

Ich nickte langsam vor mich hin. Nur der Vorsteher des Reiches und das Parlament, die Runde der Berufenen, standen über dem Obersten Priester des Wy. Trotzdem …

»Ich verstehe aber immer noch nicht, warum dieser Asnuor Mutter solche Angst macht, selbst wenn er will, dass alle Lchnadra für eine Kreatur des Bösen halten.«

Mein Bruder schüttelte ernst den Kopf. »Nicht nur Lchnadra. Wenn sie das Böse in sich trägt, dann gilt das auch für alle ihre Töchter. Für alle Frauen, Myn.«

Wir kamen spät nach Hause an diesem Abend. Zu spät. Hauptsächlich war das meine Schuld; ich tat immer mein Möglichstes, die Zeit im Gonn-Memnáh hinauszuziehen, und Vairrynn ließ sich meist nur zu leicht überreden. Diesmal jedoch hatten wir es zu weit getrieben, und es gab Ärger – allerdings nicht für mich, die ich mich wieder vor dem Sticken gedrückt hatte, sondern für Vairrynn. Er war der große Bruder, er trug die Verantwortung für mich. Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen, während Vater Vai vor versammelter Mannschaft einen Vortrag über Pflichtbewusstsein hielt und seine dunklen Augen ärgerlich funkelten. Ich hasste es, wenn mein großer Bruder wegen mir in Schwierigkeiten geriet, aber wenn ich vorgetreten wäre und die Schuld auf mich genommen hätte, hätte ich alles nur noch schlimmer gemacht. Singisen haben nicht auf ihre kleinen Schwestern zu hören. Und so ließ Vairrynn Vaters Vortrag mit ein paar in passenden Momenten eingebrachten Gesten der Zustimmung über sich ergehen. Dass Vai mich unterrichtete, war unser wohlgehütetes Geheimnis; wir wollten uns beide gar nicht ausmalen, was Vater tun würde, würde er je herausfinden, was vor sich ging, wenn sein Erstgeborener mit seiner Tochter verschwand. Es geziemte sich für eine singisische Frau nicht, zu viel zu wissen. Ich glaube, weder ich noch mein großer Bruder machten uns damals bewusst, wie gefährlich dieses zu große Wissen tatsächlich werden konnte.

Endlich wurde Vai mit der Versicherung, er würde sich bemühen, seiner Verantwortung in Zukunft gerecht zu werden, entlassen. Gleich darauf belegte ihn die Erste Dienerin mit Beschlag, und den Rest des Abends steckten die beiden die Köpfe zusammen; anscheinend hatte sich Jorngiss Mutters schnippischen Ratschlag zu Herzen genommen. Leider bekam ich keine Gelegenheit, herauszufinden, was es nun eigentlich war, das sie von Vairrynn wollte. Mutter schickte mich nämlich sofort in die Küche, um Dlindgy beim Kochen zu helfen. Da ich später auch zusammen mit unserem Mädchen für alles beim Abendessen auftragen musste, hatte ich den starken Verdacht, dass sich Mutters Ansicht darüber, wen die Schuld für unser Zuspätkommen traf, ein wenig von Vaters unterschied.

»Na, was hast du jetzt wieder angestellt?«, fragte mich mein kleiner Bruder leise und mehr als ein wenig schadenfroh, als ich den Tisch abräumte. Er kannte seine Geschwister gut genug, um sich denken zu können, dass ich meinen Anteil an unserer Verfehlung gehabt hatte. Als Antwort streckte ich ihm die Zunge raus; der kleine Störenfried brauchte sich nichts darauf einzubilden, dass es heute mal Vairrynn und mich erwischt hatte. Mudmal lachte und überließ mich mit einem durchaus boshaften Glitzern in den Augen meiner Arbeit. Ich spielte einen Moment mit dem Gedanken, ihm meinen feuchten Abwischlappen in den Nacken zu werfen, ließ es dann aber bleiben. Mutter hatte mir so oder so schon so viele Aufgaben aufgetragen, dass ich gerade noch rechtzeitig zur großen Abschiedsszene der Ersten Dienerin damit fertig wurde.

Jorngiss wirkte fast ein wenig sentimental, als sie uns Kinder segnete. Sie strich Mudmal mit ihrer knorrigen Hand über die Wange und nannte ihn einen echten Neoly, mir tätschelte sie den Kopf und meinte, ich solle nur so weitermachen wie bisher. Bei Vairrynn, der die Alte bereits um ein Weniges überragte, verzichtete sie auf ihre Großtantengesten, legte ihm stattdessen die Hand auf die Schulter und sagte ausgesprochen kryptisch: »Vergiss nie, dass du stärker bist als sie alle, ja? Aber sei vorsichtig. Und pass auf deine kleine Schwester auf, versprich mir das.«

Vairrynn nickte ernst, während mir ziemlich respektlos durch den Kopf fuhr, dass sich unsere alte Tante Jorngiss wahrscheinlich ganz einfach einen Spaß daraus machte, ihr Umfeld gründlichst zu verwirren. Für ihre Verhältnisse war das »Achte gut auf deine kleine Familie, mein Junge«, mit dem sie meinen Vater bedachte, mehr als harmlos. Von meiner Mutter verabschiedete sie sich mit einer festen Umarmung. Für einen Moment sah es so aus, als würden sich die beiden Frauen aneinander festhalten. Dann verschwand Jorngiss, Erste Dienerin der Lchnadra, wie sie gekommen war: des Nachts, bei Wind und Wetter und unter einem Mantel der Heimlichkeit. Ich war nicht die Einzige, der das merkwürdig vorkam.

Bald nach dem Aufbruch der Ersten Dienerin schickten die Eltern uns ins Bett. Verfressen wie ich bin, konnte ich es nicht lassen, mir einen kleinen Mitternachtsimbiss aus der Küche zu stibitzen, und ich schwöre, dass bei meiner Rückkehr die Tür zum Familienzimmer nur aus reinem Zufall einen Spalt offen stand. Ich hätte auch nicht gelauscht, hätte ich nicht Vater meinen Namen aussprechen hören, und da gewann meine ungeliebte Neugier die Überhand.

»Wieso hätte uns Jorngiss wegen Mynrichwy besuchen sollen?«, fragte Mutter gerade.

»Sag du es mir«, entgegnete Vater griesgrämig. Seine Begeisterung war beim Auftauchen der Ersten Dienerin schon alles andere als gewaltig gewesen und hatte sich im Laufe des Tages lediglich ins Negative gesteigert. Diese seine schlechte Laune war wohl auch der eigentliche Grund gewesen, warum er Vairrynn gar so zusammengestaucht hatte.

»Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst, Eftnek.«

Ich konnte Vaters Stirnrunzeln geradezu hören. »Sie hat sich doch den ganzen Abend lang regelrecht überschlagen, was für ein besonderes Mädchen deine Tochter ist – zumindest, wenn sie nicht gerade dabei war, meinem Sohn Flausen in den Kopf zu setzen.«

»Und weiter? Freut es dich nicht, wenn jemand gut von deiner Tochter spricht?« Mutters Stimme klang eher müde als aufsässig, aber ich wusste, sie hätte solche Worte nicht gebraucht, wenn sie nicht ernstlich verärgert gewesen wäre. Einen Moment lang war es still im Familienzimmer.

»Denkst du, sie will Mynrichwy für den Orden?«, fragte mein Vater dann. Ich bekam vor Schreck einen Schluckauf und presste die Hände vor den Mund. Mein Leben wurde von einem Moment auf den anderen bitterernst.

»Ich weiß es nicht«, meinte Mutter, und ich hörte ihr das Erstaunen über diesen Gedanken an. »Das Kind ist erst neun. Aber selbst wenn – sollten wir uns nicht geehrt fühlen? Die Dienerinnen der Lchnadra sind hoch angesehen.«

Mein Vater brummelte etwas in seinen Bart.

»Was war das, Schatz?«

»Ich habe nichts gegen den Lchnadra-Orden, Lys. Aber Jorngiss denkt, sie kann von der Familie verlangen, was sie will. Und meistens verlangt sie zu viel. Dabei ist sie technisch gesehen gar keine Neoly mehr.«

»Der Fluss spricht immer von der Quelle«, entgegnete Mutter. »Und das bedeutet auch, dass Mynrichwy innerhalb des Lchnadra-Ordens so gut wie keine Grenzen gesetzt wären. Sie könnte alles erreichen, und Jorngiss hat recht, weißt du: Deine Tochter ist nicht gerade dumm.«

Vaters Gebrumm klang nur um Nuancen besänftigter. »Mir gefällt der Gedanke einfach nicht, meine Tochter dieser alten Unruhestifterin zu überlassen.«

»Es könnte die einzige Möglichkeit sein, sie vor der Heiratspolitik zu schützen, die dein Vater so leidenschaftlich betreibt«, entgegnete Mutter ernst. Langsam wurde mir aufrichtig schlecht.

»Die Entscheidung über das Leben meiner Tochter liegt bei mir«, knurrte Vater. »Der Alte wird sich nicht einmischen, ganz im Gegensatz zu Ihrer Hochwürden, der Ersten Dienerin.«

Mutter seufzte vernehmlich. »Natürlich ist es deine Entscheidung. Aber wir haben doch noch Zeit. Mynrichwy hat noch Zeit. Wir sollten ihr ihre Kindheit nicht nehmen, und ich glaube auch nicht, dass Jorngiss das vorhat.«

»Sie hat also nichts zu dir über Mynrichwys Zukunft gesagt?«, meinte Vater nach einem Moment. Er klang ehrlich erleichtert. »Was, bei Wy, wollte sie denn dann hier?«

»Ich weiß es nicht, mein Schatz«, sagte meine Mutter mit einer Fröhlichkeit, die unglaublich falsch klang in meinen Ohren, und das trieb mich endgültig weg von der Tür und in mein Zimmer, das mir schon oft wie eine kleine, sichere Höhle vorgekommen war. In dieser Nacht versagte es jedoch. Dass ich zum ersten Mal mit angehört hatte, wie meine Mutter ihren Mann belog, mit locker-leichter Stimme und ohne zu zögern, war nur der krönende Abschluss dieses Tages. Es war, als hätte sich meine Welt um eine Winzigkeit verschoben und dadurch Risse bekommen. Die Erste Dienerin, Ktorram Asnuor, die Monowyisten, eine lügende Mutter – nichts davon hatte noch am Tag zuvor einen Platz in meinem Leben gehabt. Und als sei das nicht genug, fingen meine Eltern an, sich Gedanken um meine Zukunft zu machen, als sei ich kein kleines Kind mehr, sondern …

Die Zukunftsbilder, die meine Eltern für mich gezeichnet hatten, verstörten mich. Mir war, als könnte ich plötzlich mein Leben wie eine Straße vor mir ausgebreitet sehen, eine Straße, die sich in nicht allzu großer Entfernung in zwei Richtungen zweigte. Entweder den einen oder den anderen Weg würde ich gehen müssen. Doch während ich weitäugig in meinem Bett lag und mich von einer Seite auf die andere warf, ging mir auf, dass ich gar nicht gehen wollte. Ich wollte fliegen.

STURMZEIT

Wenige Tage später war die Nachricht, die die Erste Dienerin meiner Mutter gebracht hatte, in aller Munde: Ktorram Asnuor war zum Obersten Priester gewählt. Das gesamte Reich summte vor Aufregung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Asnuor außerhalb des Tempels kaum von sich reden gemacht. Dass er ein Monowyist war, löste milde Konsternierung aus, aber hauptsächlich waren die Leute einfach zum Platzen neugierig auf ihr neues geistliches Oberhaupt. Von keiner Seite, weder aus den Reihen meiner Familie noch aus den Medien, hörte ich ein Echo des Entsetzens, das der Name Asnuor bei Mutter ausgelöst hatte, oder wenigstes von Vairrynns stirnrunzelnder Besorgnis. Was man jedoch sehr bald hören konnte, war Unmut, ja, Ärger. Ktorram Asnuor ließ sich denkbar viel Zeit mit der Terminbekanntgabe für seine Einführungszeremonie, und wir Nchrynnai – wie wir Singisen uns selbst nennen – tun nichts ohne eine Zeremonie. Die Leute, vom Freudenmädchen bis zum Parlamentsmitglied, fühlten sich durch Asnuors Zögern mehr als vor den Kopf gestoßen.

»Worauf wartet dieser Asnuor eigentlich?«, empörte sich mein Onkel Zernteyb, der jüngste Sohn des alten Neoly, einmal meinem Vater gegenüber. »Was glaubt er denn, wer er ist? Die Manifestation Wys, die ungeweihte Augen nicht schauen dürfen? Der soll sich nicht so aufführen, dieser eingebildete Monowyist! Wie konnten sie nur auf die hirnverbrannte Idee kommen, diesen Kerl zum Obersten Priester zu wählen? Ich glaube, diesem selbstgerechten Überflieger gehören die Flügel gestutzt! Was meinst du, Eftnek, wie lange Vater sich das Ganze noch anschaut?«

»So lange, wie es dauert«, entgegnete mein Vater. »Die Großen Alten haben sich noch nie in die Angelegenheiten der Geistlichkeit eingemischt, und Vater hält nichts davon, fremde Schlachten zu schlagen, das weißt du doch ganz genau.«

»Du glaubst also tatsächlich, dass der alte Ränkeschmied diesem Möchtegern-Priester das Feld überlassen wird?«, fragte Zernteyb.

»Sein Feld, ja«, meinte Vater, und so verloren die beiden sich in einer Diskussion über den Jemand, der sich allemal noch besser für die Lästereien der Neoly-Brüder eignete als der leutscheue Oberste Priester.

»Was hältst du von der ganzen Sache?«, fragte Vairrynn wenige Tage später Mutter. »Was hat dieser Asnuor vor?« Vairrynn kam mit solchen Fragen immer zu Mutter.

»Er will, dass man über ihn redet«, antwortete sie.

»Aber es bringt ihm doch nichts, wenn die Leute schon wütend auf ihn sind, bevor er sein Amt überhaupt angetreten hat.«

»Oh, er wird sich schon etwas einfallen lassen, um sie zu versöhnen. Wichtig ist, dass sein Name jetzt in aller Munde ist. Er heizt die Stimmung immer mehr an, ohne einen Finger zu rühren, und bereitet so die Bühne für seinen großen Auftritt.« Sie sagte das mit einem zynischen, fast bitteren Unterton. Vairrynn musterte sie mit schiefgelegtem Kopf.

»Woher weißt du eigentlich so viel über Ktorram Asnuor?«

Mutter zuckte zusammen, sagte dann aber leichthin: »Um diesen Mann zu durchschauen, muss man nicht viel über ihn wissen; das kann man sich an vier Fingern ausrechnen.«

Sogar mir war klar, dass das keine Antwort auf Vairrynns Frage war. Mein Bruder starrte Mutter einen Moment lang an, durchdringend, intensiv. Ich kannte diesen Ausdruck; Vairrynn trug ihn immer, wenn er spürte, dass jemand etwas verheimlichte. Der graue Blick wurde dann scharf und irgendwie hart, heller vielleicht, tiefer. Nicht immer angenehm. Selten angenehm.

Mutter wich diesem Blick jetzt aus. Vairrynn sagte nichts. Ich vergrub die Nase in einem meiner Bücher. Schon jetzt begann ich, eine intensive Abneigung gegen den Obersten Priester des Wy zu entwickeln. Alles brachte er durcheinander!

Es dauerte insgesamt eine ganze Lchnatta – eine ganze viertel Jahreszeit also – ehe der Termin für Asnuors Einführungszeremonie feststand. Heiligtümer im ganzen Reich, so ließ der Sprecher des Wytempels dann schließlich verlauten, würden überbordende Feste für die Kinder des Ersterschaffers ausrichten, damit dieser besondere Tag dem Reich lange in Erinnerung blieb. Diese Aussicht allein versöhnte bereits viele, aber es gab immer noch genug, die dem ersten Auftritt Ktorram Asnuors ziemlich skeptisch entgegenblickten. Entgehen lassen wollten sich das Spektakel jedoch die wenigsten. Vater beschloss kurzerhand, der Aufforderung des alten Neoly zu folgen und an dem großen Tag mit seiner Familie nach Murraptaam zu kommen, der altehrwürdigen Hauptstadt des Reiches, wo die Einführungszeremonie stattfinden würde. Mutter weigerte sich rundheraus, ihren Mann zu begleiten. Vater ließ ihr schließlich ihren Willen, und Mutter und ich blieben an dem Tag, an dem die gesamte singisische Bevölkerung auf den Beinen schien, zu Hause. Ein kleines Mädchen wie ich gehöre ohnehin nicht in eine Stadt wie Murraptaam, hatte Vater als offizielle Begründung erklärt, und damit war ein weiteres Mal verhindert, dass ich einen Fuß aus dem geruhsamen Naharmbra setzte.

Ich war mehr als nur ein wenig neidisch auf meine Brüder, die Vater begleiten durften, während es mir beschieden war, das Geschehen auf der Holographischen Wand zu verfolgen. Dagegen wenigstens hatte Mutter nichts. Wir sahen uns die Übertragung der Zeremonie gemeinsam an, Mutter mit zusammengekniffenem Mund und ich genauso gespannt wie der Rest des Reiches auf Ktorram Asnuor, Oberster Priester des Wy und Erster Streiter der Nchrynnai.

Und gespannt waren sie alle. Die Kamera flog über die engen Straßen der Hauptstadt, in denen sich Singisen aus allen Landstrichen und von allen Planeten des Reiches drängten. Die Stadt, geprägt durch hellbraunen Farkenn-Stein, glimmende Glasbauten und himmelstrebende Architektur, ertrank in einem wahren Farbenmeer. Es schien gegen die hohen Häuser zu branden, von denen bunte Banner wallten. Wie von den Winden der Sturmzeit getragen, wirbelte die Kamera über die Türme der Innenstadt, bis sie schließlich auf den Großen Platz hinabtauchte, das Zentrum Murraptaams, das Zentrum von Singis, das Zentrum unseres Reiches, des glorreichen und immerwährenden Memnáh. Ich glaube, wir alle hielten diesen Ort damals für das Zentrum des Universums.

In der Form eines riesigen Oktogons wird der Große Platz eingerahmt von dem vieltürmigen Palast der Berufenen, in dem das Parlament tagt und der Vorsteher des Reiches residiert, von dem Tempel der Göttlichen Einheit mit seinen unzähligen Nischen und Innenhöfen, dem Museum Glorreicher Geschichte und der gewaltigen Bibliothek der Planeten, die, so sagte man, das gesamte Wissen des Memnáh in ihren Mauern barg (und in ihren Datenbanken, aber das klang so unromantisch). Die Kamera ließ sich viel Zeit, die prunkvollen Fassaden abzufahren; wir Nchrynnai kosten jeden Moment ruhmgedenkender Selbstbespiegelung voll aus. Schließlich schwenkte sie über die wartenden Massen hin zum Gründerväterdenkmal vor dem Palast der Berufenen, neben dem eine hohe Tribüne errichtet worden war. Fanfaren begleiteten den Kameraschwenk, »Perfekte Regie«, kommentierte meine Mutter, und die gigantischen Flügeltüren des Palastes öffneten sich.

Heraus trat eine Prozession von Priestern in hellgrünen, goldgesäumten Roben, in deren Mitte ein Mann schritt, der in unauffälliges Dunkelgrün gekleidet war. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Einen Patriarchen mit wallendem Silberbart und der Imposanz meines Großvaters. Einen hünenhaften Recken wie die Manifestation von Wy selbst. Oder eine unheimlich-düstere Erscheinung, die mir Mutters Entsetzen auf den ersten Blick erklären würde. Der Mann in Dunkelgrün aber war nichts dergleichen. Er war weder groß noch klein, weder kräftig noch schlank, weder alt noch jung. Er war der unbeachtlichste Mann, den ich je gesehen hatte, aschenfarbenes Haar, aschenfarbener Bart, farblose Augen, die ein wenig zu schräg waren, aber nicht genug, um ungewöhnlich zu wirken. In der Tat war sein Gesicht so bar jeglichen interessanten Zuges, dass es fast ausdruckslos wirkte. Er war so unauffällig, dass es schwer war, sich überhaupt auf ihn zu konzentrieren, obwohl die Kamera ihn in Großaufnahme zeigte. Ein Mann, den man einfach vergaß. Schon nach seinem kurzen Weg vom Eingang des Palastes zur Tribüne langweilte mich sein Anblick.

Auf der Tribüne selbst wartete eine kleine Frau in einem erlesenen dunkelblauen Kleid, in dem schwere Silberfäden funkelten.

»Schau, Mutter, da ist Jorngiss!«, rief ich, aber irgendwie war es nicht Jorngiss, unsere alte Tante, die da stand. Es war die Erste Dienerin der Lchnadra, Verkörperung von Ihr, die uns dem Leben übergab. Das schneeweiße Haar wie eine Krone aufgesteckt, sah sie so alt aus wie die Zeit und genauso unfassbar. Neben ihr wirkte Ktorram Asnuor geradezu fehl am Platz.

In den Händen der Alten ruhte ein samtenes Kissen und darauf ein Schwert mit doppelter Klinge, dessen Heft dicht an dicht mit Juwelen besetzt war: Wys Zorn, die mächtige Waffe, mit der der Allerhöchste den Göttlichen Gegner einst zurück in die Schatten getrieben hatte. Die Kamera umschmeichelte das heilige Schwert so lange, dass sie nicht mehr rechtzeitig auf Asnuor schwenken konnte, und so stieß eine schmale, langgliedrige Hand in das Bild und hinunter auf das Schwert. Blasse Finger schlossen sich einer nach dem anderen in einer seltsam eckig-fließenden Bewegung um das prunkstrotzende Heft. Die Kamera entschied sich schnell für die Totale, und so hob Asnuor auf unserer Holographischen Wand unter Fanfarenschall den Zorn Wys in den Himmel Murraptaams, während die Menge auf dem Großen Platz in den rituellen Kniefall sank. Ich fand das Ganze nicht sehr eindrucksvoll; vielleicht lag es an der fehlenden Unmittelbarkeit der Holographischen Wand, aber ich hatte schon weitaus imposantere Zeremonien miterlebt.

Schon wollte ich mich abwenden und eine Frage an meine Mutter richten, da zoomte die Kamera auf das Gesicht des Obersten Priesters. Das Wort erstarb mir im Hals, denn Asnuor lächelte. Es war ein kleines, sattes Lächeln, und es veränderte seine unauffälligen Züge für einen Moment völlig, als würde dahinter ein anderer Mann durch die schrägen Augen blicken. Und dann begann Ktorram Asnuor zu sprechen. »Kinder Wys«, setzte er an, aber was er weiter sagte, nahm ich nicht wahr, so gefangen war ich vom Klang dieser Stimme, eine Stimme, so samtig und weich, dass man darin versinken konnte. Sie rührte etwas an in mir, von dem ich nichts gewusst hatte, umgarnte es, lockend, verheißungsvoll. Mit halb geöffneten Lippen trank ich die Stimme wie Wein, und sie sickerte hinein in mich wie in ausgedörrten Boden, und ich kam wirklich nicht auf die Idee, mich dagegen zu wehren.


Wenn Myn ihre Brüder beneidete, weil es ihnen erlaubt wurde, Naharmbra zu verlassen, so wünschte Vairrynn bald, er hätte zusammen mit seiner kleinen Schwester zu Hause bleiben können. Anfangs war er kaum weniger aufgeregt als Mudmal. Die Hauptstadt hatte ihn schon immer fasziniert. Es war, als hätte sich die Metropole am Murrap mit der Aura der Zeitalter umgeben wie mit einem Kleid, und sie schien Geschichte und Geschichten zu atmen. Ein Teil seiner selbst jedoch war jedes Mal zum Zerreißen angespannt, wenn er durch die engen Straßen ging. Murraptaam erinnerte Vairrynn unbehaglich an einen gigantischen Insektenbau, mit den vielfenstrigen Häuserkonglomeraten und den unzähligen Türmen, dünn wie Schwertklingen oft, als wollten sie den Wind zerschneiden, und mit all den gewundenen Straßen, die manchmal ins Nirgendwo führten, meistens jedoch irgendwann auf den Großen Platz mündeten.

An jenem Tag nun war der Vergleich mit einer Insektenkolonie noch angebrachter als sonst. Aus allen Winkeln des Reiches waren sie gekommen, in Festtagskleidung und Feierlaune und irgendwie lauter als gewöhnlich. Sie summten und surrten, aufgeregt wie buntgeflügelte Kje-Fliegen auf der Suche nach ihrer Königin, und es waren so viele. Um ihn herum wogten mehr Leute als er in seinem ganzen Leben gesehen hatte, Pilger, Schaulustige, Straßenhändler und nicht wenige jener Frauen, deren Beruf zu ahnen er längst alt genug war. Es wurden immer mehr, je näher sie dem Großen Platz kamen, mehr und irgendwie … durchdringender. Ich selbst spürte ihre Aufregung bis in meine alten Gebeine. Etwas lag in der Luft wie Unausgegorenes, und ich ließ meine Knochenfinger klacken. Ich wusste nicht, was kommen würde, denn auch ich sehe nicht alles und nicht immer, aber ich wusste, auf wen sie warteten. Auf mich wiederum wartete viel Arbeit, wenn nicht heute, dann schon bald. Behutsam legte ich meinem Jungen die Hand auf die Schulter. Wie immer merkte er es nicht, nicht wirklich jedenfalls, doch er rückte näher an seinen Vater heran, sehr bedacht, ihn nicht zu verlieren. Er schämte sich deswegen ein wenig, aber das Gedröhn der Menge pochte einfach zu sehr in seinen Ohren. Schon in Naharmbra mit seinen weiten Straßen und hellen Hallen fühlte sich Vairrynn zuweilen und urplötzlich wie eingesperrt, und dann musste er raus auf die Steppe oder hinunter ans Meer, vorzugsweise auf dem Rücken eines Tygdul. Es gab einen Grund, warum ich ihn meinen Himmelsreiter nannte, aber natürlich wusste er nichts davon, weder von dem Namen noch von dem Grund.

Mudmal teilte das Unwohlsein seines großen Bruders nicht. Aufgekratzt wie ein kleiner Wchlach und genauso schwierig im Zaum zu halten, hüpfte er mal hierhin, mal dorthin, tauchte in der Menge unter, nur um ein paar Augenblicke später wieder mit glänzenden Augen zurückgespült zu werden. Er gab Eftnek Neoly genug zu tun, um den Holzsteinschnitzer die Beklemmung seines Ältesten übersehen zu lassen.

»Du musst mich daran erinnern, für Mud eine Leine zu besorgen«, sagte Eftnek schließlich entnervt zu Vairrynn, was diesem ein kleines Lächeln entlockte. Sein Vater benahm sich Mudmal gegenüber wie ein aufgeschrecktes Muttervieh. Dabei war der Kleine wie eines jener terranischen Katzentiere: Er landete immer auf den Füßen. Vairrynn wusste das seit einem Tag vor etwa zwei Jahren, an dem Mud in einem brüderlichen Streit, der sich in eine handfeste Prügelei entwickelt hatte, kopfüber die Treppe in der Eingangshalle hinuntergestürzt war. Einen furchtbaren Moment lang hatte Vairrynn damals geglaubt, sein kleiner Bruder wäre tot. Aber Mudmal war einfach wieder aufgesprungen, hatte sich ein paar Mal geschüttelt und keiner Sterbensseele von der ganzen Sache erzählt. Vairrynn jedoch hatte der Anblick von Muds regungslosem Körper am Fuße der Treppe bis ins Mark erschüttert, und er machte seitdem seinem Vater in puncto Übervorsichtigkeit mächtig Konkurrenz, wenn es um den Kleinen ging. An diesem Tag allerdings war er nicht in der Verfassung, seines Bruders Hüter zu spielen. Irgendwie wusste er, dass er das bunte Treiben genauso großäugig in sich hätte aufsaugen sollen wie Mud, aber das war gar nicht nötig; die brodelnde Menge lärmte ihren Weg von selbst in seinen Kopf und machte ihn schwindlig. Er war erleichtert, als sie endlich auf den Großen Platz geschoben wurden; wenigstens hatte er jetzt offenen Raum um sich herum, auch wenn der Platz vollgepackt war mit Nchrynnai, und er konnte den Himmel sehen, wo sich gigantische Wolkenberge türmten, die der Wind gen Westen jagte.

Für die Mitglieder der Großen Alten und der Runde der Berufenen waren Plätze direkt vor der Tribüne reserviert, auf der der Oberste Priester sich dem Volk zeigen würde, und für diesmal war Vairrynn froh, zu einer Elite zu gehören, deren Herrschaft zwar faktisch seit mehr als zwei Zeitaltern gebrochen war, der das singisische Traditionsbewusstsein jedoch einen hervorgehobenen Status sicherte, vermutlich bis ans Ende der Zeit. Selbst auf seinem Platz zwischen seinem Vater und dem alten Neoly glaubte er immer noch, die Masse in seinem Kopf zu spüren wie ein tiefes, rhythmisches Singen aus vielen Kehlen. Die Menge hatte ihren eigenen Geist, und der wartete, wartete auf den Fanfarenstoß und den Mann, der aus dem Palast der Berufenen trat, umgeben von grüngekleideten Wypriestern wie von Drohnen, der dann auf die Tribüne schritt und neben der Ersten Dienerin zum Stehen kam.

Vairrynn konnte die Enttäuschung der Menge körperlich spüren, als Asnuor das Schwert hob. Es gibt Männer, die wirken, als wären sie dazu geboren, ein Schwert zu halten; ich weiß es, ich habe derer zuhauf gesehen und zuhauf geholt. Ktorram Asnuor jedoch war keiner von ihnen.

Einen Moment lang war Vairrynn einfach erleichtert. Doch dann schaute er genauer hin, wie er es immer tat, und da war … nichts. Für gewöhnlich, wenn Vairrynn die Leute ansah, dann blickte er in sie hinein. Die Seelen breiteten sich vor ihm aus wie weite Landschaften, die er nach Belieben betreten konnte. Er tat das nicht absichtlich. Es passierte einfach. So manches innere Leben drängte sich ihm geradezu auf, und er konnte dann nicht anders, als bis auf den Grund zu gehen, ob er wollte oder nicht. Er kannte es gar nicht anders; noch nie hatte er jemanden angeblickt, ohne etwas von dem zu sehen, was darunter lag, Schicht um Schicht, Abgrund um Abgrund, Licht um Licht. Asnuor jedoch stand da vor ihm auf seiner Tribüne, und Vairrynn sah nichts. Gar nichts. Die Leere schlug ihn so in Bann, dass er den rituellen Kniefall völlig vergaß, was ihm einen finsteren Blick des alten Neoly eintrug. Vairrynn merkte es nicht, denn in diesem Moment begann der Oberste Priester zu sprechen, und aus dem Nichts, das Asnuor war, entquoll die Stimme, dunkel und sämig, und sie sagte: »Kinder Wys, seid willkommen in der altehrwürdigen Stadt, die unsere Vorväter geschaffen haben zum Ruhme des Allerhöchsten und ihrer Taten zum Gedenken. Seht euch um, ihr Nchrynnai! Ist sie nicht glorreich?« Und die Stimme sprach von Glanz und Herrlichkeit, von Ehre und Unsterblichkeit, und der Geist der Menge horchte auf. Sind wir groß?, fragte der Geist, und Ihr seid groß, beteuerte ihm die Stimme. Und dann sprach sie vom Grauen des Nichtseins und den Tücken des Göttlichen Gegners. Da klagte der Geist, Wir sind allein in der Dunkelheit, und die Stimme sagte: »Ich werde euch Feuer sein in der Finsternis und meine Flammen werden die Schatten des Widersachers ausbrennen.« Und die Stimme hatte sich über die Menge gelegt wie ein Zelt, und als das letzte Wort verklungen war, war die Kehle meines Himmelsreiters so eng, dass er meinte zu ersticken, aber die Menge sank in einen weiteren Kniefall, der nichts Zeremonielles mehr an sich hatte. Nur ein paar wenige blieben stehen, unter ihnen der alte Neoly, was seine drei Söhne zu spät bemerkten und so recht unbehaglich in einer halb vollendeten Verbeugung verharrten. Vairrynn aber stand da, den Blick unverwandt auf Ktorram Asnuor gerichtet. Ein verzehrendes Feuer loderte, wo das Nichts gewesen war, als der Oberste Priester das Schwert zum zweiten Mal vor einer knienden Menge in den wolkenbetürmten Himmel reckte. Vairrynn zitterte. Erkennen drängte sich an die Grenze der Bewusstheit, ein Schimmer nur, doch jede Faser seines Ichs sträubte sich dagegen. Sieh nicht hin, Kind, sagte ich, und endlich senkte Vairrynn seinen Blick.

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9783752931006
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